Er hätte sein Buch gern "Zwischen den Stühlen" genannt – weil er mit keinem Gesellschaftssystem in dem er lebte, zufrieden war. Und das waren einige: Als Kind hat Cornelius Weiss den Bombenkrieg in der Reichshauptstadt Berlin erlebt. Seine Jugend verbrachte er mit der Familie in der Sowjetunion, sein Erwachsenenleben als Wissenschaftler und Familienvater in Leipzig, in der DDR. Bis zu ihrem Ende 1989 – und einem weiteren Neuanfang. Aber "Zwischen den Stühlen" – das mochte der Verlag nicht. Klingt nach Looser, hieß es.
"Dann haben wir uns auf 'Risse in der Zeit' geeinigt. Ein Titel, den ich gar nicht schlecht finde. Ich habe nämlich auch mein Leben in verschiedene Abschnitte - immer innerlich - eingeteilt, von denen ich im zweiten Abschnitt nie glaubte, dass es den ersten gegeben hat, weil es so unwahrscheinlich war."
Cornelius Weiss ist Empiriker, er lernt aus dem Alltag. Und so schildert er seinen kindlichen Stolz auf das braune Hemd der Volksjugend, berichtet freimütig von den Tränen, die er in Russland weinte, als Stalin starb und von dem Glauben seiner Familie an ein besseres, sozialistisches Deutschland östlich der Elbe. Dorthin geht es 1955 zurück. Weiss ist 22 Jahre alt und fühlt sich nach neun Jahren Abwesenheit in Deutschland fremd. Dazu kommt seine christlich-pazifistische Prägung, die ihn Distanz wahren lässt zu den Massenorganisationen der DDR.
"Militärischer Drill, wie er bei uns in der FDJ üblich war, so was gefiel mir gar nicht – der Komsomol war dagegen geradezu zivil in Russland. Und Märsche der Bereitschaft mit Ziegelsteinen im Rucksack und Gebrüll von Liedern im Clara-Zetkin-Park – um Gottes willen!"
Weiss wird Chemiker und arbeitet als Dozent an der Universität. Im Buch beschreibt er anschaulich und persönlich, wie seine Skepsis gegenüber der SED-Politik wächst. Die sozialistische Bildungsgerechtigkeit, die Kinder von als "bürgerlich" diskreditierten Eltern einfach ausgrenzt, den Bau der Mauer 1961. Das Ende des freien Austauschs von Texten und Musik über die Grenze.
"Idiotische Fehler. Was die sich für Feinde damit gemacht haben."
Über Walter Ulbricht ärgert er sich heute noch. Denn Weiss war Sozialist – und ist es noch immer.
"Und dann kam aber 68. Und das hat mir dann den Rest gegeben."
Es waren zwei Ereignisse: In der Tschechoslowakei wollte Alexander Dubček den Staatssozialismus um demokratische Grundrechte bereichern. Den Versuch schlägt die Rote Armee nieder. Und in Leipzig wird gegen den erklärten Bürgerwillen ein 800 Jahre altes Kulturdenkmal vernichtet: die Paulinerkirche am Karl-Marx-Platz.
"Und da hab ich mich verabschiedet von der letzten Hoffnung, dass die DDR sich noch wandeln könne und vielleicht doch irgendwann mal ein sozialistischer Staat wird."
Jede Art von Grundlagenforschung fällt in der DDR dem Ressourcenmangel und kurzsichtigen Kosten-/Nutzenrechnungen zum Opfer. Weiss schildert, wie wissenschaftliche Institute zu Planerfüllungsbetrieben verkümmern. Eine Nische für die eigene Arbeit findet er im Fachbereich theoretische Chemie. Sein DDR-Dasein deutet Weiss aber nicht als richtiges Leben im falschen, sondern schlicht als schwejksche Überlebensstrategie.
"Da konnte man relativ frei forschen. Nein ich würde sagen, man konnte richtig frei forschen. Man musste dann Forschungsverträge machen. Die habe ich formuliert, ein Vorschlag, der wurde bestätigt, der war aber so formuliert, dass ihn ein Funktionär ganz gewiss nicht verstehen konnte. Das ging sehr gut."
Was nicht ging, war: Professor werden. Dazu hätte Weiss in die SED eintreten müssen. Drei Mal wurde er dazu aufgefordert. Höflich, wie er betont.
"Und ich habe genauso ruhig gesagt, Leute, solange ihr den Atheismus als einzig denkbare Weltanschauung verlangt, geht das nicht, ich bin Christ."
Weiss war parteilos, habilitiert aber unberufen, und für den Wissenschaftsbetrieb der DDR ohne Bedeutung.
"Keinen Ehrgeiz zu haben und nicht wichtig sein wollen bedeutet ja nicht dämlich sein. Das glauben manche, aber es stimmt nicht."
Pathetisch ließe sich sagen: Die Geschichte hat ihm recht gegeben. Denn 1991, als der Wind sich gedreht hatte, wählte das Hochschulkonzil ihn als Außenseiter zum Rektor. Aber Pathos ist Weiss fremd. Er spricht zwar gerne über sich, das Ich steht aber nicht für ein starkes Ego, sondern für eigenständig gefällte Urteile und feine Differenzierungen. So berichtet Weiss von guten Freundschaften zu SED-Mitgliedern und von Petzen und Opportunisten unter den Parteilosen.
"Also eigentlich gingen die Fronten gar nicht, hier SED und dort Parteiloser und in der Mitte noch die halb verschüchterten Blockparteiflöten, sondern die Barriere ging quer.""
Einzelfallprüfungen schienen in der Nachwendezeit allerdings überflüssig. Die bürgerlichen Parteien West nahmen ihre Brüder und Schwestern aus den Blockparteien Ost großzügig in ihre Reihen auf - samt Parteivermögen. Die SPD lehnte SED-Mitglieder und damit auch die überzeugten Sozialdemokraten unter ihnen pauschal ab. Unter Sachsens "König Kurt" Biedenkopf fristete die SPD dann mit wenigen Mitgliedern und wenigen Wählern ein Dasein als königlich-sächsische Hofopposition. Am Tag seiner Entlassung aus dem Rektorenamt trat Cornelius Weiss in diese Partei ein.
"Ich habe gleich den ersten Fehler gemacht. Ein vorbereitetes Interview in der Leipziger Volkszeitung, wo ich gesagt habe, ich möchte der müden alten Tante SPD auf die Beine helfen. Da waren alle beleidigt in Leipzig in der SPD. (lacht)."
Leider kommt die Zeit als Hochschulrektor im Umbruch und Weiss' Arbeit als Abgeordneter und Alterspräsident des Landtages im Buch zu kurz. Die Jahre in der Sowjetunion füllen viele Seiten, geschrieben aus einem jugendlichen Blickwinkel. Das ist schön und bildend, aber noch größere Freude macht es, den politisch erwachsenen Cornelius Weiss zu lesen. Zum Beispiel, wenn er seine differenzierenden Urteile den vielen platten Dualismen der DDR-Aufarbeitung entgegensetzt.
"Wir werden ja immer mehr Bürgerrechtler. Und Opfer werden wir auch immer mehr. Und die Täter sind ganz klar eingegrenzt: Das ist die Stasi, die Linke. Der Rest sind Opfer. Und damit das auch glaubwürdig ist, muss man natürlich die DDR so radikal-dämonisch zeichnen, wie sie nie war. Das passt Leuten, die jede sozialistische Idee, und sei es auch der religiöse Sozialismus oder der freiheitliche Sozialismus, bis aufs Blut verdammen, für die sind das natürlich gelungene Zeitzeugen."
Cornelius Weiss konnte sich weder mit dem real existierenden Sozialismus noch kann er sich mit der Berliner Republik identifizieren. Das hat ihn nicht daran gehindert, politisch tätig zu werden, sobald er die Chance für gesellschaftlichen Wandel sah. Sein Buch ist ein erfrischendes Gegenmittel zu Resignation und Politikverdrossenheit.
Cornelius Weiss: Risse in der Zeit. Ein Leben zwischen Ost und West.
Rowohlt, 368 Seiten, 19,95 Euro
ISBN: 978-3-498-07374-9
"Dann haben wir uns auf 'Risse in der Zeit' geeinigt. Ein Titel, den ich gar nicht schlecht finde. Ich habe nämlich auch mein Leben in verschiedene Abschnitte - immer innerlich - eingeteilt, von denen ich im zweiten Abschnitt nie glaubte, dass es den ersten gegeben hat, weil es so unwahrscheinlich war."
Cornelius Weiss ist Empiriker, er lernt aus dem Alltag. Und so schildert er seinen kindlichen Stolz auf das braune Hemd der Volksjugend, berichtet freimütig von den Tränen, die er in Russland weinte, als Stalin starb und von dem Glauben seiner Familie an ein besseres, sozialistisches Deutschland östlich der Elbe. Dorthin geht es 1955 zurück. Weiss ist 22 Jahre alt und fühlt sich nach neun Jahren Abwesenheit in Deutschland fremd. Dazu kommt seine christlich-pazifistische Prägung, die ihn Distanz wahren lässt zu den Massenorganisationen der DDR.
"Militärischer Drill, wie er bei uns in der FDJ üblich war, so was gefiel mir gar nicht – der Komsomol war dagegen geradezu zivil in Russland. Und Märsche der Bereitschaft mit Ziegelsteinen im Rucksack und Gebrüll von Liedern im Clara-Zetkin-Park – um Gottes willen!"
Weiss wird Chemiker und arbeitet als Dozent an der Universität. Im Buch beschreibt er anschaulich und persönlich, wie seine Skepsis gegenüber der SED-Politik wächst. Die sozialistische Bildungsgerechtigkeit, die Kinder von als "bürgerlich" diskreditierten Eltern einfach ausgrenzt, den Bau der Mauer 1961. Das Ende des freien Austauschs von Texten und Musik über die Grenze.
"Idiotische Fehler. Was die sich für Feinde damit gemacht haben."
Über Walter Ulbricht ärgert er sich heute noch. Denn Weiss war Sozialist – und ist es noch immer.
"Und dann kam aber 68. Und das hat mir dann den Rest gegeben."
Es waren zwei Ereignisse: In der Tschechoslowakei wollte Alexander Dubček den Staatssozialismus um demokratische Grundrechte bereichern. Den Versuch schlägt die Rote Armee nieder. Und in Leipzig wird gegen den erklärten Bürgerwillen ein 800 Jahre altes Kulturdenkmal vernichtet: die Paulinerkirche am Karl-Marx-Platz.
"Und da hab ich mich verabschiedet von der letzten Hoffnung, dass die DDR sich noch wandeln könne und vielleicht doch irgendwann mal ein sozialistischer Staat wird."
Jede Art von Grundlagenforschung fällt in der DDR dem Ressourcenmangel und kurzsichtigen Kosten-/Nutzenrechnungen zum Opfer. Weiss schildert, wie wissenschaftliche Institute zu Planerfüllungsbetrieben verkümmern. Eine Nische für die eigene Arbeit findet er im Fachbereich theoretische Chemie. Sein DDR-Dasein deutet Weiss aber nicht als richtiges Leben im falschen, sondern schlicht als schwejksche Überlebensstrategie.
"Da konnte man relativ frei forschen. Nein ich würde sagen, man konnte richtig frei forschen. Man musste dann Forschungsverträge machen. Die habe ich formuliert, ein Vorschlag, der wurde bestätigt, der war aber so formuliert, dass ihn ein Funktionär ganz gewiss nicht verstehen konnte. Das ging sehr gut."
Was nicht ging, war: Professor werden. Dazu hätte Weiss in die SED eintreten müssen. Drei Mal wurde er dazu aufgefordert. Höflich, wie er betont.
"Und ich habe genauso ruhig gesagt, Leute, solange ihr den Atheismus als einzig denkbare Weltanschauung verlangt, geht das nicht, ich bin Christ."
Weiss war parteilos, habilitiert aber unberufen, und für den Wissenschaftsbetrieb der DDR ohne Bedeutung.
"Keinen Ehrgeiz zu haben und nicht wichtig sein wollen bedeutet ja nicht dämlich sein. Das glauben manche, aber es stimmt nicht."
Pathetisch ließe sich sagen: Die Geschichte hat ihm recht gegeben. Denn 1991, als der Wind sich gedreht hatte, wählte das Hochschulkonzil ihn als Außenseiter zum Rektor. Aber Pathos ist Weiss fremd. Er spricht zwar gerne über sich, das Ich steht aber nicht für ein starkes Ego, sondern für eigenständig gefällte Urteile und feine Differenzierungen. So berichtet Weiss von guten Freundschaften zu SED-Mitgliedern und von Petzen und Opportunisten unter den Parteilosen.
"Also eigentlich gingen die Fronten gar nicht, hier SED und dort Parteiloser und in der Mitte noch die halb verschüchterten Blockparteiflöten, sondern die Barriere ging quer.""
Einzelfallprüfungen schienen in der Nachwendezeit allerdings überflüssig. Die bürgerlichen Parteien West nahmen ihre Brüder und Schwestern aus den Blockparteien Ost großzügig in ihre Reihen auf - samt Parteivermögen. Die SPD lehnte SED-Mitglieder und damit auch die überzeugten Sozialdemokraten unter ihnen pauschal ab. Unter Sachsens "König Kurt" Biedenkopf fristete die SPD dann mit wenigen Mitgliedern und wenigen Wählern ein Dasein als königlich-sächsische Hofopposition. Am Tag seiner Entlassung aus dem Rektorenamt trat Cornelius Weiss in diese Partei ein.
"Ich habe gleich den ersten Fehler gemacht. Ein vorbereitetes Interview in der Leipziger Volkszeitung, wo ich gesagt habe, ich möchte der müden alten Tante SPD auf die Beine helfen. Da waren alle beleidigt in Leipzig in der SPD. (lacht)."
Leider kommt die Zeit als Hochschulrektor im Umbruch und Weiss' Arbeit als Abgeordneter und Alterspräsident des Landtages im Buch zu kurz. Die Jahre in der Sowjetunion füllen viele Seiten, geschrieben aus einem jugendlichen Blickwinkel. Das ist schön und bildend, aber noch größere Freude macht es, den politisch erwachsenen Cornelius Weiss zu lesen. Zum Beispiel, wenn er seine differenzierenden Urteile den vielen platten Dualismen der DDR-Aufarbeitung entgegensetzt.
"Wir werden ja immer mehr Bürgerrechtler. Und Opfer werden wir auch immer mehr. Und die Täter sind ganz klar eingegrenzt: Das ist die Stasi, die Linke. Der Rest sind Opfer. Und damit das auch glaubwürdig ist, muss man natürlich die DDR so radikal-dämonisch zeichnen, wie sie nie war. Das passt Leuten, die jede sozialistische Idee, und sei es auch der religiöse Sozialismus oder der freiheitliche Sozialismus, bis aufs Blut verdammen, für die sind das natürlich gelungene Zeitzeugen."
Cornelius Weiss konnte sich weder mit dem real existierenden Sozialismus noch kann er sich mit der Berliner Republik identifizieren. Das hat ihn nicht daran gehindert, politisch tätig zu werden, sobald er die Chance für gesellschaftlichen Wandel sah. Sein Buch ist ein erfrischendes Gegenmittel zu Resignation und Politikverdrossenheit.
Cornelius Weiss: Risse in der Zeit. Ein Leben zwischen Ost und West.
Rowohlt, 368 Seiten, 19,95 Euro
ISBN: 978-3-498-07374-9