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Gehirnforschung
Das Navigationssystem im Kopf

Dass wir nicht ständig stolpern oder gegen Wände rennen, verdanken wir dem sogenannten Rasterzellensystem im Gehirn. Forscher des Max-Planck-Instituts haben diese Zellstruktur nun mit ungewöhnlichen Methoden untersucht – und Hinweise auf weitere Funktionen gefunden.

Von Maximilian Brose | 09.01.2019
    Computerzeichnung eines menschlichen Gehirns
    Mit Elektroden direkt im Gehirn können die Forscher Gehirnaktivitäten fast in Echtzeit ablesen (imago)
    Ich laufe eine Einkaufspromenade entlang. Vor mir eine Litfaßsäule, da muss ich leicht nach links ausweichen. Achtung, da kommt ein Fahrrad, ungefähr fünf Meter entfernt. Mein Gehirn sagt mir, geh ein paar Schritte nach rechts, um Platz zu machen. Doch wie erfasst mein Gehirn eigentlich den Raum um mich herum? Professor Christian Doeller vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig erklärt mir, dass dafür sogenannte Ortszellen zuständig sind: "Diese Ortszellen kodieren einzelne Orte im Raum. Also hier in diesem Zimmer würden einige Zellen hier an dem Tisch feuern, andere dort drüben an der Tür."
    Die Signale dieser neuronalen Kartenpunkte werden in einer angebundenen Zellstruktur tief im Schädel verbarbeitet. Dem sogenannten Rasterzellensystem. "Da feuert eine einzelne Zelle an verschiedenen Orten. Das ist im Prinzip eine Art Gitter, das über die Ortszellen gelegt wird," erklärt Doeller.
    Medizinnobelpreis für Hirnforscher
    Dieses neuronale Netz aus Raster- und Ortszellen haben Hirnforscher bei Nagetieren beobachtet und dafür 2014 den Medizinnobelpreis erhalten. Verschiedene Experimente legen nahe, dass dieses Navigationsinstrument auch beim Menschen existiert. In einer aktuellen Studie zeichnete ein Forscherteam um Professor Doeller die Aktivität des menschlichen Rasterzellensystems fast ohne zeitliche Verzögerungen auf. Hauptsächlich mit einem Magnetoenzephalographen kurz MEG - einer Art Hirnscanner, der auf der Schädeloberfläche das Magnetfeld des Gehirns misst.
    "Neben unserer Hauptmethode, dem MEG in dieser Studie, haben wir auch elektrische Aktivität direkt aus dem enthorinalen Kortex von Epilepsie Patienten gemessen", so der Hirnforscher.
    Elektroden werden direkt im Gehirn platziert
    Der enthorinale Kortex ist die Hirnregion, in der das Rasterzellensystem liegt. In dieser Region können aber auch Epilepsieanfälle entstehen. Um solche Orte aufzuspüren, platzieren Neurochirurgen im Gehirn von Epilepsiepatienten haarfeine Elektroden. Bei einem Patienten haben die Forschenden um Professor Doeller dieses diagnostische Werkzeug für ihre Grundlagenstudie genutzt. Sein Vorteil: "Dass das eigentlich die einzige Methode ist, um direkte elektrische Signale aus dem menschlichen Gehirn abzuleiten. Die Methode ist wirklich eine Methode, die in ganz seltenen Fällen von Epilepsiepatienten anwendbar ist."
    Denn Neurochirurgen platzieren die Elektroden nur im Gehirn, wenn sie eine Operation bei den Epilepsiepatienten planen, erklärt der Neurochirurg Professor Jürgen Voges vom Universitätsklinikum Magdeburg. Zu der Frage, ob das Diagnoseverfahren auch als Instrument in der Grundlagenforschung eingesetzt werden sollte, meint er: "Wenn sie Patienten haben und wenn die Indikation gegeben ist für die Maßnahmen, dann gibt es aus meiner Sicht keinen Hinderungsgrund, wenn sie sowieso vor Ort sind, weitere elektronische Informationen abzugreifen."
    Paradigmenwechsel in der Kognitionswissenschaft
    Doch das Forscherteam um Professor Doeller hat dem Rasterzellensystem nicht nur auf ungewöhnliche Weise direkt bei der Arbeit zugeschaut. Es hat ihm auch gezielt Aufgaben gestellt, um herauszufinden wie es funktioniert: "Im Gegensatz zu Navigationsstudien haben Probanden in unserer Studie Bilder betrachtet. Das waren zahlreiche Bilder von ganz normalen Alltagsszenen, beispielsweise Bilder von einem Keller, Bilder von einem Haus."
    Auch beim Betrachten dieser Bilder ist das Rasterzellensystem aktiv. Das bedeutet: Das Rasterzellensystem fungiert nicht nur als Navigationsinstrument, sondern bildet die Grundlage für verschiedene mentale Funktionen. Ein Befund, den Studien anderer Wissenschaftler bereits nahe gelegt hatten. Für Professor Doeller markiert das einen Paradigmenwechsel in der Kognitionswissenschaft: "Ich denke die Kernelemente sind, dass man nach übergreifenden, zusammenhängenden Prinzipien sucht. Und nicht mehr so sehr in verschiedenen Bereichen denkt, also im Gedächtnisbereich, im Navigationsbereich, im Wissensbereich. "
    Zusammenhang zwischen Rasterzellensystem und Demenz
    So könnten Verluste der Gedächtnis- und Navigationsfähigkeit auf Schäden im Rasterzellensystem zurückzuführen sein. Zwei Symptome, die typisch für Demenzerkrankungen sind, so Doeller: "Dieser Zusammenhang ist, glaube ich, ganz zentral, dass wir diesen Zusammenhang verstehen, zwischen Rasterzellsystem und Demenzerkrankungen."
    Auch dafür braucht es Instrumente, die das Rasterzellensystem direkt im Gehirn ablesen können. So wie die Elektroden im Kopf von Epilepsiepatienten.