Remme: Wo waren Sie an diesem 6. Juni 1944?
Von Dohnanyi: Ich war an diesem 6. Juni 1944 in Berlin, das heißt in Sagrow, also zwischen Berlin und Potsdam, und ich hing am Radio und war am BBC. Mein Vater war verhaftet seit über einem Jahr. Ich wurde 16 in den nächsten Tagen. Es war sozusagen eine Zeit, in der wir, die wir von den Nazis verfolgt waren, die Familie, mein Vater und meine Mutter auf jeden Fall, diese Landung mit Sehnsucht erwartet hatten.
Remme: Sie haben es gerade erwähnt. Es war ein Datum, das Ihre Familie unmittelbar berührte, denn Ihre Eltern waren zentrale Figuren des Widerstands. Inwiefern hat diese Landung den Widerstand gegen Hitler beeinflusst?
Von Dohnanyi: Ich glaube, sie hat den Widerstand nicht wirklich beeinflusst. Sie hat allerdings noch einen letzten Versuch gemacht, den Alliierten klar zu machen, möglicherweise die weitere Zerstörung Deutschlands aufzuhalten durch eine Kapitulation im Westen. Das war aber natürlich mit Hitler nicht zu machen. Dazu hätte man Hitler beseitigen müssen. Sie wissen sicherlich, dass damals auch der General Feldmarschall Rommel, der ja im Westen zuständig war, sogar versucht hat, Hitler selber dazu zu bewegen, im Westen aufzugeben, um im Osten die Front zu halten, was natürlich mit den Alliierten gar nicht möglich war, weil sie ja gemeinsam die uneingeschränkte Kapitulation, die bedingungslose Kapitulation von Deutschland erwarteten.
Remme: Es dauerte dann ja noch lange Monate bis der Krieg zu Ende war.
Von Dohnanyi: Richtig und zwar die zerstörerischsten vielleicht überhaupt. Es hat sicherlich noch weit über eine Million jüdischer Opfer im Osten gekostet und es hat natürlich viele Tote auf Seiten der Amerikaner, auf Seiten der Briten, auf Seiten aber auch der Deutschen gekostet.
Remme: Und war dann der 6. Juni insofern nur eine weitere Station der Alliierten auf dem Weg nach Berlin, oder war er mehr?
Von Dohnanyi: Er war natürlich mehr, weil er war der entscheidende und ja sehr wagnisreiche Schritt, denn eine solche Landung vorzunehmen, war ja nicht ohne Risiko. Die Nazis hatten sich ja darauf eingerichtet und verschanzt, allerdings mehr weiter nördlich, und hatten die Landung an einer anderen Stelle erwartet. Es hatte ja eine Versuchslandung zu einem früheren Zeitpunkt gegeben, die abgeschlagen worden war. Also es war schon immer noch voller Risiken und nach der Landung in Italien im Jahr 1943 der entscheidende Schritt im Westen, um den Krieg gegen Deutschland wirklich zu gewinnen.
Remme: Herr von Dohnanyi, haben Sie Verständnis für diejenigen, die an diesem Tag neben der Befreiung auch die Schmach der Niederlage empfunden haben?
Von Dohnanyi: Schmach würde ich in dem Zusammenhang wirklich nicht sagen. Das war keine Schmach zu verlieren. Es war natürlich für alle, die auf der Seite der Deutschen gekämpft hatten - und viele waren ja einfach eingezogen -, eine schlimme Sache. Sie wissen, wie viele Leute nur deswegen hingerichtet wurden, weil sie den Kriegsdienst verweigert hatten. Also für alle die, die gar nicht kämpfen wollten, aber kämpfen mussten, und für die Familien war es natürlich eine ganz besonders schreckliche Sache, bis in die letzten Monate hinein ihre Söhne, Väter, Brüder und so weiter zu verlieren oder bei den Bombenangriffen die ganze Familie, ohne selber eigentlich überhaupt auf der Seite der Nazis kämpfend, weder im Kopf noch mit der Hand, zu stehen.
Remme: Aber bei all denen muss ja der Befreiungsgedanke dominiert haben?
Von Dohnanyi: Aber ganz klar! Das war bei uns ganz klar. Wir haben mit Herzklopfen das erwartet und gehofft, dass die Amerikaner noch schneller vorstoßen, als es ihnen dann tatsächlich gelungen ist. Es war ein verlorener Krieg, spätestens seitdem Hitler 1941 die Sowjetunion angegriffen hatte und dann im Dezember 1941 den USA den Krieg erklärt hatte. Es war ein verlorener Krieg und es war für alle Deutsche letztlich ein Glück, wenn der Krieg so schnell wie möglich zu Ende gebracht würde. Man darf übrigens einen ganz wichtigen Punkt nicht vergessen. Im August 1945 fielen dann die Bomben auf Hiroshima und Nagasaki. Die Atombombe wurde erst faktisch fertig während der Potsdamer Konferenz. Es ist nicht auszuschließen, dass diese Bomben auch auf Deutschland gefallen wären, wenn Deutschland damals noch im Krieg gewesen wäre. Also insgesamt konnte es gar nicht schnell genug gehen und jeder Vernünftige und jeder Deutsche mit Herz musste damals das Gefühl haben, lasst den Krieg so schnell wie möglich zu Ende gehen.
Remme: Aber wo Sie gerade sagen "alle Deutschen". Ohne die Landung der Alliierten zu diesem Zeitpunkt wäre die politische Entwicklung Westdeutschlands anders verlaufen. Glauben Sie der 6. Juni wird deshalb in Ost- und Westdeutschland unterschiedlich erinnert?
Von Dohnanyi: Das glaube ich nicht. Ich glaube der Unterschied liegt eher darin, dass natürlich die Sowjetpropaganda über viele Jahrzehnte in Ostdeutschland versucht hat zu unterstellen, dass die Sowjetunion der wirkliche Sieger des Krieges gewesen sei und auch den Krieg aus eigener Kraft gewonnen hätte, was natürlich nicht richtig ist. Wenn die Amerikaner die Sowjetunion nicht seit 1941 unterstützt hätten, wenn die Amerikaner nicht im Westen eingegriffen hätten, wenn Hitler sozusagen nur eine Front im Osten gehabt hätte, dann hätte der Krieg mindestens sehr viel länger dauern können. Vielleicht hätten die Deutschen ihn sogar im Osten gewonnen.
Remme: Sie haben Anfang der Fünfzigerjahre an mehreren Universitäten der USA studiert, haben bei Ford in Detroit erste Managementerfahrungen gesammelt. Hat der Einsatz der USA am Kriegsende Ihr Amerika-Bild die Jahrzehnte bis heute dominiert?
Von Dohnanyi: Das glaube ich ganz gewiss. Ich habe die Amerikaner ganz selbstverständlich als die Befreier empfunden. Ich fand diese Landung eine mutige und entscheidende Aktion auf Seiten der Westmächte und ich kam, als ich 1950 nach Amerika ging, innerlich vom Herzen her als Freund nach Amerika und nicht etwa als besiegter Deutscher.
Remme: George Bush hat vor einigen Tagen gesagt, wir werden stets jene Generation ehren, deren Opfer es möglich machte, dass der Nationalsozialismus besiegt wurde, und er sagte dann weiter: "Heute hat die Freiheit neue Feinde und eine neue Generation von Amerikanern ist angetreten, um sie zu besiegen". Sehen Sie diese historische Linie von damals bis heute zum Irak?
Von Dohnanyi: Ja und nein. Ich sehe sie insofern, als ich schon glaube, dass Amerika bei allen Fehlern, die auch die USA haben, schon ein Hort der Freiheit, also der Bewegung des Menschen in Richtung auf Selbstbestimmung und Selbstbehauptung ist, auch in der Welt. Ich glaube aber zugleich, dass der Irak-Krieg ein kardinaler Fehler war und keinen Fortschritt gebracht hat in der Bekämpfung des Terrorismus, sondern im Gegenteil möglicherweise eine tiefe Kluft zwischen den islamischen Ländern und der abendländisch-christlichen westlichen Welt zu Stande gebracht hat. Ich halte diesen Einschnitt des Irak-Krieges für eine Entscheidung mit langfristiger Konsequenz und einen großen Fehler des Westens beziehungsweise der USA beziehungsweise der Administration Bush.
Remme: Und wenn diese Landung der Alliierten unter Führung der Amerikaner, wie Gerhard Schröder gesagt hat, ein Symbol geworden ist für den Kampf für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte, wie sehr sind die USA dann heute durch diese Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit im Irak diskreditiert?
Von Dohnanyi: Die USA sind nicht die Administration Bush. Die Administration Bush hat eine ganz besondere Zusammensetzung, eine Zusammensetzung von Personen, die glauben, dass sie genau wissen, wie diese Welt regiert, und zwar von Amerika regiert werden muss, eine missionarische und viel weniger der Vernunft, der historischen Einsicht folgende Administration. Dort sind wirklich zum Teil Kräfte am Werk, die meiner Meinung nach zum Schaden Amerikas sind. Die Regierung Bush ist aber nicht die USA.
Remme: Herr von Dohnanyi, ich sagte es in der Anmoderation. Der Bundeskanzler ist jetzt 60 Jahre später zum ersten Mal bei den Gedenkfeiern in der Normandie dabei. War das ein Zeichen, das überfällig war, oder kommt es zum rechten Zeitpunkt?
Von Dohnanyi: Ich glaube es war ein Zeichen, was eigentlich überfällig war, aber was überfällig ist, kommt nie zu spät. Insofern finde ich es wirklich sehr gut, dass es jetzt so ist. Aber im Grunde genommen hätte man schon vor 20 Jahren oder vor 30 Jahren während der Regierung Brandt wissen müssen, wo Deutschland steht, und hätte diese - sage ich mal -historische Kluft, die sich dadurch immer wieder an diesen Tagen aufgemacht hat, wenn man des Tages am 6. Juni 1944 gedachte, nicht aufrecht erhalten müssen. Wenn ich mich daran erinnere, dass ich mit Bundeskanzler Kohl - er hatte mich dazu eingeladen - nach Frankreich ging, um am Champ d' Elysees zum ersten Mal deutsche Soldaten mit französischen zum 14. Juli paradieren zu sehen und zu erleben, wie Francoise Mitterrand die deutschen Soldaten dort grüßte, das fand ich auch schon einen Akt großer sage ich mal Verständigung und Bewegung auch für mich. Ich denke, das hätte man auch früher schon in der Normandie machen können, aber wie gesagt jetzt ist es so weit und man soll nicht trauern über das, was zu spät kommt, sondern sich freuen, dass es gekommen ist.
Remme: Stichwort deutsche Soldaten. Es gibt Kritik von Seiten der Union. Peter Ramsauer sagt, wenn der Bundeskanzler an einem deutschen Soldatenfriedhof vorbei geht, ohne einen Kranz niederzulegen, ist er für mich ein Anti-Patriot. Angemessene Kritik?
Von Dohnanyi: Finde ich nicht! Der Bundeskanzler geht ja auf einen Friedhof, auf dem auch deutsche Soldaten liegen, und warum soll er sich der Schwierigkeit aussetzen, ob er dann auch begleitet wird und begleitet werden kann von seinen Kollegen in den anderen Ländern, also den damaligen Siegermächten. Nein, ich finde diese Entscheidung richtig und taktvoll. Niemand wird bestreiten, dass Schröder ein Patriot ist, mindestens so gut wie Herr Ramsauer.
Remme: Klaus von Dohnanyi war das. Herr von Dohnanyi, vielen Dank für das Gespräch!