Heuer: Sollte die Europäische Kommission Sanktionen ergreifen, wenn Deutschland das dritte Mal die Defizitgrenze reißt?
Walter: Das ist eine schwierige Frage, aber ich würde mich am Ende dazu durchringen, Herrn Solves zu empfehlen, die Sanktionen pflichtgemäß anzuwenden, und ich würde den Deutschen eigentlich auch raten zu sagen: Wir sind die Erfinder, wir haben ein Interesse an diesem Pakt, wir haben ein langfristiges Interesse, dass er bei uns und bei anderen eingehalten wird, damit die Währungsunion ein wirklicher Erfolg wird. Und deshalb sollten wir die Strafe für unser Fehlverhalten, - das Fehlverhalten ist nicht das, das wir jetzt begehen, sondern das Fehlverhalten ist das, was wir um die Jahrtausendwende verschlafen haben, um das Jahr 2000 und 2001 -, wir sollten diese Strafe, das heißt die Hinterlegung dieser Summe in eine europäische Kasse ertragen. Wir sollten uns allerdings so anstrengen und sollten mit unseren Partnern auch so vernünftig reden, dass das, was wir jetzt wirtschaftspolitisch auf den Weg bringen, Steuersenkung ist das eine, aber das wichtigere, andere, begleitende ist natürlich auch die Korrektur unserer Alters- und Gesundheitsvorsorge, dass wir das auf den Weg bringen und dann in ein, zwei Jahren demonstrieren können, dass das erfolgreich ist. Und dann können wir ja das hinterlegte Geld auch wieder zurückbekommen. Es wäre dann nicht entgültig verloren.
Heuer: Auch Sie, Herr Walter, haben, wenn ich richtig informiert bin, wiederholt für die Aussetzung des Stabilitätspaktes plädiert, akut für dieses und das kommende Jahr?
Walter: Aussetzung in dem Sinne, dass ich es für unkluge Wirtschaftspolitik hielte, den Fehlern, die wir wirtschaftspolitisch um die Jahrtausendwende gemacht haben, nun neue Fehler nachzuschieben, indem wir entweder die Steuerreform, die wir für 2005 geplant haben, nicht vorziehen oder gar, was noch schlimmer wäre, die Steuerentlastung durch andere Belastungen gegen zu finanzieren. Das wäre falsch. Ich halte es für klüger für Deutschland und klüger für die Europäische Union, dass wir im nächsten Jahr noch einmal die Vereinbarung, drei Prozent nicht zu reißen, tatsächlich verletzen, aber wir sollten die dafür ausgelobte Strafe zahlen. Wissen Sie, wenn ich meine Frau ins Krankenhaus fahre, weil es dringend ist und ich 90 fahre statt 50, dann sollte ich wissen, dass ich eine Verkehrsübertretung begangen habe, und meine Strafe bezahlen. Ich muss immer noch abwägen, ob es wichtiger ist, meine Frau rechtzeitig ins Krankenhaus zu bringen.
Heuer: Hans Eichel, der deutsche Finanzminister hat in der Haushaltsdebatte in dieser Woche ja eingeräumt, dass seine Wachstumsprognose von zwei Prozent fürs kommende Jahr sehr unsicher sei. Das kam erstaunlich deutlich und erstaunlich früh. Glauben Sie, dass dahinter eine politische Strategie des Finanzministers steckt?
Walter: Das weiß ich nicht. Derzeit erscheint vielen Betrachtern diese Zahl von knapp zwei Prozent für das nächste Jahr eher ambitioniert, mir eher nicht. Mir scheint angesichts des Umstandes, dass wir nächstes Jahr vier Arbeitstage mehr haben und dass die amerikanische Konjunktur sich wohl erholt, ist diese zwei Prozent eine so mickrige Zahl, dass ich glaube, dass die auch überschritten werden könnte, nicht nur untertroffen. Aber es ist natürlich richtig, zu sagen, wissen Sie, wenn man nicht weiß, ob ein Nuklearkrieg aus Nordkorea, eine entscheidende Wirtschaftskrise in Saudi-Arabien kommt oder Terrorismus wieder zuschlägt, dass man dann nicht sagt, eine Zwei-Prozent-Wirtschaftsprognose ist solide. Das halte ich für außerordentlich klug und außerordentlich wichtig, dass der Finanzminister sagt, das können wir schließlich am Ende nicht wissen. Aber wenn solche Großereignisse nicht eintreten, sollte eigentlich mit dem, was wirtschaftspolitisch in den USA angelegt ist, und mit dem, was in Europa mittlerweile abgelaufen ist, im nächsten Jahr so etwas wie eine, ich sage, popelige Zuwachsrate von zwei Prozent möglich sein.
Heuer: Wenn Sie das für möglich halten, Herr Walter, halten Sie es dann am Ende auch für möglich, dass Deutschland im kommenden Jahr die Defizitgrenze einhält?
Walter: Nein, das halte ich für absolut ausgeschlossen. Da müssten Wunder geschehen, von denen ich nicht sehe, wie sie geschehen können. Dazu müsste beispielsweise Konsens existieren, dass wir die Rentenerhöhung des nächsten Jahres aussetzen, und das sehe ich beispielsweise nicht.
Heuer: Die Finanzlage im Bund und in den Ländern ist miserabel. Heute gibt es Presseberichte, nach denen die Länder schon seit Juli ihr Schuldenkonto überziehen. Was halten Sie von Vorschlägen, bestimmte staatlich Investitionen, zum Beispiel die für die Infrastruktur oder die Forschung, einfach aus den Staatshaushalten herauszurechnen, um es den Staaten zu erleichtern, den Stabilitätspakt einzuhalten.
Walter: Diese Mogeleien haben wir hinter uns, wir wollen ein einheitliches Budget. Solange der Staat Verantwortung für diese Aufgaben hat, und das ist solange der Fall, solange er diese Aufgaben nicht wirklich und zwar wirklich privatisiert hat, solange gehört das in den Staatshaushalt, und solange sollte man da nicht mogeln. Da sollte man das gesamtwirtschaftliche Ungleichgewicht erklären, das heißt also, seine Sünde bekennen. Aber Mogeleien - wie dies in andere Haushalte zu packen - haben niemandem, keinem anderen Land der Welt und auch uns nicht geholfen. Das ist unseriöse Buchführung.
Heuer: Zum Stabilitätspakt gehört ja auch das Wachstum. Italien, Deutschland und Frankreich, allesamt Defizitsünder, haben ja angeregt, mit milliardenschweren Investitionen das Wachstum in den Mitgliedsstaaten anzukurbeln. Halten Sie das für richtig?
Walter: Wir haben da alle Erfahrungen bei uns hinter uns, und die Japaner haben es in den Neunzigerjahren Jahr für Jahr probiert: Dies ist ein Versuch, der nicht funktioniert, schon gar nicht kurzfristig funktioniert. Und wenn wir über das Jahr 2004 reden, müssten wir ja über Umsetzungen von Investitionen im Jahr 2004 reden. Es gibt nichts Vernünftiges, was man jetzt noch nicht fest geplant hat, was man im nächsten Jahr verwirklichen könnte. Das sind also Wolkenkuckucksheime, wir sollten viel vernünftiger beispielsweise darüber nachdenken, welche Teile der öffentlichen Investitionen tatsächlich öffentliche Investitionen sein müssen und welche privatisiert werden können. Eine gut entwickelte, vernünftige Privatisierungsdebatte angestoßen durch die Europäische Kommission, das wäre etwas, was ich sehr begrüßen würde. Allerdings rettet das unsere Konjunktur 2004 nicht, das würde uns aber möglicherweise einen steileren Wachstumspfad für die Zeit nach 2005 geben.
Heuer: Herr Walter, da Sie sich vor Prognosen nicht scheuen, noch eine Frage aus traurigem aktuellen Anlass zum Schluss. Nach der Ermordung von Anna Lindh, die sich ja vehement für die Einführung des Euros in Schweden eingesetzt hatte, findet das Referendum zur Euroeinführung am Sonntag nun doch statt in Schweden. Glauben Sie, die Bevölkerung dort ändert noch ihre Meinung und sagt nun doch mehrheitlich "Ja" zum Euro?
Walter: Ich bin jetzt 40 Jahre in diesem Geschäft, und ich habe beobachtet, dass Menschen über Dinge, die ihnen ganz tief gehen, dann doch sehr intensiv nachdenken und dass das Veränderungen auslösen kann. Ich erinnere mal an Pim Fortuin in Holland, das hat eine wirklich andere Wegweisung gegeben. So schrecklich das ist, ich kenne Frau Lindh, ich habe sie im letzten Jahr bei unserem Kongress in Frankfurt als vehemente Kämpferin für die Idee erleben dürfen. Man darf es fast nicht denken, aber ich glaube in der Tat, es gibt eine größere Chance für das "Ja" der Schweden.
Heuer: Norbert Walter, der Chefvolkswirt der Deutschen Bank im Interview mit dem Deutschlandfunk. Ich danke Ihnen, Herr Walter, für das Gespräch. Einen schönen Tag.
Walter: Gerne geschehen. Wiederhören.
Link: Interview als RealAudio