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Gedanken über das Denken

Landläufig gilt die Vorstellung, 50 Prozent unserer Intelligenz seien genetisch, 50 Prozent durch Umwelteinflüsse bedingt. Das sei falsch und wissenschaftlich überholt, erklärt Professor Onur Güntürkün, Organisator der Tagung "Geist - Genom - Gehirn - Gesellschaft" an der Leopoldina in Halle

Onur Güntürkün im Gespräch mit Burkhard Müller-Ullrich |
    Burkhard Müller-Ullrich: Geist, Gehirn, Genom, Gesellschaft – wie hängt das miteinander zusammen? Die Frage steht nicht nur im Zentrum jeden künstlerischen Schaffens, sondern sie wurde gerade in Halle vor mehr als 500 Wissenschaftlern erörtert. Die Leopoldina, unsere
    Nationale Akademie der Wissenschaften, hielt nämlich gerade ihre Jahresversammlung ab. Es ging drei Tage lang um die Konstitution des Ichs.

    Professor Onur Güntürkün, Sie waren der Organisator der Tagung: Für Naturwissenschaftler ist der Mensch ja eine Chemikaliensammlung auf zwei Beinen. Während sich die Philosophen schon lange und immer noch mit dem Zusammenhang von Leib und Seele herumschlagen, haben die Hirnforscher das Denken längst verstofflicht. Das heißt, wir lernen, dass die Gedanken nicht mehr frei sind, sondern eine Funktion von Säften und Impulsen. Ist das Ihre Botschaft?

    Onur Güntürkün: Nein, das ist genau das Gegenteil der Botschaft. Ich bin Psychologe, ich bin Verhaltenswissenschaftler und ich bin Hirnforscher. Sie sind für mich jetzt ein soziales Phänomen, ein Kommunikationspartner, mit dem ich Gedanken austausche. Sie sind aber gleichzeitig in meinem Gehirn ein biologisches Phänomen. Ihre Stimme kommt durch den Hörer, wird codiert in meinem Gehirn und auf der Gehirnebene muss ich Sie selbstverständlich neurobiologisch verstehen. Das heißt, ich muss die sozialwissenschaftliche Perspektive unseres Gesprächs, die psychologische und die biologische Perspektive unseres Gesprächs exakt genau so denken, sonst kann ich unser Gespräch nicht verstehen.

    Müller-Ullrich: Ich nehme Sie natürlich auch multiperspektivisch wahr. Vor allem merke ich, dass Sie sehr beruhigend sprechen. Und da ich eben den Angstpart gespielt habe, nehme ich an, dass das auch Ihre politische Absicht ist, denn die Gesellschaft ist ja über diese Fortschritte, über die wir gerade reden, beunruhigt.

    Güntürkün: Die Gesellschaft ist beunruhigt, dabei haben wir beruhigende Nachrichten. Aber wir haben auch wichtige Nachrichten. Ich möchte Ihnen ein kleines Beispiel geben: In dem Moment, in dem ich sage, Gene sind Schicksal, bedeutet das, dass wenn ich sage, es gibt bestimmte Dinge, zum Beispiel Intelligenz, die korrelieren mit Genen, dann kann ich mich als Politiker zurücklehnen und sagen, da kann man nichts machen. Aber in dem Moment, in dem ich sage, die Gene beeinflussen zwar unsere Intelligenz, aber dieser Einfluss ist fast null in den Familien, die auf der sozioökonomischen Seite am Tiefpunkt unserer Gesellschaft stehen, sie ist aber sehr hoch bei den Familien, denen es finanziell, kulturell sehr gut geht – das heißt, die gleichen Gene haben kaum Einfluss bei den sozioökonomisch schwierigen Strukturen -, in dem Moment weiß ich, das was dort Einfluss hat auf diese Familien, ist das, was Gesellschaft leisten kann, das, was Politik leisten kann, das ist eine vollkommen andere Nachricht, in dem Moment ist das ein Weckruf an die gesellschaftlichen Institutionen - zu sagen, investiert in die Menschen, bei denen das Entwicklungspotenzial sehr groß ist. Weil obwohl ihre Gene natürlich genauso funktionieren wie Ihre und meine Gene, sind die Gene bei diesen Menschen von geringerer Bedeutung für ihre geistige Entwicklung. Von größerer Bedeutung sind die Strukturen, die ich schaffe. Das finde ich eine fundamental wichtige Nachricht.

    Müller-Ullrich: Wie gesichert ist denn diese Nachricht, die Sie da vortragen? Bei wissenschaftlichen Erkenntnissen haben wir es ja inzwischen gelernt, dass die morgen falsch sein können.

    Güntürkün: Ich glaube, diese letzten Punkte, über die wir gesprochen haben, die sind internationaler Konsens in der verhaltensgenetischen Forschung. Das ist ein ganz anderer Konsens als das, was Sie in den Zeitungen teilweise lesen können, in denen Sie ja diese absurden Nachrichten lesen können, Intelligenz ist zu 50 Prozent genetisch, 50 Prozent umweltmäßig codiert. Und das ist eben genau die Nachricht, die falsch ist. Und was ganz gesichert ist, ist, dass diese Zahlen sich verändern, je nachdem in welchen sozioökonomischen Hintergrund Sie gehen.

    Müller-Ullrich: Die Leopoldina ist ja eine Institution von großer Tradition. Akademien dienten und dienen der Beratung, früher des Herrschers, heute der Regierenden. Haben Sie denn das Gefühl, dass Sie wirklich stark wahrgenommen werden, denn von der Leopoldina hört man in Deutschland doch nicht allzu viel?

    Güntürkün: Dem würde ich widersprechen. Zum Beispiel das Statement der Leopoldina zur Präimplantationsdiagnostik, das ist sehr weit gehört worden und das hat auch Einfluss genommen auf die Gesetzgebung. Jetzt zum Beispiel das Statement zur Energiewende, das ist ein ganz wichtiges Statement. Und letztendlich braucht man Institutionen, die unabhängig sind vom politischen Tagesgeschäft und letztendlich Jahre, Jahrzehnte an Erfahrung und Wissen aufkumulieren und dann mit dem Expertenwissen Ratschläge geben.

    Müller-Ullrich: Der Bundespräsident ist bei Ihnen aufgetreten, hat unter anderem mehr Geld für die Wissenschaft gefordert. Nun kann ein Bundespräsident viel fordern, er hat das gar nicht zu entscheiden, das macht die Regierung. Nützt es Ihnen, dass wir, was ja im politischen Betrieb selten ist, eine Regierungschefin haben, die selbst ausgebildete Naturwissenschaftlerin ist?

    Güntürkün: Zumindest schadet es uns nicht. Also ich glaube schon, dass das nützt. Frau Merkel ist sicherlich eine Frau, die sozusagen aus der universitären Landschaft heraus kommt. Sie ist natürlich in diesen täglichen Zwängen. Das Problem in Deutschland ist, dass natürlich die Universitäten dort, wo die Ausbildung und wo ein großer Teil der Forschung gemacht wird, chronisch unterfinanziert sind. Das ist ein Problem und das ist jetzt nicht Klappern eines Wissenschaftlers, sondern das sind Zahlen und Fakten, die kann jeder nachlesen. An der Stelle haben wir ein Problem. Das heißt, wir haben eine sehr heterogene Landschaft. Wir haben ein von allen Wissenschaftlern im Ausland beneidetes Wissenschafts-Förderungssystem mit einer chronischen Unterfinanzierung der Universitäten.

    Müller-Ullrich: Der Biopsychologe Onur Güntürkün war der Organisator der diesjährigen Versammlung der Leopoldina, der nationalen Akademie der Wissenschaften. Danke für die Auskünfte!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.