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Gefühlte Wahrheiten
Über Ahnungen, Vermutungen und Gespür

Ahnungen, Vermutungen und Gespür sind Eingebungen, die natürliche Erkenntnisse liefern. Sie lassen sich nicht vom Wissen übertreffen - weder in der Biologie, noch der Physiologie oder Psychologie. Welche Rolle spielen Ahnungen in unserem Leben, in der Informationsgesellschaft?

Von Thomas Palzer |
    Auf einer Wand steht mit Filzschrift geschrieben: "Allet Lügen. Vertrau auf dich, Herzverstand"
    "Allet Lügen": Alltagspoesie auf einer Hauswand in Berlin (dpa/Wolfram Steinberg)
    Metaphysik des Wissens
    Wir leben in einer Welt, die nur noch eine Form des Wissens anerkennt: formalisierbares Wissen.
    Alle Formen des Wissens, die nicht formal produziert werden können, sind aus dem Erkenntnisregister entfernt und abgewertet worden.
    Die Produktion von formalisierbarem Wissen beruht auf Rationalität - auf einer Rationalität freilich, die nur das Zerrbild dessen ist, was ratio im Sinne von Vernunft ursprünglich einmal bedeutet hat.
    "Vernunft kommt von: vernehmen - altgriechisch: nous".
    Vernehmen, erschnüffeln, erspüren.
    Ahnen.
    Sind all diese epistemischen Haltungen erkannt als das, was sie sind: Möglichkeiten des Wissens und der Erkenntnis?
    Der seichte Rationalismus der Aufklärung versteht unter Vernunft Regelgebrauch und Problemlösungsverfahren, mit anderen Worten: Mathematik und Berechenbarkeit.
    Eigentlich beginnt Vernunft aber eben nicht mit dem Rechnen, sondern dann, wenn man vor dem unermesslichen Reichtum des Seins in ehrfürchtiges Staunen versetzt wird.
    "Dieses Staunen wurzelt in der Erfahrung, dass die Existenz des Menschen unendlich überragt und vertieft wird von einer unauslotbaren Wirklichkeit. Weder enthüllt sich diese der menschlichen Vernunft ganz, noch verbirgt sie sich ganz, weshalb das Verstehen von Wirklichkeit weder mächtig noch ohnmächtig ist - vielmehr findet der Mensch sich wieder im Zwielicht einer halben Klarheit, eines Ahnens und Vermutens, in welchem sich Wissen und Nicht-Wissen, Wissenschaft und Metaphysik auf merkwürdige Weise verschränken."
    Der Begriff Wirklichkeit greift in unserem Sinn weit über jene ontologische Provinz hinaus, die von den Naturwissenschaften beschrieben und für das Ganze gehalten wird.
    "Im Zwielicht zwischen Weisheit und Unverstand findet der Mensch das ihm gemäße Maß."
    Platon.
    Man kann mit Recht sagen, dass eine nicht zur Rationalität geschrumpfte Form der Vernunft in der Subjektivität gründet und mit ihr endet.
    Es gehört zu den Vorurteilen der Neuzeit, wenn diese annimmt, dass das Erkennen unabhängig sei von der Gegenwart jener Person, die erkennt - als fände Erkennen gewissermaßen außerhalb des Subjekts im Nirwana der Regeln und Verfahren statt.
    Gibt es über das, was wir wissen, hinaus noch Wissen - und welche Sorte Wissen wäre das?
    "Wir ahnen, dass jede Form des Wissens immer nur eine Perspektive erschließt - entweder die des Allgemeinen und Formalen, oder Erfahrungswissen, entweder Universalität oder konkrete Einzelheit."
    Und was ist mit vorbegrifflichem Wissen, mit nicht propositionalem Wissen, mit somatischem Verstehen?
    Ahnen, erschnüffeln, intuitiv erkennen?
    "Erst, wenn Computer ahnen können, wird man das Recht haben, von Künstlicher Intelligenz zu sprechen."
    Im Gegensatz zum methodischen Wissen will das Ahnen nicht nur über den Menschen sprechen, vielmehr will es ihn in seinem Leben erreichen.
    Metaphysik des Ahnens
    Entweder haben wir keine Ahnung oder wir haben eine Ahnung. Intuitiv spüren wir, ob etwas wahr ist. Wir fühlen es, wenn wir auf dem Holzweg sind.
    Unser ganzer Körper ist ein Erkenntnisinstrument. Nicht nur unser kognitives Vermögen. Wir erkennen schon, wenn wir bloß sind. Wir ahnen, fühlen, spüren. Wir erschnuppern die Lage. Wir haben die Nase im Wind. Wir haben einen Sinn für das Gelingen.
    "Nicht mehr vernehmen wir im Rauschen der heiligen Haine die Götter, nicht mehr im Gemurmel der Quellen oder im sprudelnden Überfluss der Orakel-Becken; nichts prophezeien uns mehr die Eichen oder prophezeit uns die Schale auf dem pythischen Dreifuß; nichts erkennen wir mehr im steinernen Lächeln der Götterstatuen; Winke und Weisungen entnehmen wir nicht länger dem Flug der Vögel oder dem Toben des Meeres, dem Blitz und dem Donner."
    Die Welt ist entzaubert. Sie ist entzaubert, weil wir unseren Wahrnehmungen nicht mehr trauen. Weil die Tatsache, dass wir von ihnen getäuscht werden können, umgeschlagen ist in eine grundsätzliche und umfassende Skepsis.
    Die Erkenntnis der Welt haben wir an Apparate delegiert, die zwar keine Wahrnehmungen haben, weder fühlen noch ahnen oder spüren, dafür aber können sie rechnen und messen.
    Als Ahnende, Spürende, Fühlende sind wir in der Welt, sind Teil von ihr. Wenn wir messen, befinden wir uns an einem Ort außerhalb der Welt. Dann sind wir Positivisten, die verlangen, dass die Befunde überprüfbar sein müssen.
    Nelson Goodman sagt 1951 in dem Essay The Structure of Appearance (und wenn hier von Philosophie gesprochen wird, ist der Positivismus gemeint):
    "Jede Anstrengung der Philosophie, das Dunkle und Obskure aufzuklären, hat etwas Unerfreuliches; denn als Strafe für Misserfolg droht Konfusion, als Lohn des Erfolges winkt Banalität. Jede Lösung, ist sie erst einmal gefunden, ist bald langweilig; und es bleibt nur die Bemühung übrig, das ebenso langweilig zu machen, was noch dunkel genug ist, um uns zu fesseln."
    Von natürlicher und wissenschaftlicher Erkenntnis
    Was bedeutet es, wenn wir sagen, jemand habe einen guten Riecher oder Antennen für dieses oder jenes.
    "Es besagt, dass Menschen Ahnungen haben."
    Ahnungen zu haben bedeutet, dass es Wissen vor dem Wissen geben muss.
    Vorwissen. Vorweggenommenes Wissen.
    Vorgreifendes Wissen.
    "Wahrnehmung geht Wahrheit voraus."
    Welcher Art aber ist dieses Vorwissen? Wissen, das dem eigentlichen Wissen vorgreift, kann ja kaum in der gleichen oder ähnlichen Weise verfasst sein wie das, was wir üblicherweise als Wissen bezeichnen.
    "Zum Beispiel ist Vorwissen nicht propositional, also nicht sprachlich verfasst."
    Vorwissen ist vielmehr subsemantischer, somatischer Natur. Es ist nicht lesbar, sondern erspürbar, erahnbar, erschnupperbar.
    Trotzdem suchen wir Ahnungen im Begriffsrepertoire der Theorien vom Wissen vergeblich.
    "Dabei liefern Ahnungen durchaus Erkenntnisse - nur sind diese weder eindeutig noch unbezweifelbar. "
    Was sind Ahnungen?
    Inwiefern unterscheidet sich das in ihnen enthaltene Vor-Wissen vom Wissen als Bestand, als gegenständlich vorzeigbares Wissen?
    Die Ahnung ist eine Art An-deutung, eine vorweggenommene Deutung.
    "In der Ahnung wird geahnt, dass etwas Sichtbares etwas Unsichtbares andeutet."
    Ahnungen werden nicht wie Wissen aktiv erlangt, Ahnungen werden passiv erfahren.
    "Nur weil der Mensch verstehend ist, kann er hören und vernehmen. Nur weil er verstehend ist, kann er Ahnungen haben - nämlich, dass der Schall, den er hört, das Gefühl, das er hat, die Intuition, die ihn anleitet, das Gesicht, das ihm erscheint, etwas bedeuten."
    Ahnungen gehören zu unserem natürlichen Repräsentationssystem, dessen Sensibilität insbesondere geeignet ist, Nuancen wahrzunehmen, Schattierungen, Abstufungen, Atmosphären und Stimmungen.
    Wenn etwas nicht richtig ist, dann können wir das fühlen.
    "Wir beginnen nämlich schon zu erkennen, wenn wir bloß sind."
    Das eigene Da zu sein, bedeutet scheint’s immer auch, es gleichzeitig zu erkennen.
    Ahnungen besitzen einen Eigensinn - und können nicht in einer anderen Wissenschaft aufgehoben werden. Ahnungen sind ein "Wissen" eigenen Rechts - jenseits von Methodik, Überprüfbarkeit und Verfahrenstreue.
    Eine Art "wissendes" Unwissen ... ein Wissen, das von sich selbst nichts weiß ...
    "Ahnungen sind eine Form der natürlichen Erkenntnis - im Gegensatz zur 'rationalen', errechenbaren, formalisierbaren Erkenntnis."
    Das Universum empirischer Wissenschaft ist also im Hinblick auf seine Eigenschaften genauso verfasst wie das Universum der Mathematik. Es ist zu diesem koextensiv.
    "Eine ontologische Provinz. Ein Aspekt der Wirklichkeit, nicht die Wirklichkeit."
    Und nichts ist zur Mathematik ontologisch in größerer Distanz als die Ahnung. Ahnungen sind unzuverlässig, aber deshalb nicht zwangsläufig irrational.
    Um aber keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: An dieser Stelle soll es nicht darum gehen, eine Haltung zu verteidigen, die unter dem Namen Alternative Fakten in jüngster Zeit Furore gemacht hat und die glaubt, dass sie sich Gedanken, Erkenntnisse und Argumente schenken kann - um statt ihrer lieber zu "fühlen" und zu "meinen".
    Wahrheiten, die gefühlt werden, können also einerseits Ahnungen sein, Vor-Wissen, andererseits können sie jedoch auch einfach nur Vorurteile bestätigen, also Unwissenheit zementieren.
    "Ahnungen müssen nicht zutreffen. Sie sind unzuverlässig. Trotzdem sind sie ernst zu nehmen. Ahnungen, Intuitionen, Gespürtes - all das ist epistemisch seriös."
    Und anders als Daten und Informationen müssen Ahnungen nicht ausgelegt werden - sie sind selbstauslegend.
    Mantik und Semantik
    Das altgriechische mantike techne zielt auf die Kunst der Zukunftsdeutung.
    Im heutigen Sinn bezieht sich Mantik auf ein fragiles Bedeutungsverstehen durch körperliche Phänomene wie ahnen, spüren, vermuten.
    "Mit was ahnt der Körper?"
    Wer etwas ahnt, ahnt eine Bedeutung - nimmt eine Spur auf.
    Der Mensch ist ein Spuren- und Fährtenleser. Er liest in den Wolken, erkennt sein Schicksal in den Sternen, er liest die Zukunft aus der Hand.
    "Mit anderen Worten: Der Mensch erkennt in den Phänomenen ebenjener Szenerie, in die er unweigerlich eingebettet ist ..."
    ...wie eine Nuss in der Schale, wie ein Tropfen im Teich, wie ein Atom im Universum...
    "...eine Bedeutung, die ihm unmittelbar gegeben wird."
    Ein unmittelbares epistemisches Geschehen. Wahrheit leuchtet auf - sie muss nicht erst verstanden werden, sie ist bereits verstanden. Im Ahnen hat der Mensch Anteil an der Welt.
    In ganz ähnlicher Weise wissen wir manchmal, dass wir auf dem Holzweg sind. Woher kommt diese Eingebung?
    Sind wir nur das Medium, in dem sich Ahnungen, Gefühle, Stimmungen und Intuitionen zur Geltung bringen?
    Woher kennen wir dann vor der Lösung den Weg zur Lösung?
    Offenbar tunneln Ahnungen Gedanken, bereiten diese vor.
    "Wenn man von innen her von solch dunklen Ahnungen berührt wird, nennt man das eine Ein-Gebung."
    Eine Inspiration.
    Inspiration kommt von inspirare und heißt: Einhauchung, Einflößung.
    Eingebungen oder Einhauchungen bringen Einfälle, plötzliche Ideen, die ganz unerwartet in einen einfallen.
    Aber woher ist diese Eingebung denn nun gekommen?
    Das ist uns so rätselhaft wie uns übrigens auch der Erfolg der Rationalität rätselhaft ist. Worin ist ihr Erfolg begründet? Wir wissen das so wenig, wie wir wissen, woher Ahnungen kommen.
    Wissen heißt nie: Allwissenheit. Die Welt ist reicher, als wir oder jedes andere Wesen erkennen oder auch nur erahnen können. Allwissenheit würde vollkommene Bestimmtheit bedeuten, aber die ist nicht möglich.
    Wissen und Un-Wissen hängen zusammen. Wissen gibt es nur, weil es Unwissen gibt - und weil es Dinge gibt, die wir nicht wissen, gibt es Wissen.
    Eingebungen oder Intuitionen kommen also weder aus der Erfahrung - das heißt aus dem Wissen, das der unmittelbaren sinnlichen Berührung mit dem Gegenstand entspringt -, noch aus der Erkenntnis - sind von daher also kein Ergebnis schlussfolgernden, syllogistischen Denkens.
    "In der Mantik geht es anders als in der Semantik nicht um die Deutung von Zeichen, sondern um Inspiration und Stimulation - um den Enthusiasmus von Traum, Rausch, Ahnung, Gesicht. Eine gehobene Stimmung ist deren Voraussetzung."
    Das altgriechische enthuein heißt wörtlich: im Inneren summen.
    Eingebungen sind initiiert von etwas Unbekanntem, das sich nicht auf etwas Bekanntes zurückführen lässt. Eingebungen geschehen, wenn sie geschehen, in gehobener, enthusiasmierter Stimmung.
    "Doch genau diese Einsicht wird von den diskursiven Wissenschaften gern übersprungen! Als ließe sich auch der erste Einfall, die plötzliche Idee, die Ahnung von irgendwo herleiten. Hinter Ahnungen kann jedoch so wenig zurückgegangen werden wie Wissen übertroffen", bringt es der Philosoph Wolfram Hogrebe auf den Punkt.
    Vor aller Semantik kommt folglich die Mantik - vor aller Bedeutung die Deutung.
    "Ahnungen sind Andeutungen - und Andeutungen haben Anteil an dem, was sie deuten."
    Ahnungen, Gedanken, Ideen - sie stellen sich ein. Wir können sie nicht von uns aus erzwingen.
    "Es ist wie mit den Gedanken, die kommen, wann sie wollen, nicht, wann wir wollen."
    Ahnungen sind selbst nicht propositional, uns aber gleichwohl propositional gegeben: Wir wissen, dass wir ahnen, fühlen, vermuten, glauben - und wir wissen, dass wir wissen.
    Ahnungen und andere Eingebungen gelten insofern als übernatürlich, als wir keinen Grund finden, aus dem wir sie herleiten könnten.
    Vom Okkulten oder Obskuren, also Dunklen im Sinne des logisch nicht Erklärbaren, keine Notiz zu nehmen - darauf hat uns unsere rationale Kultur trainiert.
    Damit stellen wir uns blind. Denn Ahnungen sind Augen, die zum Sehen kein Licht benötigen.
    Alles voller Götter
    In Homers Ilias ist es der kluge Polydamas, der mit einer Fähigkeit der Seher ausgezeichnet ist. Er kann nämlich ...
    ... vorwärts und rückwärts schauen.
    "Ein Seher ist Märtyrer der Zeiten, denn er sieht, was ist, was gewesen ist, und was sein wird."
    Mit dem Ende der griechisch-römischen Kultur findet auch die antike Weltdeutung ihr Ende.
    Der Satz, in dem die Antike - wie bei Platon und Aristoteles zu studieren - behauptet hatte, dass alles voller Götter sei, verliert seine Gültigkeit.
    Es ist das Christentum, das die apollinische Semantik der Natur endgültig auslöscht und das, was einmal Mantik geheißen hat, durch die Se-mantik der Schrift ersetzt.
    "Plötzlich wird die Natur lesbar, wird das Buch zur Metapher für Natur und Geschichte."
    Und das Buch der Bücher wird zur Welterlösungsformel.
    Aus den Künsten der archaischen Mantik und Magie entwickeln sich die Naturwissenschaften, die Medizin und die Mathematik.
    "Bis dahin waren es die Seher, die das Zukunftswissen übermittelten.
    In allen alten Kulturen haben sie eine bedeutsame Rolle gespielt.
    Ihre Kunst, die Mantik, ist ein universales, weltweit auftretendes Phänomen."
    In der Mantik geht es um die Wahrnehmung kleinster Ähnlichkeiten.
    Der französische Dichter Charles Baudelaire spricht von der...
    "... mystischen Religion der Korrespondenz."
    Und sein Kollege Paul Valéry erkennt darin die eigentliche Kreativität: darin nämlich, Beziehungen zu entdecken...
    ".... zwischen Dingen, deren Zusammenhang uns nicht aufgrund gesetzmäßiger Kontinuität gegeben ist."
    Was den Visionär und Seher folglich auszeichnet, ist seine Begabung, Muster zu erkennen.
    "Er erahnt sie mehr, als dass er sie sieht."
    Dennoch ist nicht zu bestreiten, dass Eingebungen analog zu spontanen Musterbildungen geschehen. Als ob sich ein Rätsel wie von selbst löste. Man sieht, ohne zu sehen.
    In Europa gerät das Sehertum schon zu Platons Zeiten in Misskredit. Genau genommen liegen die Gründe dafür in den Launen der Götter.
    Das eifersüchtige Christentum macht der Mantik endgültig den Garaus. Es kann keinen Gott neben seinem ertragen.
    "529 untersagt Kaiser Justinian den Lehrbetrieb der Platonischen Akademie, weil man sich dort der Taufe widersetzt und aus Treue zur platonischen Lehre inhaltliche Kompromisse mit dem Christentum ablehnt. Es kommt zur Emigration der Wissenschaften und Wahrsager aus dem Römischen Reich: Die besten Köpfe der Akademie setzen sich ins Reich der Sassaniden ab."
    Iran, Irak, Pakistan, Afghanistan.
    Überhaupt werden im ausgehenden dritten und vierten Jahrhundert nach Christus eine Serie von Kaisergesetzen erlassen, welche die Wahrsager, die die römische Welt gekannt und geschätzt hat, nahezu sämtlich der Vernichtung preisgeben.
    "Von diesen Gesetzen wird der Bruch mit alten Gewissheiten festgeschrieben - ebenso wie der Wechsel zu Überzeugungen, die die Kompetenz und die Legitimität der Weltinterpretation neu verteilen."
    Während die römischen Juristen und Historiker noch lange auf der traditionellen Meinung beharren, die Interpretation von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sei gesetzlich nicht zu regeln, gründe vielmehr allein auf individueller Begabung...
    "... plädieren heidnische und christliche Großmeister - also Philosophen und Theologen - für eine neue Weltanschauung, eine neue Sicht des göttlichen Willens und der Ordnung menschlichen Wissens."
    Es entstehen - und hier sind christliche Autoren maßgeblich - Konzepte, die dazu führen, die Vielzahl von Bewerbern, die sämtlich göttliche Qualitäten für sich reklamieren, auf einen einzigen zu reduzieren.
    Die Zeichen des Himmels werden durch die Zeichen der Zeit ersetzt.
    Der freie Wille wird diszipliniert und die Beliebigkeit von Wissen und Wissenwollen verringert. Die Oberhoheit über das Wissen aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und damit die Definitionsmacht über das, was gut und wahr ist, wird einem einzigen Gott zugesprochen.
    Diese Monopolisierung verträgt sich auf das Beste mit dem kaiserlichen Machtmonopol.
    "So wenig wie Gott kann seine Kopie auf Erden, der allwissende Kaiser, konkurrierende Wahrsager neben sich dulden."
    Erst heute wird aus der Rückschau die große anthropologische Bedeutung der Seher sichtbar. Auch und gerade in der Genesis der Hochkulturen spielen sie eine entscheidende Rolle.
    Doch die Seher sind nicht ausgestorben ...
    Ein kleines bisschen sind wir nämlich alle Seher geblieben.
    Denn ohne vorauszusehen ...
    ... ohne Ahnungen und Eingebungen ...
    ... ginge es nicht.
    Die Mantik beruht auf einem ästhetischen Weltverhältnis, das heißt, sie beruht darauf, dass wir unser Bewusstsein fühlen können - etwa in der Lust daran, dass uns etwas glückt oder gelingt, ohne dass wir es erzwungen hätten.
    Denn eine Intuition haben heißt stets: Der Gedanke wird schlagartig in ganzer Klarheit erfasst.
    In der Philosophie der Geschichte schreibt Hegel:
    "Die mantheia überhaupt ist Poesie, nicht willkürliches Phantasieren, sondern eine Phantasie, die das Geistige in das Natürliche hineinlegt und sinnvolles Wissen ist. Der griechische Geist ist daher im ganzen ohne Aberglauben, in dem er das Sinnliche in Sinniges verwandelt..."
    Mit der Mantik wird folgerichtig den Phänomenen Bedeutung zugesprochen. Es wird erkannt, dass sie Bedeutung haben.
    "Mantik ist ein Phänomen der Resonanz - der Resonanz auf eine intelligible Welt."
    Die Welt muss verstehbar sein, ansonsten sie nicht verstanden werden könnte.
    So wie der Mensch verstehend ist, ansonsten er nicht vernehmen könnte,
    In dieser scheinbaren Banalität steckt das unlösbare Rätsel:
    Der Geist des Vernehmens
    Die Welt ist grundsätzlich vernehmlich. Das heißt, sie kann vernommen und damit verstanden werden. Um die Welt zu vernehmen, wahrzunehmen, haben wir einen Körper. Der Körper steht zur Welt im Verhältnis der analogia - er hat Anteil an der Welt und die Welt hat Anteil an ihm.
    Wir müssen begreifen, dass wir Gedanken nicht nur mit dem Verstand aktiv produzieren, sondern dass unsere Vernunft daneben auch rezeptiv ist, vernehmend - empfänglich für ahnende Gedanken, dafür, Intuitionen auf- und anzunehmen.
    Was uns nämlich staunen und lächeln macht, ist, dass frei gewordene Sinnsubstanzen...
    ... also das, was der sinnlichen Wahrnehmung als Sinn schon immanent ist - Farbe, Leuchtkraft oder Tönung ...
    ... immer in ein Muster fallen, in eine Struktur, deren gelingender Charakter ungewollt ist, kontingent - auf rätselhafte Weise zufällig.
    Was fällt uns da zu?
    "Der gelingende, gleichwohl ungewollte Charakter lässt sich vielleicht am Beispiel eines Kaleidoskops gut verstehen: Durch geeignete Drehung lassen sich unregelmäßig liegende Glasstücke zu einem geordneten, meist sechszackigen Stern figurieren."
    Voraussetzung dafür sind die Drehung und ein geeigneter Schliff der Glasstücke,
    "Trotzdem finden mit jeder Drehung die Glasstücke von selbst zu einem neuen Muster."
    Die Welt erweist sich als eine bewegte elastische Unbestimmtheit.
    Ganz ähnlich funktionieren Mantik und Semantik:
    Wenn wir vernehmen, finden unsere Wahrnehmungen zu einem Muster zusammen.
    Um das Bild des Kaleidoskops aufzugreifen:
    Die Glasstücke fügen sich zu einem Muster. Und sie können sich zu immer neuen Mustern fügen.
    Dass die Welt vernehmlich ist, ist erstaunlich - und noch erstaunlicher ist, dass die Vernehmungen Verstehen implizieren, da das Verstehen in der Welt offenbar ein Modell hat. Welt wird verstanden, weil sie verstehbar ist.
    Woher stammt diese Korrespondenz? Wo finden wir die Bedingungen der Möglichkeit für eine solche Bezüglichkeit?
    In der Mantik.
    "Vernommene Dinge werden von der Welt mysteriöserweise verstehend eingelöst. Wie aber kann das sein?"
    In dem Gedicht Le Démon de l’Analogie von Mallarmé heißt es:
    "Erklangen von deinen Lippen schon einmal unbekannte Worte, unwillkommene Fetzen eines sinnlosen Satzes?"
    Es ist eine verstörende Erfahrung, wenn sinnlichen Erfahrungen plötzlich Sinn zuwächst...
    "... zufällt."
    Das gleiche gilt für die Se-Mantik - dann nämlich, wenn wir feststellen, dass selbst der Zungenrede irgendetwas in der Welt entspricht. Zaubersprüche machen sich das Rätsel der Kontingenz zunutze.
    Du musst verstehn!
    Aus Eins mach’ Zehn,
    Und Zwei lass gehen,
    Und Drei mach’ gleich,
    So bist Du reich.
    Verlier’ die Vier!
    Aus Fünf und Sechs,
    So sagt die Hex’,
    Mach’ Sieben und Acht,
    So ist’s vollbracht:
    Und Neun ist Eins,
    Und Zehn ist keins.
    Das ist das Hexen-Einmal-Eins!
    "Woher die Ähnlichkeit zwischen Sprache und Welt kommt, Vernehmlichkeit und Verstehen - das bleibt das ungelöste Rätsel."
    Jedenfalls muss zwischen Deutung und Bedeutung und Sinn und Sinnlichkeit eine Art Notwendigkeit walten, sonst wäre Referenz gar nicht denkbar.
    Aber diese Notwendigkeit gründet in ihrem Gegenteil - dem Zufall. Notwendigkeit ist kontingent!
    "In diesem Paradox haben wir so etwas wie einen Riss in der Wirklichkeit – diese ist endlich-unendlich."
    Kontingenz ist Voraussetzung dafür, dass wir überhaupt Einbildungen haben können. Wir sehen etwas und sehen plötzlich in dem, was wir sehen, etwas anderes. In den bizarren Gebilden der Wolken können wir jede Gestalt wiederfinden, jedes Gesicht, in jedem Geräusch jeden Namen. Im Sand des Strandes können wir das Mienenspiel eines Menschen erkennen, das von der nächsten Welle wieder ausgelöscht werden wird.
    Geist, so müssen wir festhalten, ist das, was Bezüglichkeit herstellt. Geist ist Mantik - die Verleihung von Bedeutung.
    Entdecken wir Zusammenhänge, finden wir Muster, sind wir darum be-geistert.
    Was wir verstehen, ist eine Übersetzung dessen, was wir vernommen haben. Darum ist das eine vom anderen verschieden.
    Wolfram Hogrebe:
    "Wo immer Oberflächen auf ein Inneres hin verstehend transparent werden sollen, bedürfen wir der Ahnung, dass die Muster, die Strukturen der Oberfläche etwas bedeuten."
    Und genau hier finden wir die Ursache für die Spannung zwischen Innen und Außen, Welt und Deutung, zwischen Deutung und Bedeutung, Kontingenz und Notwendigkeit - und die zwischen Sinn und Sinnlichkeit.
    "Mit anderen Worten: Das Zusammenhängende ist willkürlich. Letztendlich ist die Zweideutigkeit das wahre Wesensmerkmal der Realität."
    Und davon gibt uns die Ahnung eine Ahnung. Bevor wir erkennen, ahnen wir.
    Heidegger:
    "Oder kommt dem Menschen die Ahnung des Seyns gerade nicht aus dem Seienden, sondern aus dem, was allein noch dem Seyn gleichrangig, weil ihm zugehörig bleibt, aus dem Nichts?"
    Der Sinn des Wissens erschließt sich nur dem nous, dem vernehmenden Wissen, dem intuitiven Verstehen.
    "Nous - abgeleitet von "Nase" und "schnüffeln" - meint: einen Riecher haben. Das ist das somatische Verstehen. Das somatische Verstehen verschließt sich jedem methodischen Zugriff wissenschaftlicher Forschung."
    Und damit auch der rationalen Widerlegung. Ahnungen lassen sich nicht vernünftig widerlegen - das macht die Schwierigkeit im Umgang mit ihnen aus, wenn sie denn erst einmal Platz gegriffen haben.
    Die Erfahrung unserer Existenz lässt uns verstehen, dass die Wirklichkeit, in der wir selbst vorkommen, unerschöpflich ist. Wir können das nicht beweisen oder errechnen, sondern nur erahnen. Aber diese Ahnung sagt uns, dass das Maß uns genau dann angemessen ist, wenn es in der Mitte zwischen Hybris und Kleinmut liegt, zwischen Skepsis und blinder Zuversicht.