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Geißler kritisiert CDU/CSU-Vorschläge zur Gesundheitsreform

Durak: CDU und CSU haben sich auf einen eigenen Vorschlag zur Gesundheitsreform geeinigt. Ein Kompromiss in sich. Zu welchem Preis aber? Ihr Gesundheitsexperte Horst Seehofer lehnt das Papier oder wichtige Teile ab, sprach von einer Privatisierungsorgie und soll mit Rückzug aus der Fraktionsspitze gedroht haben, und auch in anderen dringend auf den Weg zu bringenden Reformen, Renten, Steuern bis hin zu Europa ist aus der Union unterschiedliches zu hören, viele Einzelvorschläge. Wo aber ist denn ihre Agenda, wenn man den Begriff übernehmen will? Verpasst die Union ihre Chance, als Opposition der Agenda 2010 von Rot-Grün eine echte, eine schlagkräftige Alternative entgegenzusetzen? Am Telefon ist Heiner Geißler, Sozialexperte der CDU. Herr Geißler, verpasst die Union diese Chance oder schafft sie es nur nicht, überzeugend ihre Alternative darzubieten?

    Geißler: Nein, sie verpasst die Chance im Moment, denn was sie jetzt vorschlägt, ist eben keine Alternative, sondern eine Variante zu dem, was die Regierung will.

    Durak: Was also beklagen Sie am Reformkonzept der Union für die Gesundheitsreform?

    Geißler: Dasselbe, was ich auch bei der Regierung beklage. Die Vorschläge sind keine Reformen, sondern eine Streichliste, und sie gehen am Kern des Problems vorbei. Natürlich kann man in einer Übergangszeit solche Lösungen ins Auge fassen, aber dann muss ich gleichzeitig das langfristige oder mittelfristige Ziel angeben. Das Kernproblem in der Krankenversicherung, im Übrigen auch in der Rentenversicherung, besteht darin, dass die Finanzierungen dieser solidarischen System abhängig gemacht werden und abhängig sind von Beiträgen, die ausschließlich und allein vom Lohn berechnet werden. Steigt die Zahl der Arbeitslosen, sinkt die Zahl der Beitragszahler. Dadurch entstehen die Finanzlücken. Dann müssen die Beiträge wieder erhöht werden, das heißt, die Lohnnebenkosten steigen, dann werden wieder Arbeitsplätze abgebaut und so entsteht ein Teufelskreis, aus dem man sich befreien muss. Weder die Vorschläge der Regierung noch die Vorschläge der Union leisten diese Aufgabe.

    Durak: Weshalb versagt die Union in diesem Punkt, wenn ich Sie so interpretieren darf?

    Geißler: Die Union verpasst diese Chance, eine echte Strukturreform als Alternative vorzuschlagen. Die eigentliche Strukturreform besteht eben darin, dass man vom Lohn wegkommen muss. Man muss die sozialen Sicherungssysteme unabhängig von den Lohnnebenkosten machen, und das geht eben nur durch eine Volksversicherung oder eine Bürgerversicherung, wie wir sie zum Beispiel mit großem Erfolg in der Schweiz haben.

    Durak: Und weshalb reagiert die Unionsspitze so? Was denken Sie?

    Geißler: Ich glaube, dass die Unionsspitze zu ängstlich ist, sich mit bestimmten durchaus mächtigen Interessen anzulegen. Dazu gehört der ganze Bereich der Privatversicherung, obwohl dies völlig unnötig ist. In der Schweiz ist die ganze Krankenversicherung nur privatversicherungsrechtlich aufgebaut. Allerdings haben die Versicherungen alle bestimmte Pflichten zu leisten; sie können nicht machen, was sie wollen. Und zweitens, wenn ich dem Prinzip folge, alle zahlen von allem für alle, dann bedeutet dies natürlich zum Beispiel in der Rentenversicherung, dass Leute, die viel verdienen, überproportional höhere Beiträge in die Rentenversicherung einbezahlen, als sie nachher als Grundrente bekommen. Das heißt, es ist eine Umverteilung von oben nach unten, aber eben dies ermöglicht eine ausreichende Finanzierung und funktioniert infolgedessen hervorragend. In der Schweiz zum Beispiel ist der Millionär und Zigarrenfabrikant Villiger, der gleichzeitig Finanzminister in der Schweiz ist, Mitglied der gesetzlichen Rentenversicherung und bekommt eine Grundrente am Ende der oberen Skala in dem dynamischen Bereich der Grundrente, die ausgezahlt wird. Der Durchschnitt ist höher als bei uns die Eckrente in der Arbeiterrentenversicherung zu einem Beitragssatz für die Arbeitgeber von 5 Prozent - das müssen Sie sich einmal vorstellen - und bei uns ist es mehr als das Doppelte.

    Durak: Sie unterstützen ja Horst Seehofer in diesen Punkten, Bürgerversicherung und ähnliches. Nun hat Seehofer als Fraktionsvize den eigenen Leuten eine scheidende Ohrfeige verpasst, mit Rücktritt gedroht. Heute wird gemeldet, er werde nicht zurücktreten, man bemühe sich um ihn. Wir werden sehen, was am Ende dabei rauskommt. Kann die Union tatsächlich auf einen Mann wie Seehofer verzichten?

    Geißler: Also, man kann immer Dummheiten begehen, das ist richtig, davor ist niemand gefeit - auch eine Fraktionsführung oder Parteiführung nicht. Ich würde es auch für einen schweren Fehler halten. Ich bin der Auffassung, da darf man sich jetzt nicht rausbringen lassen. Auch Seehofer kann sich daran erinnern, dass es anderen auch so gegangen ist. Ich bin auch schon mit Vorschlägen in der Minderheit gewesen, als wir den Kündigungsschutz für berufstätige Frauen vorgeschlagen haben Anfang der 80er Jahre, also berufstätige Frauen, die ein Kind bekommen, nannte man damals Erziehungsurlaub oder die Anerkennung von Erziehungsjahren. Aber Franz-Josef Strauß hat auf einen Landesparteitag der CSU erklärt, das sei sozialistisches Gedankengut. Nur fünf Jahre später haben wir die Sache verabschiedet. Wenn ich in einer Minderheitenposition bin, dann kann daraus auch ohne weiteres eine Mehrheit werden, und ich sage voraus, es führt an dieser Bürgerversicherung überhaupt kein Weg vorbei. Die Union steht eigentlich nur vor der Alternative, entweder so weiter zu wursteln wie die Regierung und dann eben den Zug der Zeit zu verpassen, und zwar endgültig, auch für die nächste Bundestagswahl, oder eben mit einer klaren Alternative die Leute zu überzeugen.

    Durak: Die klare Alternative fehlt, sagen Sie. Zeigt sich in diesen Reformfragen nicht, dass die großen entscheidenden Parteien in Deutschland in diesen Sachen handlungsunfähig sind, also keinen Ruck in Deutschland, nicht mal ein Rückchen, nur wirre Zuckungen?

    Geißler: Ja, in diesem Punkt ganz sicher. Es ist vor allem eben ein Missbrauch des Wortes "Reform". Man kann ja diese "Reformhuberei" überhaupt nicht mehr ertragen. Es ist vielleicht jetzt die 40. oder 45. Reform, die vorgeschlagen wird, aber es ist eben keine Reform, sondern es ist eine Liste willkürlicher Streichungen, und man unterschätzt eben auch die Leute. Die Leute sind ja bereit, auch Opfer zu bringen, auch Kürzungen hinzunehmen, aber da müssen zwei Bedingungen erfüllt sein. Erstens, dass sie das Gefühl haben, dass es gerecht zugeht, und zweitens, dass sie den Sinn der Sache begreifen. Die Alternative, die immer wieder vorgeschlagen wird, also von den Wirtschaftsredaktionen der FAZ oder der Süddeutschen Zeitung, ist natürlich für eine Volkspartei überhaupt nicht akzeptabel. Die Privatisierung der medizinischen Leistungen zum Beispiel bedeutet nichts anderes als eine Ausgrenzung der Menschen. In England kriegen Leute, die älter als 80 Jahre sind, keine Bypass-Operation, kein künstliches Hüftgelenk, und in Amerika sind 50 Millionen überhaupt nicht krankenversichert, mit schweren Schäden für die gesellschaftliche Entwicklung in diesen Ländern. Von Amerika kann man einiges lernen, aber diese Dinge kann man von Amerika nicht lernen, wie die gesamte negative gesellschaftliche Entwicklung in Amerika beweist.

    Durak: Vielen Dank für das Gespräch.

    Link: Interview als RealAudio