Samstag, 04. Mai 2024

Archiv

Gegengift für postfaktische Rhetorik
"Merkel-Lexikon" veröffentlicht

Ob Comic-Autoren, Journalisten oder Politikwissenschaftler: Schon viele haben versucht, das "Phänomen Merkel" in ihren Werken zu ergründen. Ein eigenes "Merkel-Lexikon" gab es bisher allerdings noch nicht. Andreas Rinke hat nun auch diese Lücke geschlossen.

Von Stephan Detjen | 05.12.2016
    Merkel lächelnd im roten Kostüm vor einem Mikrofon, dahinter eine blaue Wand mit "CDU-Schriftzügen".
    Bundeskanzlerin Angela Merkel kündigt am 20.11.2016 an, erneut für das Amt der Bundeskanzlerin zu kandidieren. (Kay Nietfeld / dpa)
    Mit der Zeit kommen die Bücher. Nach elf Jahren Kanzlerschaft lässt sich mit der Literatur über Angela Merkel mindestens ein breites Regalbord füllen. Auch wenn es für die wissenschaftliche Historiographie noch zu früh ist, sind viele Kapitel der Lebensgeschichte Angela Merkels bereits recht gut aufgearbeitet.
    Comic-Autorinnen, Journalisten, Essayisten und Politikwissenschaftler haben sich an Angela Merkel abgearbeitet, versucht, sie deuten oder zu entschlüsseln. Die Vielfalt der Ansätze und Erzähltechniken belegt zugleich, wie unvollkommen alle Versuche zwangsläufig bleiben müssen. Spätestens seit dem letzten Sommer hat sich Merkel einmal mehr den bis dahin gängigen Deutungsmustern entwunden. Nach ihrer Ankündigung, im kommenden Jahr für eine vierte Amtszeit zu kandidieren, ist auch klar, dass das Ende dieser politischen Biografie noch vollkommen offen ist.
    Die Person zerlegen - und wieder zusammensetzen
    Vor diesem Hintergrund erklärt sich, dass die Autoren der jüngsten Werke über die Kanzlerin auch formal noch einmal nach neuen Wegen suchen, das Phänomen Merkel in den Griff zu bekommen. Andreas Rinke, Chefkorrespondent der Nachrichtenagentur Thomsen Reuters in Berlin, hat das mit seinem Merkel-Lexikon getan:
    "Nach längerem Nachdenken bin ich dazu gekommen, dass es vielleicht besser ist, sich einer Person zu nähern, in dem man sie zerlegt thematisch und dann wieder zusammensetzen lässt, durch den Leser. Weil es vermeidet, dass man eigentlich eine einzige Idee hat, die man möglicherweise von dieser Person im Hinterkopf hat und so einen viel differenzierteren Zugang zu einer Person ermöglicht. Weil letztlich wir alle – und das betrifft aber auch sie als Politikerin - sehr viel komplexer und keineswegs immer so einheitlich sind, wie das zum Beispiel in Biografien zum Ausdruck kommt, wo die Autoren sehr oft eine lineare Erzählung verfolgen und damit erklären wollen, warum diese Person so oder so ist. Das war gar nicht mein Ansatz."
    Zwischen "Girls-Camp" und "schwäbischer Hausfrau"
    Andreas Rinkes "thematische Filettierung" in seinem "Merkel-Lexikon" führt zu einem in jeder Hinsicht voluminösen Ergebnis: rund 340 Stichworte auf knapp 450 Seiten einschließlich eines umfangreichen Fußnotenapparats enthält das Buch. Artikel zu Begriffen wie Doktorarbeit, DDR, Evangelisch, Konfirmationsspruch oder Zonenwachtel klären über biographische Prägungen, Wegmarken Merkels und ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit auf. Weggefährten der Kanzlerin, Antipoden und prägende Figuren ihrer Karriere wie Sigmar Gabriel, Francois Hollande, Helmut Kohl, Barack Obama, Horst Seehofer, Vladimir Putin und Guido Westerwelle sind eigene Stichworte gewidmet. Anhand von Zentralbegriffen wie Bundestag, Kerneuropa, Kompromiss oder Soziale Marktwirtschaft kartographiert Rinke Merkels Politikverständnis. Stichworte wie Berater, Bücher, Büro, Kanzlermappe, oder Pressekonferenzen liefern detailreiche Einblicke in das innerste Machtzentrum des Kanzleramts und Merkels Regierungsstil. Schließlich gibt es Artikel zu Begriffen, die sich so allein dem ungewöhnlichen Lebenslauf dieser Politikerin und seiner Rezeption zuordnen lassen: Dame ohne Unterleib, Dekolleté, Girls-Camp, Neuland, schwäbische-Hausfrau oder Zwei-Wort-Politik.
    "Demokratie lebt vom Wechsel"
    Die Tatsache, dass die auf den ersten Blick disparat erscheinende Folge von Begriffen immer wieder auf eine einzige Person als thematischen Fluchtpunkt des Buches hinführt, ermöglicht ungewöhnliche Leseerfahrungen: Mit stetig wachsendem Erkenntnisgewinn und Lesevergnügen kann man sich von Stichwort zu Stichwort leiten lassen und dieses Buch schmökernd durchkreuzen. Man kann zielstrebig nach Hintergründen, Erklärungen oder Anekdoten suchen. Und immer wieder wird man in der Rhetorik Merkels Schlüsselbegriffe hören, die Rinke in Reden und Denken der Kanzlerin einordnet - etwa in der Erklärung, mit der Merkel vor zwei Wochen ihre erneute Kanzlerkandidatur ankündigte:
    "Ich würde mit dem Sonntag etliche Stichworte verbinden. Einer ist 'dienen', ein weiterer ist 'Zukunft', also die Zukunftsplanung, da habe ich zum Beispiel auch dieses Zitat, das sie Herlinde Koelbl 1998 gesagt hat, dass sie nicht als halbtotes Wrack aus der Politik ausscheiden möchte und sie hat auch früher gesagt, dass Demokratie vom Wechsel lebt. Und natürlich auch C wie CDU, weil mit dieser erneuten Kanzler-Kandidatur auch die zuvor nötige Wiederwahl als Parteivorsitzende verbunden ist – und deswegen kann man auch darin erinnern, dass sie wohl wie kaum einer ihrer Vorgänger diese Partei umgeformt hat zu dem, was heute die CDU ist."
    Nähe und Distanz als Arbeitsprinzip
    Zu jedem einzelnen Stichwort in Andreas Rinkes Merkel-Lexikon findet der Leser eine akribisch zusammen getragene Fülle von Informationen, die sich vor allem auf authentische Äußerungen Merkels selbst stützen. Rinke hat dazu Redemanuskripte, Interviews und Mitschnitte von Pressekonferenzen aus einem Vierteljahrhundert durchforstet. Zudem kann der Autor auf eigene Beobachtungen aus einer besonderen Perspektive zurückgreifen: Seit mehr als zehn Jahren verfolgt der Reuters-Korrespondent den Weg Merkels aus unmittelbarer Nähe. Auf nahezu allen wichtigen Auslandsreisen der vergangenen Jahre begleitete er die Kanzlerin und konfrontiert sie auf ihren Pressekonferenzen regelmäßig mit präzisen und kenntnisreichen Fragen. Kaum ein anderer Journalist hat die Bundeskanzlerin so intensiv und in der Sache zugleich nüchtern distanziert beobachtet, wie Rinke. Sein Buch belegt, dass die Nähe einer journalistischen Beobachterposition zu beobachteten Politikern keineswegs zu einem Verlust von Schärfe der Erkenntnis und Analysefähigkeit führen muss. Rinke beweist das Gegenteil.
    Ein Stichwort allerdings, dass die politischen Diskurse dieser Tage prägt und auch von Angela Merkel bereits mehrfach aufgegriffen wurde, fehlt in diesem Buch, dessen Manuskript im Sommer abgeschlossen wurde: Postfaktisch. Der Begriff kennzeichnet eine politische Kommunikation, die in den Filterblasen sozialer Netzwerke und der aggressiven Rhetorik populistischer Politiker Wahrheitsansprüche aufgibt, Argumente durch Kolportage und Polemik verdrängt, auf Effekte statt auf Überzeugung setzt. Angela Merkel ist im vergangenen Jahr bis hin zum Wahlkampf Donald Trumps zum Objekt postfaktischer Rhetorik geworden. Andreas Rinke liefert mit seinem Merkel-Lexikon das Gegengift. Es wirkt nicht für die Kanzlerin, sondern für einen an der Sache interessierten, auf nüchterne Beobachtung und sorgfältige Recherche gestützten Diskurs über die Politikerin, die sich im nächsten Jahr zum vierten Mal zur Wahl als Bundeskanzlerin stellen will.
    Andreas Rinke: "Das Merkel-Lexikon. Die Kanzlerin von A-Z",
    zu Klampen! Verlag, 447 Seiten, 24,80 Euro.