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Geiselnahmen
Mit Terroristen reden

In seinem neuen Buch "Reden. Reden? Reden! Spricht man mit Terroristen?" beschreibt der niederländische Journalist Frank Westerman terroristisch motivierte Geiselnahmen. Zum Beispiel die nur wenig bekannten Anschläge der südmolukkischen Minderheit in seiner Heimat.

Von Matthias Bertsch | 10.10.2016
    Der niederländische Journalist und Autor Frank Westerman, aufgenommen bei einer Veranstaltung in Berlin.
    Der niederländische Journalist und Autor Frank Westerman stellt in seinem neuen Buch die Frage, ob Worte gegen Gewalt helfen. (imago / gezett)
    "Meine Schwester hat sich neben mich gestellt. Plötzlich beginnen in allen Räumen die Scheiben in ihren Halterungen zu tanzen. Ein Düsenjäger nach dem anderen heult durch den Morgenhimmel, es ist noch zu dunkel, um sie sehen zu können. Wie viele mögen es sein?"
    Frank Westerman ist zwölf, als die niederländische Regierung im Juni 1977 eine seit fast drei Wochen andauernde Zugentführung in der Nähe seines Heimatortes Assen im Nordosten der Niederlande gewaltsam beendet. Die Geiselnehmer werden im Morgengrauen durch den Lärm tieffliegender Kampfflugzeuge abgelenkt, der Zug wird gestürmt, fast alle Täter – junge Molukker, dazu später mehr - werden erschossen. Der "dutch approach", der bislang auf Gespräche statt Gewalt gesetzt hat, findet hier sein Ende.
    Einblicke in persönliche Erinnerungen
    Westerman hat mit "Reden. Reden? Reden! Spricht man mit Terroristen?" ein Buch geschrieben, das sich durch seinen reportagehaften und essayistischen Stil auszeichnet: Der Journalist und Buchautor besucht ein Deeskalationstraining für Spezialkräfte, trifft ehemalige Attentäter und Unterhändler und nimmt an einer simulierten Flugzeugentführung teil. Dabei gibt er immer wieder Einblicke in seine eigenen Gedanken.
    "Als ich 19 war, saß ich zusammen mit ein paar Freunden auf einem verregneten Pflasterweg vor der Zufahrt zum Luftwaffenstützpunkt Woensdrecht, um die Ankunft von Marschflugkörpern zu behindern. Es erschien ein Trupp der Mobilen Einheit mit angeleinten Hunden, packte uns am Kragen, zog uns unter dem Gebell der Hunde auseinander und führte uns ab. Sie standen auf der falschen Seite, nicht wir."
    Doch mit der Zeit hat sich seine Einstellung geändert. Das wird deutlich, als ihn die gleiche mobile Einheit im Rahmen der simulierten Flugzeugentführung aus der Hand der Geiselnehmer befreit.
    "Der Unterschied besteht nicht darin, dass ich 30 Jahre älter bin; der Unterschied ist der, dass ich in den uniformierten, behelmten Männern jetzt Beschützer sehe."
    Westerman beschreibt seine eigene Entwicklung vom links-revolutionären Studenten, der Geld für die Aktion "Waffen für El Salvador" sammelt, zu einem liberal-konservativen Verfechter des Rechtsstaates, der Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele ablehnt. Man könnte daraus die Schlussfolgerung ziehen, "mit Terroristen spricht man nicht!", doch das greift zu kurz. Der Staat darf sich von Terroristen nicht erpressen lassen, davon ist Westerman überzeugt, aber er darf sich auch nicht auf eine gnadenlose Politik der Stärke beschränken wie Wladimir Putin.
    Westerman, der lange Zeitungskorrespondent in Moskau war, lässt keinen Zweifel daran, dass er die Reaktionen des russischen Präsidenten auf die tschetschenischen Massengeiselnahmen unter Schamil Bassajew für falsch hielt: Allein bei der Erstürmung der Schule in Beslan im September 2004 kamen mehr als 300 Geiseln ums Leben. Der den Geiselnahmen zugrundeliegende Konflikt in Tschetschenien ist bis heute nicht gelöst.
    Keine Alternative zum Reden
    Letztlich, macht Westerman deutlich, gibt es zum Reden keine Alternative, vor allem dann, wenn Terroristen auch ein berechtigtes Anliegen verfolgen, so wie die Molukker in den Niederlanden, denen mehr als die Hälfte des Buches gewidmet ist. Ihre Geschichte ist für die deutschen Leser auch deswegen so spannend, weil sie hierzulande kaum bekannt ist.
    Die Molukker, die Bewohner einer Inselgruppe im indonesischen Archipel, hatten bereits im 17. Jahrhundert den protestantischen Glauben der niederländischen Kolonialherren angenommen und erwiesen sich als loyale Soldaten der Krone. Nach dem Zweiten Weltkrieg kämpften sie an der Seite der Niederlande gegen die nach Unabhängigkeit strebenden Indonesier. Nach der Niederlage wollten sich die Molukker nicht in die neue indonesische Armee eingliedern lassen. Sie stritten für einen eigenen Staat, die unabhängige Republik der Südmolukken, kurz: RMS. Um eine Eskalation zu vermeiden, ließ die ehemalige Kolonialmacht die Soldaten und ihre Familien – insgesamt fast 13.000 Menschen - in die Niederlande bringen und dort auf unbestimmte Zeit in Lagern kasernieren. Die Alten arrangierten sich mit den Verhältnissen, die Jungen dagegen begehrten Anfang der 70er-Jahre auf, später entführten sie Züge und besetzten Konsulate. Doch während die klassischen Befreiungsbewegungen von Studenten und Intellektuellen viel Solidarität erfuhren, erhielten die molukkischen Terroristen wenig Verständnis.
    "Die Legitimierung von Gewalt durch Ideologen wie Herbert Marcuse und Jean-Paul Sartre erstreckt sich nicht auf die ‘reaktionären‘ Molukker. Ihre Väter haben im Namen des Hauses Oranje den Freiheitskampf Indonesiens unterdrückt, und nun stürmen die Söhne in das indonesische Konsulat, um die RMS-Flagge aus dem Fenster zu hängen. Ihr Streben nach Unabhängigkeit fällt aus dem Rahmen linker Denkmuster.”
    Molukkische Anschläge in den Niederlanden
    Insgesamt fünf Geiselnahmen führten die Molukker zwischen 1975 und 1978 in den Niederlanden durch – Westerman beschreibt sie so detailliert, als wäre er dabei gewesen. Die ersten Geiselnahmen wurden durch Gespräche beendet, die letzten beiden mit Gewalt. Aber die Härte des Staates war nicht die einzige Antwort der Politik: die Regierung legte gezielte Förderprogramme für die oft diskriminierten Molukker auf, und: sie bot ihnen Reisen in die Heimat ihr Väter an. Viele kamen von diesen Fahrten ernüchtert zurück: Auf Ambon, der Hauptinsel der Molukken, herrschte keine revolutionäre Stimmung, sondern schlicht Armut. Und noch etwas kam dazu:
    "Vielleicht das Wichtigste: Die Niederlande erkannten das Unrecht an, das den Molukkern widerfahren war. Diese Anerkennung ließ lange auf sich warten, doch 1985 erhielten die noch lebenden ehemaligen Soldaten der Königlich Niederländisch Indischen Armee zum Dank für ihre Kriegsdienste eine Gedenkmedaille und eine kleine Kriegsrente.”
    Nach 1978 gab es keine molukkischen Terrorakte mehr, das sei dem niederländischen Ansatz zu verdanken: Während Geiselnahmen keine Zugeständnisse machen, aber sonst "reden, reden, reden" und sich mit der Motivation der Terroristen beschäftigen. Doch was Westerman in punkto Molukker gleichermaßen spannend wie hintergründig beschreibt – als Niederländer hat er einen besonderen Bezug zu vielen Protagonisten von damals - bleibt mit Blick auf andere terroristische Gruppierungen allgemein und oberflächlich. Der Verlag wirbt zwar mit dem Satz "Eine packende Reportage über eines der drängendsten Probleme unserer Zeit" für das Buch, aber gerade über das Phänomen, das zur Zeit weltweit den größten Schrecken verbreitet, den islamistischen Terror, und die Motive seiner Unterstützer, erfährt man so gut wie nichts.
    Frank Westerman: "Reden. Reden? Reden! Spricht man mit Terroristen?"
    Ch. Links Verlag, 272 Seiten, 20 Euro.