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Gefahr aus dem All

Ein über der sibirischen Stadt Tscheljabinsk explodierter Meteorit hinterlies eine Spur der Verwüstung. Das Geschoss aus dem All schlug nur unweit der russischen Atomanlage Mayak ein. Ein Schreckensszenario vor dem ein russischer Strahlenexperte seit Langem warnt.

Von Andrea Rehmsmeier | 23.02.2013
    German Lukaschin wohnt in der Kleinstadt Snezhinsk, 150 Kilometer südlich von Tscheljabinsk. In dieser Gegend können ortsunkundige Autofahrer Überraschungen erleben. Wo laut Straßenkarte die Einfahrt nach Snezhinsk möglich sein sollte, versperrt unvermittelt ein Schlagbaum den Weg. Ein bewaffneter Sicherheitsmann schaut durch das heruntergekurbelte Fenster und will einen "Propusk" sehen: einen Passierschein.

    Nur registrierte Einwohner, erklärt der Uniformierte, dürften das Stadtgebiet betreten. Er selbst dürfe keine Passierscheine ausstellen. Und überhaupt hätten nur die Verwandten der Einwohner ein Recht auf Zutritt.

    Snezhinsk ist ein so genanntes geschlossenes Territorium. Hier hat ein wissenschaftliches Institut für Atombombenforschung seinen Sitz, deshalb ist das gesamte Stadtgebiet abgeriegelt wie ein Hochsicherheitstrakt. In dieser Gegend gibt es vier solcher geschlossener Nuklearstädte. Dort wird Kernforschung betrieben, Uran angereichert, Plutonium wiederaufbereitet und es werden Nuklearsprengköpfe gefertigt. Die geschlossene Stadt Ozersk ist der Sitz der Kernanlage Mayak. Sie erlangte traurige Berühmtheit, weil hier im Jahr 1957 ein Atommülltank explodierte. Weite Landstriche wurden schwer verstrahlt.

    Lukaschin wartet an einer Straßenkreuzung: ein hagerer, älterer Herr mit Baseballmütze und großer Brille. Im Jahr 2000, erzählt er, war er Mitglied einer Expertenkommission, die ein russisch-amerikanisches Nuklearsicherheitsprogramm umsetzen sollte. Geplant war ein Langzeitzwischenlager für 25 Tonnen Plutonium aus dem sowjetischen Atomwaffenprogramm. Es sollte auf dem Betriebsgelände der Nuklearanlage Mayak gebaut werden.

    In einem Fernfahrerbistro klappt Lukaschin seinen Computer auf, und weist auf eine schematische Skizze der Lagerstätte. Inzwischen, sagt er, sei sie in Betrieb.

    "Das Hauptproblem ist: Wie kann man Plutonium und Uran überhaupt sicher aufbewahren? Die Lagerstätte soll dem Plutonium für die nächsten 100 Jahre physischen Schutz bieten. Aber was kann in 100 Jahren alles geschehen? Denken Sie nur an den Meteoriten, der im Jahr 1908 nahe dem sibirischen Fluss Tungúska heruntergegangen ist. Würde die Lagerstätte in Mayak den Aufprall eines solchen kosmischen Ungeheuers aushalten? Nein – auf keinen Fall!"

    Meteoriteneinschlag: Auf der Liste der Risikoszenarien, die Lukaschin für das Plutoniumlager in der Atomanlage Mayak aufgestellt hatte, steht dieser Punkt ganz oben. Eintrittswahrscheinlichkeit: sehr gering. Mögliche Folgen: extrem. Der gesamte Lagerinhalt würde in die Atmosphäre geschleudert werden: 25 Tonnen Plutonium. Zum Vergleich: Die Atombombe von Nagasaki bestand aus gerade mal sechs Kilo. Dabei zählt die Lagerstätte zu den modernsten der Welt. Die US-Regierung hatte sie zum Teil finanziert - mit 413 Millionen US-Dollar. Die Betonummantelung, sagt Lukaschin, ist sieben Meter dick. Doch selbst das sei viel zu wenig. Insbesondere deshalb, weil es in der Nähe von Mayak zwei große Flughäfen gebe.

    "Die Lagerstätte würde nicht einmal einer modernen Boeing, einer Passagiermaschine, standhalten. Das Schutzniveau ist berechnet für ein Flugzeug, das mit einem Gewicht von 20 Tonnen bei einer Geschwindigkeit von 200 Stundenkilometer einschlägt – beispielsweise für ein Kampfflugzeug aus dem Zweiten Weltkrieg. Aber eine Boeing, die infolge eines Pilotenfehlers oder eines Terroranschlags einschlägt, wiegt Hunderte Tonnen. Könnte die Konstruktion dem standhalten?"

    German Lukaschin ist vermutlich der einzige Mensch in ganz Russland, der Mayak von innen kennt, und sich nicht scheut, geheime technische Daten an die Öffentlichkeit zu bringen. Während seines gesamten Berufslebens hat er für die staatliche Atomindustrie gearbeitet: Er forschte für sowjetische Atomwaffenprogramme, war Strahlenschutzbeauftragter und inspizierte Kernanlagen. Nach der Tschernobylkatastrophe gehörte er zu den "Liquidatoren" und berechnete die Strahlendosen der Arbeiter.

    Die Atomanlage Mayak aber, sagt er, bringt ihn vor Sorge um den Schlaf. Denn weitere 38 Tonnen Reaktorplutonium aus der Atommüllwiederaufbereitung seien in einem alten Reaktorgebäude untergebracht worden. Außerdem gebe es zwei Reaktoren, eine Wiederaufbereitungsanlage und diverse Atommülllager.

    "Da gibt es zum Beispiel den Komplex S: Dort lagert flüssiger, hoch radioaktiver Atommüll mit einer Strahlenkonzentration von 350 Megacurie. Allein das ist das Siebenfache dessen, was während der Tschernobylkatastrophe frei wurde. Und es gibt den See Karatschai, der gilt als der radioaktivste Ort der Erde. Er hat eine Konzentration von 120 Millionen Curie, das ist die zweieinhalbfache Tschernobyldosis, was Strontium und Cäsium angeht. Und all dieser Dreck liegt auf einem 30 Quadratkilometer großen Gelände. So eine Konzentration ist Wahnsinn!"

    Einmal hat er ein Antwortschreiben der Gebietsverwaltung erhalten, erzählt Lukaschin auf dem Rückweg. Die Anlagen in Mayak, las er dort, böten zuverlässigen Schutz vor Explosionen, Stromausfall, Kernschmelze, Bränden und Störungen im Kühlsystem. Weitere Sicherheitseinrichtungen seien geplant. Von Meteoriteneinschlägen und Flugzeugabstürzen aber stand in dem Schreiben nichts, auch nichts von einem Schutz vor Waldbränden. In dieser Gegend breiten sie sich in heißen Sommern immer wieder aus.

    Vor der Windschutzscheibe taucht der Schlagbaum von Snezhinsk auf.

    "Hier bitte anhalten: Stopp! Hier am Rand kann man parken. Sonst werden sie schießen, ohne Fragen zu stellen!"
    Lukaschin steigt aus, und geht zu Fuß in Richtung dieses Hochsicherheitsterritoriums, das seine Heimatstadt ist. Vor unbefugtem Betreten sind Russlands Nuklearanlagen gut geschützt. Und auch vor der Öffentlichkeit und fremden Blicken.