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Gedichte über eine Stadt
Istanbul in Worte fassen

Der deutschsprachige Dichter José F. A. Oliver war Ende 2013 für einige Monate in der Türkei und erkundete dabei auf seine Art die Metropole Istanbul. Seine Gedanken über diese Stadt und ihre Menschen sind jetzt unter dem Titel "21 Gedichte aus Istanbul" in Buchform erschienen.

Von Claudia Kramatschek | 08.08.2016
    Die Blaue Moschee in Istanbul
    Istanbul mit der Blauen Moschee (dpa/picture alliance/Daniel Gammert)
    "abendstimmung, august in T.
    die kellner räumen die tischdecken ab
    am kai sitzt ein liebespaar
    aus kopftuch & kopftuch
    in einem boot auf deck
    schläft satt ein windmatrose
    im schatten einer verstümmelten pappel
    liegt schwer eine schwangere hündin, sie bellt nicht
    daneben zerfallen villen wie träume
    ein radfahrer schwimmt durch die luft
    die toten angeln die zeit in die nacht.
    Hier sind wir. Kein ich allein."
    Inmitten eines weitläufigen Wald- und Gartengebiets befindet sich, rund 20 Kilometer von Istanbul entfernt, in dem Kurort Tarabya die historische Sommerresidenz des Deutschen Botschafters. Es ist ein malerisches Anwesen – und beherbergt seit 2011 auch die sogenannte Kulturakademie, die Künstlern und Künstlerinnen diverser Sparten Gastaufenthalte gewährt. Von August 2013 bis November 2013 weilt auch der deutschsprachige Dichter José F.A Oliver in Tarabya und beginnt, von dort aus die Stadt Istanbul zu erkunden.
    "bin die stadt
    die augen wie flügel
    bin ohr & klang
    der stadt
    & gehe, gehe"
    Ganz Aug, ganz Ohr, scheint er mit der Stadt zu verschmelzen. Scheint. Denn Istanbul – eine Stadt mit 16 Millionen Menschen – ist Ansturm und Aufruhr der Sinne zugleich. Wie also die Stadt entziffern, wie sie übersetzen?
    "Es / mit sicherheit es
    könnte wäre IST. anbul / somnambul auch ein zu
    geständnis eine nachtgefolterte zuwendung an die selbstverliesse, indes
    die verlassene haut / immer
    die verwaiste haut danach & nicht zu übersetzen
    die adoptierte tätowierung &
    die sich auflösende grammatik der sinne
    stämmig sämige fleischnacktgier, wer
    steuert wen? wer legt hand an, wo?"
    Wer geglättete Postkartenbilder erwartet, wird vor solchen Stadtbeschreibungen zurück schrecken: José F.A. Oliver – kein Reiseschriftsteller, aber ein Dichter mit geschärfter Sprache – fängt stattdessen bis in deren Duktus hinein die gleißende Widersprüchlichkeit der Stadt ein, die in viele Richtungen – anziehende wie abstoßende – wuchert. Straßenköter, heimatlose Roma, syrische Flüchtlinge, Turteltauben und Lichtperlenglanz, burka-bewehrte Joggerinnen, aber auch die ‚Hoffnungswut’ der Demonstranten vom Taksimplatz und Gezipark. Poesie und Politik: Oliver erfindet dafür eine eigene, aufgeladene Sprache, verfugt die Worte und Buchstaben zu zärtlichen Neuschöpfungen. Die Zeilen zerpflückt er teils in gewagte Brüche, reiht – im Stakkatotakt seiner Schritte durch die Stadt – Bild an Bild und fängt so Istanbuls verwirrende Komplexität ein.
    "die lauerbespannten flügel der möwen
    die sichtbojeninseln zwischen den küsten
    die kontinentkanten am halsfluss der wasser
    am ufer zerfleddern hürriyet-seiten
    der regen danach druckt welt in den staub"
    Man hört das Atemlose, fühlt eine Stadt in steter Bewegung, ahnt ihre Wunden. Manchmal nämlich ist die Sprache so zerstückelt wie das Antlitz der Stadt, das vielerorts zerhöhlt wird von einem gnadenlosen Bauboom, der gierig in Höhe und Weite ausgreift.
    "sprungankerlang
    baut sich ein kuckucksnest die Princess Royal wo einst das gemeine
    volk verhauste wo einst
    das fussvolk dereinst (yol) von shopping X zu shopping mall & bauen sich ein nestversuch die
    nebelkrähen
    bauen uns ein letztes nest in den angsttriebschatten & vom nebelhorn der dumpfe
    alttraktorklang
    der lastcontainerschiffe die den hals (boğaz) nicht voll / bauen sich ein fluchtexil
    lebensraum
    ein narbennest
    im fäulnisreservat der stadtmaroden zeder (sedir) : abschluckt die nebelkrähen sich & keine
    krallen auf die zweige bringend im ast im asthort / lufthort & im horizontdunstaug / am sanddorfufer
    (köy) skizziert das planfinanzdistrikt die künftigen kalenderrisse in der megacity lust am
    abgrundechobrett & wahnsymphonisch das hör- und sehstück wundlandschaft in den
    fressbeton"
    Alle Gedichte sind angesiedelt im Hier und Jetzt – Geschichte blitzt zwar in ihnen auf, Zeit ist ein wiederkehrendes Motiv. Doch Zeit meint hier: Anwesenheit. Meint: Gegenwart und Gegenwärtigkeit. Manche Gedichte sind daher kurz, manche lang, andere kommen als lyrische Prosa daher, ergänzen sich dabei gegenseitig wie Fußnoten, wie Spiegelungen. Vier Briefe gehören ebenfalls zum Konvolut des Bandes, gefolgt von Fotografien mit ergänzenden Notaten. Vor allem die Briefe und Fotografien bezeugen den wachsam-besorgten Blick des Autors angesichts staatlicher Repressionen und schleichender Islamisierung.
    "Die inneren Rätsel der Religionen sind nicht nur durchatmender Hoffnungsgestalt, Mut und Geduld. Oft sind sie gemachte Claqueure der Trieblust, der Macht und der Not. Beifall klatschende Dominosteine. Klack-Klack. Auch hier. Je dreist-legaler die Schattenerbauer auf Istanbuls Rücken Predigten werfen und Gebote verspannen, Bärte verwachsen. So schleichend. Das sei jetzt erst wahrhaft die Demokratie, weil Beamtinnen Kopftücher trügen."
    Der Stadt und ihrem widerständigen Potenzial zollt sein Band eben darum Tribut. Tribut zollt der Dichter aber auch der Künstlerin Rebecca Horn, die im gleichen Jahr wie José F.A. Oliver in Tarabya eine Ausstellung hatte. Nicht nur die Umschlagzeichnung für den vorliegenden Band stammt aus der Feder der Künstlerin – er enthält auch ein Gedicht von Rebecca Horn. Das ist hübsche Beigabe, hätte aber nicht sein müssen. Denn José F.A. Olivers vielgestaltige Istanbul-Impressionen haben solch Zugabe überhaupt nicht nötig. Sie stehen wunderbar für sich, in all ihrer erratischen Schönheit.
    José F. A. Oliver: "21 Gedichte aus Istanbul. 4 Briefe & 10 Fotow:orte", Verlag Matthes & Seitz, 2016, 94 Seiten, 19.90 Euro