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Geiß

Stephan Detjen |
    DLF: Der Bundesgerichtshof, das Gericht, dem Sie, Herr Präsident Geiß, vorstehen, ist zuständig für das gesamte Straf- und für das Zivilrecht. In beiden Rechtsgebieten haben wir in letzter Zeit ehrgeizige, und zum Teil seit langer Zeit vorbereitete Reformenprojekte erlebt, zum Beispiel im Familienrecht. Wir können in den entsprechenden Abschnitten des Bürgerlichen Gesetzbuches heute lesen, daß die Kindererziehung gewaltfrei sein soll, daß ein Elternteil das Ansehen des anderen bei dem gemeinsamen Kind nicht beschädigen soll. Das sind ja Verhaltensregeln, die früher vorstaatliche Institutionen geregelt haben - die bürgerliche Moral, kirchliche Moralvorstellungen. Heute wird der Staat gerufen. Sind das Beispiele, die uns zeigen, daß die Verrechtlichung unseres Lebens noch lange nicht am Ende ist, sondern noch massiv voranschreitet?

    Geiß: Herr Detjen, der Zustand ist folgender, daß jedem Recht vorgelagert Verhal-tensnormen existieren - der Moral, der Ethik, im gesellschaftlichem Bereich, in Familie - die stilbildende Verhaltensregeln sind. In dem Maße, in dem sich so etwas auflöst, bleibt das Recht allein und muß das Recht - in gewissen Grenzen - substituierend tätig sein. Gesellschaftliche Strukturen lösen sich auf, Individualität verlangt ihr Recht. Die Dinge werden plural in den Wertauffassungen, und das Recht kann dann nur einen Minimalkonsens vorgeben als Regelung und durchsetzen als Regelung. Dieser Trend ist ganz sicher spürbar bei uns.

    DLF: Sie sprechen von Auflösung vorstaatlicher Regelungssysteme und Wertsysteme. Muß man das in anderen Bereichen nicht vielleicht sogar noch krasser formulieren? Wenn wir etwa ins Strafrecht blicken: Es wurde ein Straftatbestand geschaffen 'Vergewaltigung in der Ehe'. Der Schutz von Kindern vor sexuellen Mißhandlungen - gerade auch in den Familien - mußte verstärkt werden. Muß man da nicht sagen: Es haben andere Regelungs- und Wertordnungen versagt?

    Geiß: Man weiß das alles so genau nicht. Faktum aber ist, daß das Recht nur so weit greift, als es über das geschriebene Recht, also über die Strafdrohung hinaus, Wirkung hat. Man gewinnt wenig, wenn in Gesetzen neue Strafdrohungen etabliert werden und sie wirken nicht durch auf die Verhaltenssteuerung. Das Verhalten ändert sich wenig.

    DLF: Es wird ja nicht nur über Verschärfung von Strafnormen diskutiert, sondern - gerade in den Parteien, die jetzt die neue Regierung bilden werden - auch über die Frage, ob man Strafnormen aus bestimmten Bereichen, nämlich dem Bereich der sogenannten 'Bagatelldelikte', zurückdrängen kann, das Stichwort hier ist die Behandlung von Ladendiebstählen als Ordnungswidrigkeitstatbestände. Kritiker sagen: Genau dadurch werde das Recht an Regelungskraft verlieren, es würde die Grenze zwischen Unrecht und Recht verwischt werden.

    Geiß: Also, ich muß Ihnen sagen, daß ich mich schwertue - gefühlsmäßig schwertue -, das Diebstahlsverbot an der unteren Verwirklichungsgrenze - dem massenhaften kleinwertigen Ladendiebstahl - das Diebstahlsverbot als Kriminalgebot - aufzugeben. Damit würde ich mich schwertun, und ich würde darin eine weitere Position sehen, in der wir klare Verhaltensgebote und klare Gewichtungen zurücknehmen. Eine andere Frage ist, daß man mit dem Ladendiebstahl in der Sache, also in der Ermittlung und in der Reaktion, sicher nicht weiterhin so wird umgehen können, wie bisher.

    DLF: Herr Präsident Geiß, es ist ein grundsätzliches Dilemma des Rechtsstaats, der einerseits zu einem immer universelleren Leitsystem rechtliche Normen formuliert, andererseits aber eine Fülle von Einzelfällen effizient regeln muß. Hat man es da nicht auch mit einer Überforderung des Rechts und des Rechtsstaats sowie seiner Institutionen zu tun?

    Geiß: Man muß vorsichtig sein mit dem Ausdruck 'Überforderung'. Faktum aber ist, daß eines der Grundleiden der Rechtsordnung Überdifferenzierung, Kompliziertheiten, mangelnde Überschaubarkeit, mangelnde Rechtsklarheit, mangelnde Transparenz dessen, was die Rechtsordnung verlangt, darstellt. Nun darf man sich nicht vorstellen, daß es das Ideal des überschaubaren, einfachen, einleuchtenden und für jedermann greifbaren Rechts geben kann. Aber man muß sich bemühen, der Rechtsordnung mehr wieder den Wert der Rechtsüberschaubarkeit, der Rechtsklarheit, auch der Rechtsanwendungsgleichheit zu sichern. Das ist eine ganz wesentliche Zielsetzung.

    DLF: Kann sich denn ein Gericht wie das Ihre, Herr Geiß, überhaupt noch dem Bürger, der von den Entscheidungen dieses Gerichts in seinem täglichen Leben betroffen ist, unmittelbar verständlich machen?

    Geiß: Die Vorstellung, daß obergerichtliche Urteile sozusagen so geschrieben sein können, daß der gebildete Laie die Rechtssätze mühelos nachvollziehen können, ist wahrscheinlich eine Illusion, war auch schon immer eine Illusion. Hans Vogel hatte mal gesagt: 'Eine moderne Rechtsordnung muß sich damit begnügen, daß diejenigen, die den Rechtsanwendungsapparat tragen - die rechtsberatenden Berufe - versteht, und als Übersetzer für den Mandanten tätig sein kann'.

    DLF: Auch das Bundesverfassungsgericht hatte ja in den letzten Jahren immer wieder sehr deutlich und offensichtliche Probleme damit, sich den Bürgern verständlich zu machen. Es hat heftige Diskussionen gegeben um Urteile, die zumindest zum Teil auch in der Öffentlichkeit, vermittelt durch die Medien, mißverstanden worden sind. Jetzt geht man dort, in Ihrer Nachbarschaft, Herr Präsident Geiß, in die 'Medienoffensive', wenn man so will. Am kommenden Dienstag wird zum ersten Mal die Verkündung eines Verfassungsgerichtsurteils - in diesem Fall über das bayerische Abtreibungsrecht - live im Fernsehen übertragen. Bricht da ein Tabu in der Justiz, nämlich es ziehen Kameras in den Gerichtssaal ein? Könnten Sie sich vorstellen, daß das auch in Ihrem Bereich der Gerichtsbarkeit - vielleicht sogar in diesem Haus, im Bundesgerichtshof - ein Beitrag dazu sein könnte, Recht und Rechtsprechung verständlicher zu machen?

    Geiß: Ich denke, für die ordentliche Gerichtsbarkeit, also für das Strafverfahren und für das Zivilverfahren, sollte das Verfahren als solches - ja beim Bundesverfassungsgericht derzeit nicht geht - ohne die Kontrolle durch die Medien stattfinden, weil sich alles Prozeßverhalten der Prozeßbeteiligten vor der Kamera beispielsweise, oder vor dem Mikrophon, ändert. Ein Prozeß, in dem Presse anwesend ist - filmend oder tonaufnehmend -, ist ein Prozeß, der voll der Befangenheit und voll der Außensteuerung der Beteiligten stattfindet. Und das würde die Qualität des Prozeßgeschehens - im Zivil- oder wie im Strafprozeß - ändern, so daß ich nicht denke, daß im Prozeß, in der Hauptverhandlung, im Strafverfahren oder in der mündlichen Verhandlung im Zivilprozeß, sinnvollerweise Medien - tonaufnehmend oder bilderaufnehmend - gestattet sein sollen. Wie das mit der Urteilsverkündung ist, ist eine offene Frage. Dort ist ja der Prozeß im Prinzip abgeschlossen, so daß es mir durchaus denkbar erschiene, daß man Urteilsverkündungen - die Veröffentlichung durch Urteilsverkündung - der Presse zugänglich machen könnte. Gewiß aber muß sein, daß die Presse nicht filmen darf und nicht Tonaufnahmen machen darf vom laufenden Prozeß, im Strafverfahren und im Zivilverfahren. Wie es mit der Urteilsverkündung ist, wird man sehen müssen.

    DLF: Herr Präsident Geiß, der Rechtsstaat ist mit der Wiedervereinigung vor ganz besonderer Herausforderung gestellt worden. Es ist vor einigen Jahren auch hier in diesem Haus, im Bundesgerichtshof, intensiv und kontrovers darüber diskutiert worden, ob man nicht selbst den Standort im 'fernen Westen der Republik' aufgibt und in das Gebäude des ehemaligen Reichsgerichts in Leipzig umzieht. Rückblickend gefragt: Hätte man das Gefühl der Fremdheit, das viele Ostdeutsche immer noch gegenüber dem komplizierten und oft als kühl empfundenen Rechtsstaat haben, dadurch nicht doch etwas mildern können?

    Geiß: Ich denke eigentlich, daß man die Frage verneinen kann. Derzeit ist der Bundesgerichtshof mit einem Senat in Leipzig, mit dem Fünften Strafsenat. Er ist noch immer - im Jahre 1998 - das erste Teilgericht, das in den neuen Bundesländern ist. Alle anderen Obersten Gerichtshöfe des Bundes, die in die neuen Bundesländer umgesetzt werden, werden nicht früher als 2001/2002 dort präsent sein. Die Fremdheit der Rechtssysteme ist sicher ein Faktum, sicher aber auch ein unvermeidliches Faktum. Es gab gesellschaftlich ganz andere Entwicklungen, rechtlich ganz andere Entwicklungen in den ehemaligen Bundesländern wie bei uns. Und es kann doch nicht ausbleiben, daß der Transfer einer so hoch differenzierten Rechtsordnung, wie der westdeutschen Rechtsordnung, auf die neuen Bundesländer dort zu Friktionen führt. Und es kann doch niemanden erstaunen, wenn all das Neue und auch all das Hochformalisierte - all das, was man die Formel 'wir haben Gerechtigkeit erwartet und den Rechtsstaat bekommen' ausfüllt - daß das da ist. Das kann nicht ausbleiben. Die Frage ist, ob man Teile des Rechtssystems, das in der DDR geherrscht hat, ob man Teile davon hätte übernehmen können, ob man die Übergänge der Rechtsordnungen fließender hätte gestalten können. Aber das ist Historie. Und man muß doch auch die Frage stellen, ob sich unsere westdeutsche Bevölkerung in allen Teilen unserer westdeutschen Rechtsordnung geborgen fühlt und unbesehen statt des Rechtsstaats Gerechtigkeitsgefühle entwickelt. Das ist ja bei uns auch hoch differenziert.

    DLF: Wenn man allein die Zahl von Prozessen betrachtet, die bis hier nach Karlsruhe durchgefochten werden und diese Zahl als Gradmesser für den Entwicklungsstand von Rechtsbewußtsein und Rechtsverständnis in den neuen Bundesländern nimmt, dann müßte man ja darauf schließen, daß der Rechtsstaat dort immer mehr Akzeptanz findet. Immer mehr Prozesse kommen aus den neuen Bundesländern hier zu Ihnen an den Bundesgerichtshof. Die Deutschen scheinen sich also in Sachen Streitlust immer mehr aneinander anzunähern.

    Geiß: Herr Detjen, das ist natürlich ein sehr kurzes Maß, zu sagen: 'in dem Quantum, in dem das Prozessieren sich dem Stand im Westen annähert, in dem Maß ist der Rechtsstaat akzeptiert oder ist die Rechtsordnung akzeptiert'. Aber lassen wir es einmal gelten. Dann ist Faktum, daß zunächst die Inanspruchnahme der Gerichte in den neuen Bundesländern relativ langsam angelaufen ist und sich erst allmählich auf das Niveau einpendelt, das wir - bezogen vielleicht auf 100.000 Einwohner im Westen - gewohnt sind. In etwa seit 96/97 gleichen sich die Prozeßintensitäten in den neuen Bundesländern und in den westlichen Bundesländern an. Daraus kann man jedenfalls entnehmen, daß das Gerichtssystem und daß die Inanspruchnahme des Rechtsschutzes im Prozeß der Angeleichung fast nachgekommen ist.

    DLF: Die wachsende Inanspruchnahme von Gerichten führt bei Ihnen hier in Karlsruhe zu ganz konkreten Belastungen. Der BGH leidet, wie fast alle Gerichte in Deutschland, unter seiner Überlastung. Sie haben sich bei Ihrem Amtsantritt, Herr Präsident Geiß, vorgenommen, Ihren Kollegen hier in diesem Bereich Entlastung zu verschaffen. Wie weit sind Sie denn damit vorangekommen?

    Geiß: Also, die Frage, wie man im Zivilrecht das Revisionsrecht besser regelt als es derzeit geregelt ist, ist ungelöst, und ich bin in dieser Frage über Anfänge, Vorschläge hinaus nicht vorangekommen. Man kann hoffen, daß in der neuen Legislaturperiode des Bundestags die Frage, wie man den Gerichtsgang insgesamt strukturiert, mit am Beginn steht und - sehr grundlegend - aufgegriffen wird. Und in diesem Zusammenhang gehört natürlich auch die Frage: Wie wird der Zugang zur Revision in Zivilsachen neu geregelt.

    DLF: Es liegt ja der konkrete Vorschlag auf dem Tisch, den Richtern - auch hier am Bundesgerichtshof - mehr Freiheit bei der Entscheidung darüber zu lassen, welche Fälle sie überhaupt zur richterlichen Entscheidung annehmen. Ähnliches wird auch am Bundesverfassungsgericht diskutiert. Wenn man das nun in der Zusammenschau nimmt: Besteht da nicht doch Grund zur Sorge, daß dem Bürger hier zugunsten richterlicher Ermessensentscheidungen ein Stück von doch existentiellem Rechtsschutz genommen wird?

    Geiß: Das denke ich nicht, weil in beiden Gerichten - weder beim Bundesverfassungsgericht noch bei uns - darum geht, daß man eine richterlich freie Ermessensausübung hinsichtlich dessen, was man annimmt und was man nicht annimmt, in Betracht steht. Das ist ein sehr gebundenes Ermessen, das durch Rechtsbegriffe strukturiert ist, und es wird nicht - beim BGH zum Beispiel - angestrebt, daß wir einen freien Zugriff auf das haben sollen, was wir annehmen und was wir nicht annehmen.

    DLF: Wo können Sie denn - aus Ihrer Erfahrung heraus - konkrete Punkte sehen, wo Rechtsschutz zurückgedreht werden könnte, ohne daß der Anspruch der Bürger auf Rechtsprechung durch den Staat dabei beschädigt wird?

    Geiß: Also, gehen wir es mal der Reihenfolge nach durch. Nehmen wir einmal die Zivilgerichtsbarkeit: Dort ist es so, daß Sie im ersten Rechtszug, in dem die Masse der Rechtsstreitigkeiten anfällt, einen Rechtsschutz haben, den Sie nicht weiter einschränken können. Bei uns werden in der Bundesrepublik bei allen Amtsgerichten im Jahr etwa 1,7 Millionen Rechtsstreitigkeiten gemacht. Die Hälfte all dessen, was beim Amtsgericht entschieden wird - nahezu die Hälfte all dessen - hat kein Rechtsmittel. Die andere Hälfte kann ins Rechtsmittel. Dort können Sie - glaube ich - den Rechtsschutz nicht weiter einschränken. Darüber fängt es beim Landgericht an, da sind die Streitwerte über 10.000 DM und höher. Auch dort gibt es keine Rechtsmittel-Hypertrophien. Rein faktisch ist über einem Urteil des Landgerichts, das einen Streitwert hat zwischen 10.000 und 60.000 DM, noch ein Rechtsmittel - nämlich dasjenige der Berufung zum Oberlandesgericht. Aus diesem Streitwertband zwischen 10.000 und 60.000 DM kommt nahezu nichts mehr zum Bundesgerichtshof. Der Bundesgerichtshof ist im Prinzip nur befaßt mit ganz hohen Streitwerten über 60.000 DM. Dort ist das Rechtsmittel relativ breit. Wir bekommen aus diesem hohen Streitwertband beim Bundesgerichtshof zu viele Fälle, gemessen an der Relation zum Streitwertband zwischen 10.000 und 60.000 DM. Und dort ist das Rechtsmittel der Revision aus der Balance gegangen. Das ist eine Frage, an der der Gesetzgeber, an der jeder, der Reformen überlegt, ansetzen muß.

    DLF: Nun ist das Thema 'Justizentlastung' ja auch kurz vor der Wahl noch zu einem Thema im Wahlkampf geworden. Vorschläge wurden in die Schlagzeilen der Medien gerückt. Die Politiker aller Parteien haben sich in Beteuerungen, die Justiz entlasten zu wollen, geradezu überboten. Greifen wir mal zwei Punkte heraus, die auch in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit erregt haben: Das eine war der Vorschlag, die Zuständigkeit für Ehescheidungen auf Notare oder auf die Standesämter zu übertragen. Das andere war die Überlegung, die Zuständigkeit für die Handelsregister auf die Industrie- und Handelskammern zu übertragen. Beides also Vorschläge, die etwas mit Aufgabenkritik zu tun haben. Wie stehen Sie zu diesen Vorschlägen und wie kann man überhaupt Aufgaben der Justiz sinnvoll definieren und überflüssige aussondern?

    Geiß: Also, man muß zu dem gängigen Schlagwort der Notwendigkeit der Justizentlastung vielleicht ein paar Sätze vorwegschicken. Das erste, was man in dieser Fragestellung nun wirklich gründlich überlegen muß, ist das: Was brauchen wir an Rechtsschutzstandard in unserem Land? Das muß definiert sein, und man muß sich klar sein, ob man den Rechtsschutz zurücknehmen will oder ob man den Rechtsschutz im bisherigen Umfang aufrechterhalten will, ihn dann vielleicht anders organisieren kann. Aber die erste Frage ist: Was soll der Rechtsschutzstandard sein in der Republik, soll er zurückgenommen werden oder soll er bleiben? Und dann muß man sich die Frage stellen, ob der Aufwand, den wir für den jetzigen Rechtsschutz brauchen, ob der zu hoch ist oder ob er nicht zu hoch ist. Die Frage ist völlig offen. Die Justiz nimmt im gegenwärtigen Zeitpunkt relativ wenig Ressourcen des Staates in Anspruch und gewährleistet einen Rechtsschutzstandard, der in Ordnung ist . . .

    DLF: . . . der aber auch als Luxus bezeichnet wird, der durchaus an vielen Stellen abspecken kann. Kommen wir noch einmal auf die Frage der Aufgabenkritik zu sprechen, die wir jetzt etwas aus dem Auge verloren haben. Die Vorschläge 'Ehescheidung', 'Registerführung' - inwieweit sehen Sie denn da Spielräume, auch da zu Entlastungen zu kommen?

    Geiß: Also, ich denke, daß die Ehescheidung in die Hand des Richters gehört. Die Ehe, vor allem wenn Kinder da sind, und die Scheidung der Ehe ist ganz sicher nicht handhabbar durch notariellen Akt. Es sind Beratungserfordernisse, es sind Prüfungserfordernisse da, die man entweder gleich macht in der Hand des Richters, oder die man - wenn es Mißstände gibt - nachmachen muß. Also, ich denke nicht, daß es eine durchgreifliche Idee ist, die Ehescheidung sozusagen durch Formalakt dem Standesbeamten zu übertragen oder dem Notar zu übertragen. Das - denke ich - ist kein guter Weg. Eine ganz andere Frage ist - und da muß sich die Justiz natürlich der Aufgabenkritik schon stellen -, daß man Teile dessen, was nicht prozeßentscheidend ist, also was nicht Prozeßgeschehen ist, Streitgeschehen ist, daß man solche Teile abschichten kann. Beispielsweise denke ich, daß kein Einwand dagegen besteht, im Registerwesen zurückzugehen. Man kann die Handelsregister aus der Justiz herausnehmen, man kann sie Körperschaften übertragen, die die Gewähr dafür übernehmen, daß die Register ordentlich geführt sind. Das Registerwesen als solches ist keine Kernaufgabe - verfassungsrechtliche Kernaufgabe -, die die Rechtsprechung machen muß.

    DLF: Der politische Streit über die Frage der Handelsregister, über die wir jetzt gesprochen haben, hat ja dazu geführt, daß noch kurz vor der Wahl ein anderer Vorschlag zur Entlastung der Justiz, der an sich auf breitester Akzeptanz stieß, im Vermittlungsausschuß zwischen Bundestag und Bundesrat gescheitert ist, nämlich der Versuch, mehr Streitigkeiten von den Gerichten auf außergerichtliche Streitschlichtungsstellen zu übertragen. Wird da nicht auch sichtbar, daß die Rechtspolitik in einer krisenhaften Situation steckt, denn alle Bemühungen der letzten Jahre um Entlastung der Justiz sind ja doch, insbesondere in diesen Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern, immer wieder zerrieben worden. Der große Wurf ist der Rechtspolitik trotz einhelliger Analyse der Problemlage bisher nie gelungen.

    Geiß: Lassen Sie mich zur Streitschlichtung vielleicht zunächst etwas ganz Konkretes sagen: Streitschlichtung ist ein durchaus wichtiges Thema. Nur können Sie Sreitschlichtung nicht mit Zwang durchführen. Also die Vorstellung, daß man ein obligatorisches Streitschlichtungsverfahren voranstellt, ist im Prinzip nur die Etablierung einer weiteren Instanz im streitig bleibenden Fall. Streitschlichtung hat eine Freiwilligkeit in sich. Und alle Streitschlichtungsinstitutionen, die auf dieser Freiwilligkeit arbeiten, arbeiten gut, aber sie können das nicht verordnen - und schon gleich nicht, wenn die Streitschlichtung - die Verordnung der Streitschlichtung - in der Gefahr steht, daß sie teuerer wird als der ganze Prozeß. Insofern war der Ansatz eines guten Gedankens ein bißchen eng und zwanghaft gemacht. Und dann kann man nicht Streit schlichten in einem Bundesland und in fünf anderen nicht, sonst löst sich die Rechtsordnung organisatorisch wieder auf. Insofern ist dieser Ansatz ein bißchen kurzatmig gewesen. Man muß drüber nachdenken, aber man sollte, wenn Streitschlichtung gemacht wird, sie auf der freiwilligen Basis machen und man sollte sie entweder gar nicht oder überall machen. Sonst gewinnt man nicht viel, was die Sreitschlichtung anbelangt. Faktum ist, daß alle Aktivitäten zur großen Entlastung der Justiz nicht sehr viel weitergeführt haben, weil die Interessenlagen zwischen den Bundesländern teils unterschiedlich sind, vor allem aber die Interessenlagen zwischen den Bundesländern und dem Bund eine Einigung auf eine große Lösung nicht ermöglicht haben. Vieles davon liegt aber daran, daß man bisher Entlastung nur punktuell verstanden hat als Verkürzung des Verfahrensinstrumentes. Wir haben materiell wenig dazu beigetragen, daß sich die Zahl der Prozesse, daß sich die inhaltlichen Befassungen der Justiz verringert haben, sondern wir haben uns bisher immer damit befaßt, das Justizinstrument am einen oder anderen Punkt relativ punktuell einschränken zu wollen. Und daraus ergibt sich ein Mosaik von Einzelregelungen, aber kein Gesamtbild. Also: Wer die Justiz entlasten will, muß schon sehr viel grundsätzlicher noch einmal an diesen Punkt gehen, über den wir schon sprachen - nämlich strukturieren, wie der Gerichtsgang sein soll, und dann in einer zweiten Phase sich Gedanken machen, wie er organisiert sein soll. Das ist der Ansatz, und das führt dann auch vielleicht raus aus diesen immer punktuellen Kleinmosaik-Regelungen, die kein Gesamtbild mehr geben.