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Gedichte von Thomas Brasch
"Die nennen das Schrei"

"Die nennen es Schrei" lautet der Titel des Gedichtbands von Thomas Brasch, der 1976 mit seiner Lebensgefährtin, der Schauspielerin Katharina Thalbach, von der DDR in die BRD übersiedelte und mit seinen Erzählungen für Furore sorgte. Seine Gedichte sind ein Spiegel von Braschs zahlreichen Charakterzügen.

Von Ralph Gerstenberg |
    Egal ob Thomas Brasch Stücke und Erzählungen geschrieben, Filme gemacht oder Shakespeare übersetzt hat, die poetische Kraft seiner Sprache, seiner Bilder war stets spürbar gewesen, am unmittelbarsten natürlich in seinen Gedichten, die nun, pünktlich zu seinem 70. Geburtstag, in der erschwinglicheren Taschenbuchausgabe unter dem Titel „Die nennen es Schrei" vorliegen. Auf über 1000 Seiten haben die Herausgeberinnen Martina Hanf und Kristin Schulz das lyrische Oeuvre Braschs präsentiert, kommentiert und - so gut es ging - in eine chronologische Form gebracht. Viel Unveröffentlichtes ist dabei oder seit Jahrzehnten Vergriffenes - zum Beispiel eine kleine Sammlung von Gedichten, die 1975 in der von Bernd Jentzsch herausgegebenen DDR-Lyrik-Reihe "Poesiealbum" erschien. Der rebellische Ton Braschs ist unüberhörbar und für DDR-Verhältnisse geradezu sensationell:
    "Wieviele sind wir eigentlich noch.
    Der dort an der Kreuzung stand,
    war das nicht von uns einer.
    Jetzt trägt er eine Brille ohne Rand.
    Wir hätten ihn fast nicht erkannt.
    Wieviele sind wir eigentlich noch
    War das nicht der mit der Jimi-Hendrix-Schallplatte.
    Jetzt soll er Ingenieur sein.
    Jetzt trägt er einen Anzug und Krawatte.
    Wir sind die Aufgeregten. Er ist der Satte.
    Wer sind wir eigentlich noch.
    Wollen wir gehen. Was wollen wir finden.
    Welchen Namen hat dieses Loch,
    in dem wir, einer nach dem andern, verschwinden.
    Thomas Brasch, der am 19. Februar 1945 im britischen Westow als erster Sohn eines jüdischen Emigrantenehepaares geboren wurde, war zur Zeit dieser Veröffentlichung längst kein unbeschriebenes Blatt mehr. Während sein Vater nach Kriegsende in der DDR zum stellvertretenden Kulturminister avancierte, eckte er mit seiner kritischen Haltung zur realsozialistischen Lebenswirklichkeit an. Nach einer Flugblattaktion gegen den Einmarsch der Truppen der Ostblockstaaten 1968 in Prag wurde Thomas Brasch verhaftet und wegen "staatsfeindlicher Hetze" verurteilt. Nach einem Vierteljahr im Gefängnis musste er sich in der Produktion bewähren. Literarischen Niederschlag fanden seine Erfahrungen als Fräser im Transformatorenwerk in Geschichten seines berühmten Erzählbandes "Vor den Vätern sterben die Söhne" sowie in einigen der hier erstmals abgedruckten Gedichte:
    "Die S-Bahn steht. Die Beine gehen zur Treppe.
    Drei Ellenbogen in die Rippen und Asthmaröcheln ins Genick.
    'Gestern im Fernsehn FC Magdeburg.'
    Vom Dach der Bahnhofshalle hängt ein Eisenstrick.
    Im warmen Menschenhaufen
    zur Brücke. Auf, auf zur Frühschicht
    'Dann legt er sich den Ball zurecht und.'
    Das Öl liegt auf der Spree. Das ist ein blaues Licht.
    Durchs Dunkel stolpern. Der Dreher Grabow fällt
    Und lacht.
    Am Werktor hat der Neue Tag sich aufgestellt:
    Die helle Nacht.
    Am Mittag steht die Brücke noch.
    Mit Eisenknochen kommen von der Frühschicht.
    Das Wasser steht und ist jetzt rot.
    Ich sehe Grabow. Grabow sieht den Tod.
    Poetische Vorbilder, zu denen sich Brasch bekennt, schimmern durch seine Verse: Heine und Brecht, Rimbaud und natürlich Heiner Müller, mit dem Brasch seit 1970 befreundet ist. Doch Thomas Brasch findet einen eigenen Ton, eine eigene Haltung, integriert in seine Gedichte das Aufmüpfige, Grenzüberschreitende, Elektrisierende der Rockmusik. Beatles und Stones, Dylan und Morrison und immer wieder Jimi Hendrix, den er als Freund bezeichnet, inspirieren seine Verse, die selbst wenn sie von Trauer erzählen, von Einsamkeit, von Enttäuschung und Tod, nicht die individuelle Befindlichkeit ausstellen. So hat Brasch den veränderungswürdigen gesellschaftlichen Ist-Zustand im geteilten Deutschland im Blick, wenn er zur Zeit seiner erzwungenen Übersiedlung in die Bundesrepublik 1976 Zeilen über seine Zerrissenheit notiert, die zu seinen bekanntesten werden sollten. Hier im Originalton von Thomas Brasch:
    "Was ich habe, will ich nicht verlieren, aber
    wo ich bin, will ich nicht bleiben, aber
    die ich liebe, will ich nicht verlassen, aber
    die ich kenne, will ich nicht mehr sehen, aber
    wo ich lebe, da will ich nicht sterben, aber
    wo ich sterbe, da will ich nicht hin:
    Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin."
    Das Gedicht erschien als Teil des Versdramas "Der Papiertiger", erstmals veröffentlich in dem Buch "Kargo. 32. Versuch auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu entkommen", einer Sammlung aus Gedichten, Stücken, Prosatexten, Dokumenten und Fotos, mit der Brasch 1977 vom Rotbuch zum Suhrkamp Verlag wechselte. Obgleich es sich um keinen reinen Lyrikband handelte, entschlossen sich die Herausgeberinnen das vergriffene Buch vollständig in Braschs "Gesammelte Gedichte" aufzunehmen, da es die Vorliebe des Dichters für "hybride Formen" zeige, wie es heißt. Das ist zwar kühn, aber durchaus konsequent, denn in der Tat wird Braschs Lyrik nicht selten prosaisch, seine Prosa lyrisch, seine Dramatik poetisch, seine Poesie dramatisch. Zudem greift er in seinen Gedichten Stoffe auf, mit denen er auch in anderer Form beschäftigt ist. So gibt es ein Gedicht über Gladow, den Chef der gleichnamigen Gangsterbande, deren Geschichte Thomas Brasch in seinem Film "Engel aus Eisen" von 1981 erzählt. Auch Brunke, dem Mädchenmörder, über den ein ausuferndes Romanmanuskript entsteht, widmet sich Brasch immer wieder in Versform. Abgesehen von einem kleinen Zyklus mit Grafiken von Strawalde in signierter Kleinstauflage sind in den neunziger Jahren bis zu seinem Tod nur noch sehr vereinzelt Gedichte von Thomas Brasch erschienen. Mit der DDR war für ihn auch die Utopie von einer gerechteren Gesellschaft verschwunden, an die er bis zuletzt glauben wollte. In den Gedichten aus dem Nachlass kann man die poetische Reflexion der Ereignisse nachlesen, die Brasch in der Öffentlichkeit nicht kommentieren wollte.
    "Und wenn wir nicht am Leben sind
    dann sterben wir noch heute.
    Die Liebe stirbt, du lebst, mein Kind
    Die Mädchen werden Bräute
    Ach, wenn ihr mich gestorben habt,
    lebt ihr mich weiter heute,
    gemeinsam wird ein Land begrabt
    und einsam sind die Leute.
    "Die nennen es Schrei" ist eine umfassende Sammlung, die Thomas Braschs poetisches Schaffen in all seinen Facetten widerspiegelt. Da finden sich strenge Formen und spielerische Experimente, politische Verse und Liebeslyrik, Langgedichte und Vierzeiler. Nicht alles ist für die Ewigkeit geschaffen. Doch selbst in seiner rasch verfassten Gebrauchslyrik, die vor allem im Nachlassteil des Bandes zu finden ist - Verse, die an Freunde und Freundinnen, nicht selten an Geliebte gerichtet sind -, bleibt Thomas Brasch als origineller, oft witziger und vor allem äußerst sprachbewusster Autor erkennbar. Wenn man etwas über eine Zeit erfahren will, sollte man nicht nur Historiker zu Rate ziehen, sondern auch – und vor allem – die Dichter. Thomas Brasch hat wie kaum ein anderer die deutsche Misere des 20. Jahrhunderts am eigenen Leib erfahren. Und er war ein Dichter, unvereinnehmbar und selten zufrieden, am allerwenigsten mit sich selbst. Und so dichtete er am Ende, kurz vor seinem Tod im November 2001:
    "DAS FÜRCHTEN NICHT UND NICHT DAS WÜNSCHEN
    darf mir abhanden kommen, auch mein täglich sterben nicht
    das seellos süchtig sein auf keinen fall
    nur hirnlos reimen wie ein wicht muß beendet werden
    da ist ein gott und setzt sich zwischen alle stühle
    er sieht genauso aus wie ich mich fühle"