Donnerstag, 25. April 2024

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Geistliche Begleitung in evangelischer Kirche
Raus aus der spirituellen Wüste

Die evangelische Kirche werde in Deutschland zum verlängerten Arm politischer Parteien, sagen Kritiker. Aber es gibt auch einen anderen Trend: Evangelische Christen setzen immer mehr auf "geistliche Begleitung". Werden sie frommer? Oder lassen sich Politik und Gebet nicht trennen?

Von Carsten Dippel | 30.10.2019
Und der HERR zog vor ihnen her, des Tages in einer Wolkensäule, dass er sie des rechten Weges führte, und des Nachts in einer Feuersäule, dass er ihnen leuchtete zu Reisen Tag und Nacht. [2. Mose 13, 21]
Dieses urbiblische Motiv ist heute das Leitbild eines Angebotes der Evangelischen Kirche, das immer mehr an Bedeutung gewinnt: Die Geistliche Begleitung. Eine Urgestalt der Seelsorge, wie Astrid Giebel sagt, Theologin im Vorstandsbüro der Diakonie Deutschland.
"Gott erleben wir oft als verborgenen Gott. Der geredet hat in früheren Zeiten, das haben Menschen aufgeschrieben, daraus ist die Bibel entstanden. Aber sie erleben es manchmal nicht in ihrem eigenen Leben, im Alltag, in Fragen, die sie beschäftigen."
Geistliche Beziehungsarbeit
Im Unterschied zur klassischen Seelsorge, wo der Ratsuchende mit seinen ganz persönlichen Sorgen und Nöten im Mittelpunkt steht, gehe es bei der geistlichen Begleitung um die Vertiefung der Gottesbeziehung.
"Vielleicht ist das ähnlich wie bei unserer katholischen Schwesterkirche, dass diese geistliche Trockenheit gespürt wird. Dass die Einzelnen in ihrem Glaubensleben ein bisschen Wüste erleben. Oder dass sie auch in ihrer Kirchengemeinde das als Wüste erleben. Dass der Nachwuchs ausbleibt, dass die Gottesdienste jetzt nicht brummen und gut besucht sind und dass sie für sich selber einfach neu nach Orten, nach Quellen suchen, wo das Ursprüngliche, das Lebendige am christlichen Glauben wieder emporquillt sozusagen."
Tatsächlich geht die Krise der Kirchen als Institution, die dramatisch an Mitgliedern verlieren, auch an den evangelischen Christen nicht vorbei. Wo ist Gott in dieser Welt, fragen sich manche Christen, die mit den althergebrachten, institutionalisierten und starren Formen des kirchlichen Alltags nicht selten ihre Schwierigkeiten haben. Mirjam Appel:
"Es ist tatsächlich so, dass mir in den letzten Jahren Schweigen, meditative Vertiefung, Gebet, aber auch Gesänge immer wichtiger geworden sind. Vieles, was ich so im traditionellen Gottesdienst nicht automatisch finde. Und damit ich mich tatsächlich auch in kleineren Gemeinschaften, die viel meditieren, die viel schweigen und vielleicht nicht so wortlastig sind, wie vielleicht oft die Gemeinde oder ein Sonntagsgottesdienst ist, mich tatsächlich wohler fühle."
Seelsorge und Meditation
Einen solchen Ort hat Mirjam Appel, die bei Brot für die Welt arbeitet, im Berliner Stadtkloster gefunden. In diesem evangelischen Backsteinbau an der Schönhauser Allee erlebte sie Gottesdienste, die etwas mehr Raum lassen für eigene Gedanken. Die Angebote des Stadtklosters finden viel Anklang. Es gibt die Möglichkeit von Seelsorge und Meditation. Viel Wert wird auf Musik und Gesang gesetzt. Inzwischen macht Appel selbst eine Ausbildung zur geistlichen Begleiterin.
"Weil ich Menschen, ohne es vielleicht so genannt zu haben, ja schon geistlich begleitet habe. Also wirklich Menschen, die in einer spirituellen Krise waren, die etwas sehr Schlimmes erlebt haben und jemanden brauchten, um darüber zu reden, aber auch zum Beten. Und ich hatte dann gedacht, als ich dieses Angebot gesehen habe, das wäre doch etwas, um noch Werkzeug an die Hand zu bekommen."
Eine Geistliche Begleitung trägt ganz unterschiedliche Elemente in sich. Es ist zunächst ein Gespräch zwischen Begleiter und Begleiteten. Es geht um Glaubensfragen, um spirituelle Praxis. Viel Raum wird der Stille eingeräumt, dem Gebet. Wie lang der Prozess einer geistlichen Begleitung läuft, ist dabei individuell. Eine Begleitung kann einige wenige Male stattfinden oder sich über ein Jahr hinziehen. Matthias Linke ist Pastor der evangelisch-freikirchlichen Gemeinde im Berliner Szenebezirk Bergmannkiez. Er hat sich ausbilden lassen zum Geistlichen Begleiter.
"Der Begleitungssuchende, er bringt seine Themen mit, er stellt seine Fragen und darauf geht der geistliche Begleiter angemessen ein, indem er dem Begleitsuchenden das Wort, die Auswahl der Thematik überlässt und immer wieder versucht, wo Gott ins Spiel gebracht werden kann. Durch Rückgriff auf persönliche Erfahrung in der Vergangenheit und Gegenwart. Dass man einfach auch Stille einbaut und sagt, wir sind jetzt mal still und gucken, was passiert und was da hochkommt."
Einige Male im Jahr trifft sich Pastor Linke für einen halben Samstag mit einer kleinen Gruppe im Kloster Lehnin. Aus der Bibel wird ein bestimmter Text gemeinsam gelesen, man tauscht sich darüber aus. Auch für Astrid Giebel ist das Kloster westlich von Berlin ein wichtiger Rückzugsort:
"Dass ich zur Ruhe kommen kann, da sind Räume, wo ich tatsächlich Erfahrung mit Gott mache."
Wiederentdeckte Tradition
Als im Jahr 2013 im Raum der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg/Schlesische Oberlausitz die Ausbildung erstmals angeboten wurde, war das, genau genommen, die Wiederentdeckung einer verschütteten Tradition. Die katholische Kirche kennt es von jeher. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben auch in der evangelischen Kirche nach und nach kommunitäre Formen und klösterliches Leben neuen Raum gefunden. Alte geistliche Traditionen, an die man anknüpfen konnte. Schon Martin Luther habe schließlich in Johann von Staupitz einen geistlichen Begleiter gehabt, sagt Andrea Richter, Landespfarrerin für Spiritualität. Der Reformator habe auch ganz klar in der mystischen Tradition gestanden und davon gesprochen, dass Gott im Herzen des Menschen lebendig sei. Richter:
"Das ist ja eigentlich der Wesenskern der reformatorischen Entdeckung, dass da keine Kirche dazwischen passt und kein Ablasshandel dazwischen muss. Sondern dass Luther ganz klar sagt, also Gott ist ein ganzer Backofen voller Liebe und Gott ist mir näher als meine eigene Halsschlagader. Und dass das etwas ist, diese Innerlichkeit, diese Unmittelbarkeit, die er für sich neu entdeckt hat."
Die Suche nach Innerlichkeit, nach Rückzug aus einer Welt der permanenten Überforderung und Lautstärke, die Suche nach Besinnung, Achtsamkeit, all das sind Elemente, die viele Menschen in den westlichen Gesellschaften in fernöstlichen Spiritualitätsformen finden. Andrea Richter weiß um die Parallelen und doch sieht sie in der christlichen Form der Innerlichkeit noch ein anderes Motiv. Es gehe nicht um Weltvergessenheit oder Weltabgewandtheit. Im Gegenteil.
"Ora et labora bei den Benediktinern. Kontemplation und die Weltverantwortung. Das Beten und das Tun des Gerechten bei Martin Buber. Bei Dorothee Sölle, der feministischen Theologin, ist es das Begriffspaar der Mystik und des Widerstandes. Also eine Spiritualität, eine Mystik, ein geistlicher Weg, der nicht immer wieder an der Seite der Armen, der Geschändeten, der notleidenden Welt und der Kreatur auftaucht, wird in der christlichen Tradition ganz klar als ein Holzweg beschrieben. Mystik ist nicht dazu da, dass ich mich dauerhaft in mich selbst und in Gott versenke. Sondern es ist wie das Einatmen und das Ausatmen. Die Systole und Diastole. Das gehört zusammen."
In diesem Sinne, so Richter, sei die Reformation im Grunde die Wiederentdeckung der verschütteten, auf den biblischen Quellen basierenden mystischen Tradition, die wiederum in der Folge der Reformation nicht in dem Maße zum Tragen gekommen sei, wie Luther es gewollt hätte. Die Evangelische Kirche werde mit Elementen wie der geistlichen Begleitung ein Stück frommer, spiritueller, ist sich Richter sicher.
"Wir werden mit der geistlichen Begleitung nicht neukatholisch, sondern aufs Neue biblisch. Also wir gründen uns in der geistlichen, spirituellen Schrifttradition, die vom ersten Buchstaben an da ist, die sich in der Kabbala entfaltet hat. Also das ist keine Re-Katholisierung, sondern das ist, 'sola scriptura', ein neu sich gründen im göttlichen Wort."
Bislang sind in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg/Schlesische Oberlausitz mehr als 50 Geistliche Begleiter ausgebildet worden. Als Andrea Richter vor mehr als sieben Jahren ihr Amt als Spiritualitätsbeauftragte antrat, war das mit dem ausdrücklichen Wunsch der Landeskirche verbunden, dies in die Ausbildungsstrukturen zu implementieren. Stärkere Formen der Spiritualität wurden lange beargwöhnt und für viele Gemeindemitglieder ist diese urchristliche Tradition, die ihre Wurzeln im Judentum hat, noch unbekanntes Terrain. Die Ausbildungskurse finden unter anderem im Kloster Lehnin und im katholischen Kloster Birkenwerder statt - und das aus gutem Grund, denn die geistliche Begleitung ist auch ein Ausdruck gelebter Ökumene. Andrea Richter leitet ihren Kurs gemeinsam mit Pater Reinhard. Für sie ist das Konzept der geistlichen Begleitung zukunftsweisend.