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Gedanke des gemeinsamen wirtschaftlichen Prosperierens

Patriotismus ist "in", nicht erst seit der Fußball-Weltmeisterschaft. Sogar die Wirtschaft berücksichtigt inzwischen den Faktor "Patriotismus" – oder genauer gesagt: Politik, Medien und Verbände fordern Unternehmer auf, sich "patriotischer" zu verhalten. Was aber haben Arbeitsplätze und Vaterlandsliebe miteinander zu tun? Eine ganze Menge, meint der Wirtschaftsjournalist Henrik Müller in seinem Buch "Wirtschaftsfaktor Patriotismus. Vaterlandsliebe in Zeiten der Globalisierung". Dorothea Heintze hat das Buch gelesen und den Autor gesprochen.

31.07.2006
    Zum Anfang eine Parabel. Ein Dorf voller Bauern, eine Gemeinschaftsweide für alle Kühe, die Allmende. Auf dieser Allmende hat jeder Bauer mit seinen Kühen die gleichen Rechte, aber auch die gleichen Pflichten. Und diese heißen: Nicht mehr Kühe kaufen, als die Gemeinschaftsweide verkraften kann, sich um kranke Tiere kümmern, die Weide pflegen. Die Folge: Jeder Bauer hat sein Auskommen, die Gemeinde prosperiert. Soweit die Theorie. In der Praxis funktioniert die Allmende-Idee nicht. Denn in der Praxis denkt jeder an die Konkurrenz: Was geschieht, wenn ich mich beschränke, aber die anderen nicht? Dann schade ich mir selbst. Und so kaufen die Bauern mehr Kühe, als die Weide verkraften kann, am Ende verschwindet das Gras, alle verarmen.

    In seinem Buch "Wirtschaftsfaktor Patriotismus" zitiert Henrik Müller die Parabel von der Allmende als einen zentralen Gedanken. Das Wirtschaftswachstum in Deutschland stagniert, weil jeder nur an sich selbst denkt. Warum ist das so? Für Henrik Müller steht fest: Es fehlt den Deutschen an einem ideellen Überbau, warum sie die Gemeinschaft stärken sollen. Es fehlt ihnen an Patriotismus. Wie der Autor ausführlich in der ganzen ersten Hälfte des Buches analysiert, war und ist der Kitt, der dieses Land zusammenhält, weder die einst gern zitierte "gemeinsame Scholle", noch ein Glaube, geschweige denn ein gemeinsames Herrscherhaus. Deutschland sei vielmehr eine "Wirtschaftsnation". Der Autor geht weit in die Geschichte zurück, um seine Thesen zu belegen.

    Vom heterogenen Römischen Reich Deutscher Nation über die Befreiungskriege bis hin zu Bismarcks Preußen steht der Gedanke des gemeinsamen wirtschaftlichen Prosperierens über allem anderen. Kaiserreich wie Drittes Reich, so meint er, scheitern nicht nur wegen ihrer aggressiven Kriegspolitik, sondern auch, weil sie es nicht geschafft hätten, dem Volk durchgängig zu Wachstum und Wohlstand zu verhelfen. Mit der D-Mark habe sich Deutschland zur Bundesrepublik gewandelt - und hier galt nur ein Primat: Wohlstand für alle. Erst die wirtschaftliche Rezession und vor allem die Wiedervereinigung führten dann zum Umkippen der Wachstumskurve.

    Henrik Müller berichtet von ausländischen Kollegen, die ihn in Deutschland besuchen und es einfach nicht fassen können, warum sich dieses Land so schlecht fühlt. Wo in der Welt, fragen sie, gibt es noch soviel Wohlstand für alle, wo sonst noch funktionieren Bürokratie und Alltag derart reibungslos? Doch all das wollen die Deutschen nicht realisieren. Sie jammern und klagen und – wandern aus. Müller legt Statistiken vor, die darlegen, dass seit Gründung der Bundesrepublik noch nie so viele Menschen dieses Land verlassen haben, wie im vergangenen Jahr. Ausführlich analysiert Müller die Gründe für diese Entwicklung und kommt in seinem Buch immer wieder zu demselben Schluss: Es liegt an der fehlenden Identifikation mit dem eigenen Land.

    Die Lösung, die er vorschlägt, ist radikal. Sie heißt: Rückbesinnung auf die Regionen. Deutsche sind nicht deutsch – sie sind Bayern, Sachsen, Hamburger und Rheinländer. Hier in den Regionen gibt es die nötige Vaterlandsliebe und damit die so dringend erforderliche übergeordnete Idee für das Gemeinwesen. Henrik Müller:

    "Die Grundthese ist: Jede Gesellschaft braucht den Staat, der zu ihr passt, und wir haben ein Staatswesen, was ein hohes Maß an Solidarität mit Leuten, die sehr weit weg sind und die einem relativ fremd sind, erfordert. Und das überfordert die Leute. Wenn wir kleinere Regionen haben, kleinere Einheiten, können wir uns vielleicht in einigen Regionen sogar mehr Staat leisten als heute, ohne dass die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit schrumpft."

    "Zerschlagt die BRD" lautet eine Kapitelüberschrift, allerdings findet man sie erst ganz am Ende. Hier hätte man gern mehr gelesen. Wie genau soll das funktionieren mit der Regionalisierung? Ein Blick auf die aktuelle Debatte zur Föderalismusreform reicht, um zu wissen, welche Stolpersteine wo lauern. Die Grundidee, dass kleinere Einheiten sich im weltweiten Wettbewerb der Globalisierung besser behaupten als die großen, ist ja nicht neu und wird auch in Brüssel immer wieder diskutiert. Aber: Wie überzeugt man einen Versicherungskonzern wie die "Allianz" davon, dass die Arbeitsplätze hier im Land bleiben müssen? Reicht da die bloße Forderung nach mehr Patriotismus aus? Dass dies zu einfach wäre, weiß auch Henrik Müller, nimmt die Unternehmen aber in die Pflicht:

    "Was die Allianz angeht - natürlich kann man nicht an jedem Arbeitsplatz festhalten, aber man kann von großen Unternehmen schon erwarten, dass sie sich mehr als bisher einbringen in die politische Diskussion und mehr sagen, was sie selber brauchen und dass sie selber eine gewisse Loyalität zu Deutschland, auch nach außen tragen."

    Diesem Appell kann wohl jeder leichten Herzens zustimmen. Fraglich indes bleibt, ob die Worte "Patriotismus" und "Vaterlandsliebe", die im Buch immer wieder auftauchen, tatsächlich die passenden Begriffe dafür sind, was Müller eigentlich einfordert: Eine größere individuelle und kollektive Verantwortung für das Gemeinwesen. Die Lektüre regt zur Diskussion an, sie ist amüsant – aber am Ende bleiben zu viele Fragen offen.

    Die Parabel von den Bauern und ihrer Allmende liefert eben nur den Denkanstoß, ein realistischer Lösungsvorschlag dagegen fehlt. Vielleicht sollte sich der Autor gleich an sein nächstes Buch setzen und darin ausführlich darlegen, wie er sich die "Zerschlagung der BRD" vorstellt. Ein paar originelle Ideen dazu scheint er ja zu haben.

    Henrik Müller: "Wirtschaftsfaktor Patriotismus. Vaterlandsliebe in Zeiten der Globalisierung". Das Buch ist erschienen im Eichborn Verlag, Frankfurt/Main, hat 224 Seiten und kostet 19,90 Euro.