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Gazakrieg
Das blutige Ende einer Waffenruhe

Vor einem Jahr herrschte im Gazastreifen Krieg, der am 1. August eigentlich durch eine 72-stündige Waffenruhe unterbrochen werden sollte. Doch nachdem ein israelischer Soldat palästinensischen Kräften in die Hände gefallen war, ordnete Israel die sogenannte Hannibal-Direktive an - die ein Blutbad nach sich zog.

Von Bettina Marx | 01.08.2015
    Israelische Haubitze feuert am 1. August 2014 Granaten Richtung Gazastreifen
    Israelische Haubitze feuert am 1. August 2014 Granaten Richtung Gazastreifen (imago/stock&people/Xinhua)
    1. August 2014 im Gazastreifen. Der Krieg tobt seit drei Wochen. Doch an diesem Tag soll eine humanitäre Feuerpause in Kraft treten. Sie soll den Zivilisten die Gelegenheit geben, sich mit dem Lebensnotwendigsten einzudecken, berichtet an diesem Morgen der arabische Fernsehsender Al Jazeera:
    "Es ist keine langfristige Lösung, aber alle Seiten im Gazakonflikt haben eine 72-stündige Waffenruhe verabredet. Sie begann um 8 Uhr Ortszeit, vor zwei Stunden..."
    Doch zu dieser Zeit spielt sich im südlichen Gazastreifen bereits ein Drama ab, das dazu führen soll, dass die Waffenruhe in einem Blutbad endet. Ein Trupp israelischer Soldaten, der offenbar nach Tunneln gesucht hat, wird von einer palästinensischen Einheit angegriffen. Bei dem Zwischenfall kommen drei Soldaten ums Leben, unter ihnen der 23-jährige Hadar Goldin. Zu Beginn heißt es, er sei den palästinensischen Kämpfern verletzt, aber lebend in die Hände gefallen. Was dann geschieht, geht aus den Funksprüchen der Soldaten hervor:
    "Einer der Verletzten ist nicht mit uns in Verbindung. Er ist wahrscheinlich in der Nähe des Tunneleingangs. Wir haben Hannibal ausgelöst. Hier ist der Kommandeur. Wurde Hannibal ausgerufen? Ja, Hannibal wurde erklärt. Dann los, fangt damit an, los, so schnell wie möglich."
    Hannibal - der Begriff steht für eine Direktive an die Soldaten, alles zu tun, um zu verhindern, dass Kameraden in die Hände des Feindes fallen. Notfalls muss dabei auch das Leben des betroffenen Soldaten riskiert werden. Rafah wird mit massivem Feuer belegt. Die Waffenruhe ist gescheitert, berichtet Al Jazeera um die Mittagszeit.
    "Die humanitäre Waffenruhe in Gaza scheint zu scheitern. Wir haben bestätigte Berichte über Kämpfe und Tod im Gazastreifen."
    Stundenlang bombardiert die Armee die Stadt im südlichen Gazastreifen, vom Boden und aus der Luft.
    Amnesty wirft Israel Kriegsverbrechen vor
    Sollte Hadar Goldin tatsächlich lebend in die Hand palästinensischen Kämpfer gefallen sein - das massive Bombardement überlebte er mit Sicherheit nicht. Auf palästinensischer Seite starben an diesem Tag mindestens 135 Zivilisten. Zu diesem Ergebnis ist die Menschenrechtsorganisation Amnesty International gekommen. Sie hat zum Jahrestag des sogenannten "Schwarzen Freitag" einen Bericht vorgelegt, in dem sie Israel schwere Kriegsverbrechen vorwirft. Philip Luther, Direktor der Mittelost- und Afrikaprogramme von Amnesty:
    "Es war die tödlichste Attacke durch die israelische Armee während des Konflikts. Die Armee hat massive Feuerkraft, massive Bombardierungen auf die Stadt Rafah entfaltet. Das führte zur höchsten Anzahl ziviler Opfer an einem einzigen Tag in diesem Krieg."
    Amnesty hat sich für seinen Bericht auf die Arbeit von Eyal Weitzmann und seinem Team gestützt. Der israelische Architekt leitet das Zentrum für forensische Architektur an der Universität von London.
    Ein Jahr lang haben er und seine Mitarbeiter alles verfügbare Material über den "Schwarzen Freitag" gesammelt. Fotos, Videos, Satellitenbilder, Augenzeugenberichte, Pressemitteilungen des Militärs und natürlich die sozialen Medien.
    "Wir scannen das alles. Wir sammeln das gesamte Material und ordnen es. Traditionell schaut man sich bei der Analyse von Geschehnissen in einem Menschenrechtskontext nur Satellitenbilder an. Vorher und nachher. Heute aber werden Ereignisse aus vielen Perspektiven aufgenommen, mit Smartphones und Kameras."
    Unendlich viel Leid
    Auf der Grundlage des reichhaltigen Materials haben die Forscher ein dreidimensionales Modell von Rafah gebaut, mit dessen Hilfe sie genau rekonstruieren konnten, was an jenem Schwarzen Freitag geschah. Kein Modell aber, und sei es noch so genau, kann das Leid derer erfassen, die damals dabei waren. Wie der 26- jährige Wael al-Namlah und seine Familie:
    "Wir waren eine elfköpfige Familie. Neun von uns sind Opfer geworden. Am Freitag, den 1. August verließen wir unser Haus. Wir flohen, denn die Kinder und die Frauen hatten Angst. Während wir liefen, wurden wir von zwei Raketen getroffen. Sie kamen aus dem Nichts. Wir wurden alle verletzt, drei von uns wurden getötet, drei erlitten Brandwunden und drei verloren Körperteile, darunter ein dreijähriges Kind."
    Das Kind war Waels Sohn. Auch er selbst verlor ein Bein, seine Frau sogar beide Beine. Die Hannibal-Direktive hat am Schwarzen Freitag von Rafah unendlich viel Leid über den Gazastreifen gebracht.