Jochen Fischer: Wir schreiben das Jahr 1968. Am 30. Mai verabschiedet der Bundestag die Notstandsverfassung. Darin ist unter anderem geregelt, wie die Institutionen der Bundesrepublik zum Beispiel im Verteidigungsfall arbeiten sollen. Und dass der bald vor der Tür stehen könnte, daran glaubte im Mai so recht noch niemand. Doch dann kam der August und für die Bundeswehr galt plötzlich erhöhte Verteidigungsbereitschaft. Der Grund waren die Vorkommnisse hinter dem Eisernen Vorhang. In der Tschechoslowakei - kurz CSSR genannt - waren die Truppen der Warschauer-Pakt-Staaten einmarschiert und hatten die kommunistische Reformbewegung, den so genannten Prager Frühling, niedergeschlagen. Wie groß war die Kriegsgefahr in jenen Tagen wirklich? Darüber möchte ich mit General a.D. Manfred Eisele sprechen. Guten Morgen, Herr Eisele.
Manfred Eisele: Grüß Gott, Herr Fischer.
Fischer: Danke, dass Sie mit uns schon so früh sprechen wollen. Heute vor genau 40 Jahren, kann ich mir vorstellen, waren Sie um diese Zeit vielleicht schon lange wach, oder?
Eisele: Ja, durchaus, weil der Einmarsch in die Tschechoslowakei ja schon in der Nacht vom 20. zum 21. begonnen hatte und das war in einigen Bereichen eben auch in der Bundeswehr bekannt geworden.
Fischer: Sie waren in Sonthofen stationiert als Hauptmann. Was war dort Ihre Aufgabe?
Eisele: Ich war damals Ausbilder an der Heeresunteroffizierschule, aber gleichzeitig Teilnehmer an der Vorauswahl für die Generalstabsausbildung und deswegen ein früher Hörer des Deutschlandfunks.
Fischer: Um diese Uhrzeit jetzt vor 40 Jahren, da war ja hinter der Grenze zur CSSR im Grunde genommen schon alles gelaufen. Die Truppen des Warschauer Paktes drangen ja seit Mitternacht ein. Es war eine gewaltige Armada. Allein mehrere Tausend Soldaten waren daran beteiligt und ganz zu schweigen von Tausenden Panzern, Geschützen und Flugzeugen. Wann haben Sie denn davon wirklich erfahren, was da los war?
Eisele: Für die Bundeswehr, für die NATO geschah das ganze ja nicht als eine überraschende Entwicklung, sondern war die absehbare Reaktion auf den Prager Frühling durch den Warschauer Pakt - insbesondere eben auf Veranlassung von Breschnew und dem Scharfmacher Ulbricht, die das als Konterrevolution bezeichnet haben, was andere einen Prager Frühling nannten. Es hatte bereits im Juni in der Tschechoslowakei durch Truppen des Warschauer Paktes eine große Übung unter der Bezeichnung "Šumava" gegeben. Etwa 100.000 Truppen waren dort mit Einverständnis der Tschechoslowakei tätig gewesen und hatten aber - das war etwas besonderes, was die NATO auch alarmiert hat - die Tschechoslowakei nicht komplett wieder verlassen, sondern hatten insbesondere Fernmeldeeinrichtungen und Radareinrichtungen auf dem Boden der Tschechoslowakei belassen. Dann begann unmittelbar danach eine Großübung, die "Dunai", Donau hieß, zu der abermals Truppen in die Tschechoslowakei verlegt haben.
Fischer: So weit die militärischen Fakten von damals, Herr Eisele. Aber wie würden Sie Ihre Stimmung persönlich beschreiben in dieser Nacht, in der Sie und Ihre Kameraden waren?
Eisele: Wir waren natürlich sozusagen hoch gespannt, weil sich das in unmittelbarer Nähe auch der Einsatzräume meiner 4. Panzergrenadierdivision, also im Osten Bayerns, in der Oberpfalz, in Niederbayern abspielte. Die unmittelbare Reaktion der NATO war eigentlich sehr verhalten, denn während wir jungen Offiziere damals damit rechneten, wir müssten möglicherweise aufmunitionieren und vielleicht auch schon in Auflockerungsräume außerhalb unserer Kasernen ziehen, war davon überhaupt nicht die Rede. Es schien so, als ob die politische Führung in der NATO, aber auch in der Bundesrepublik das ganze, die Gefährdungssituation sozusagen herunterspielen wollte.
Fischer: Hatten Sie persönlich Angst vor einem Krieg, vor einer Auseinandersetzung?
Eisele: Nein, nicht unbedingt. Wir waren allerdings der Meinung, dass wir die möglichen Grenzverletzungen, die dann zu einer unmittelbaren Gefährdung auch von NATO-Territorium hätten führen können, durch entsprechend frühzeitige Reaktionen unterlaufen sollten, waren aber gleichzeitig auch in der Vorbereitung auf eine lange schon geplante Heeresübung, die Übung "Schwarzer Löwe", die in Ostbayern stattfinden sollte. Hier ist ziemlich rasch eingegriffen worden durch die Politik. Verteidigungsminister Gerhard Schröder und der Generalinspekteur Ulrich de Maizière haben seinerzeit den kommandierenden General des zweiten Korps General Thilo zu sich gerufen und haben befohlen, noch vor dem 20. August die Übung nicht in Ostbayern, sondern in Baden-Württemberg stattfinden zu lassen, weil die Warschauer-Pakt-Staaten angefangen hatten, diese in den deutschen Medien ja auch bekannt gegebene Übung "Schwarzer Löwe" für ihre Propaganda auszunutzen und so zu tun, als sei die Übung "Schwarzer Löwe" in Deutschland eine Unterstützung der "Konterrevolutionäre" in der Tschechoslowakei.
Fischer: Egon Bahr, der spätere Architekt der Ostverträge, war damals sehr besorgt. In Prag hat Bahr dem Deutschlandfunk gestern folgendes gesagt:
Bahr: Sind wir ganz sicher, dass dieser Aufmarsch nicht plötzlich einen Schwenk nach rechts macht und weitergeht, also gegen die Bundesrepublik? Das war der Hauptpunkt der Sorge, nichts anderes.
Fischer: So weit also Egon Bahr. 1968 war er im Planungsstab des Auswärtigen Amtes tätig. - Was wäre denn gewesen, Herr Eisele, wenn es diesen Rechtsschwenk, wie Bahr gesagt hat, gegeben hätte?
Eisele: Es gab ganz konkrete Maßnahmen, allerdings im Grunde genommen nur in Süddeutschland. Der Oberbefehlshaber der "central army group", der amerikanische General Polk, und der deutsche kommandierende General des zweiten Korps in Ulm, General Thilo, haben eine Erhöhung der Alarmbereitschaft befohlen - allerdings eben nur in Süddeutschland. Das bedeutete Ende der Wochenendurlaube. Die NATO hat erst Tage später ihre Einsatzbereitschaft erhöht mit der Erklärung der Stufe "Military Vigilance". Und der bayerische Ministerpräsident Goppel hat seinerzeit gebeten, während der Übung, die dann allerdings erst im September stattfand, die Grenzsicherung gegenüber der Tschechoslowakei wahrzunehmen. Dazu wurde die erste Gebirgsdivision aus ihren Standorten sozusagen an die Ostgrenze Bayerns zwischen Hof und Passau verlegt.
Fischer: Rückblickend betrachtet aus der Routine des aktiven Soldaten, wie weit oder wie nah waren wir in jenen Tagen an der Schwelle zu einem Krieg?
Eisele: Im Grunde genommen wären die militärischen Maßnahmen des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei auch als Angriffsvorbereitungen möglich gewesen. Da die Zielrichtung aber eben quasi innerhalb des Bereiches der Tschechoslowakei und damit des Warschauer Paktes blieb und damit die eingeschränkte Souveränität der Breschnew-Doktrin erstmals praktiziert wurde, hat man das im Westen rasch als keine unmittelbare eigene Gefährdung betrachtet.
Fischer: General a.D. Manfred Eisele war am 21. August _68 Soldat in Bayern, als die Truppen des Warschauer Paktes in dessen Nachbarland Tschechoslowakei einmarschiert sind. Vielen Dank für Ihre Schilderungen.
Manfred Eisele: Grüß Gott, Herr Fischer.
Fischer: Danke, dass Sie mit uns schon so früh sprechen wollen. Heute vor genau 40 Jahren, kann ich mir vorstellen, waren Sie um diese Zeit vielleicht schon lange wach, oder?
Eisele: Ja, durchaus, weil der Einmarsch in die Tschechoslowakei ja schon in der Nacht vom 20. zum 21. begonnen hatte und das war in einigen Bereichen eben auch in der Bundeswehr bekannt geworden.
Fischer: Sie waren in Sonthofen stationiert als Hauptmann. Was war dort Ihre Aufgabe?
Eisele: Ich war damals Ausbilder an der Heeresunteroffizierschule, aber gleichzeitig Teilnehmer an der Vorauswahl für die Generalstabsausbildung und deswegen ein früher Hörer des Deutschlandfunks.
Fischer: Um diese Uhrzeit jetzt vor 40 Jahren, da war ja hinter der Grenze zur CSSR im Grunde genommen schon alles gelaufen. Die Truppen des Warschauer Paktes drangen ja seit Mitternacht ein. Es war eine gewaltige Armada. Allein mehrere Tausend Soldaten waren daran beteiligt und ganz zu schweigen von Tausenden Panzern, Geschützen und Flugzeugen. Wann haben Sie denn davon wirklich erfahren, was da los war?
Eisele: Für die Bundeswehr, für die NATO geschah das ganze ja nicht als eine überraschende Entwicklung, sondern war die absehbare Reaktion auf den Prager Frühling durch den Warschauer Pakt - insbesondere eben auf Veranlassung von Breschnew und dem Scharfmacher Ulbricht, die das als Konterrevolution bezeichnet haben, was andere einen Prager Frühling nannten. Es hatte bereits im Juni in der Tschechoslowakei durch Truppen des Warschauer Paktes eine große Übung unter der Bezeichnung "Šumava" gegeben. Etwa 100.000 Truppen waren dort mit Einverständnis der Tschechoslowakei tätig gewesen und hatten aber - das war etwas besonderes, was die NATO auch alarmiert hat - die Tschechoslowakei nicht komplett wieder verlassen, sondern hatten insbesondere Fernmeldeeinrichtungen und Radareinrichtungen auf dem Boden der Tschechoslowakei belassen. Dann begann unmittelbar danach eine Großübung, die "Dunai", Donau hieß, zu der abermals Truppen in die Tschechoslowakei verlegt haben.
Fischer: So weit die militärischen Fakten von damals, Herr Eisele. Aber wie würden Sie Ihre Stimmung persönlich beschreiben in dieser Nacht, in der Sie und Ihre Kameraden waren?
Eisele: Wir waren natürlich sozusagen hoch gespannt, weil sich das in unmittelbarer Nähe auch der Einsatzräume meiner 4. Panzergrenadierdivision, also im Osten Bayerns, in der Oberpfalz, in Niederbayern abspielte. Die unmittelbare Reaktion der NATO war eigentlich sehr verhalten, denn während wir jungen Offiziere damals damit rechneten, wir müssten möglicherweise aufmunitionieren und vielleicht auch schon in Auflockerungsräume außerhalb unserer Kasernen ziehen, war davon überhaupt nicht die Rede. Es schien so, als ob die politische Führung in der NATO, aber auch in der Bundesrepublik das ganze, die Gefährdungssituation sozusagen herunterspielen wollte.
Fischer: Hatten Sie persönlich Angst vor einem Krieg, vor einer Auseinandersetzung?
Eisele: Nein, nicht unbedingt. Wir waren allerdings der Meinung, dass wir die möglichen Grenzverletzungen, die dann zu einer unmittelbaren Gefährdung auch von NATO-Territorium hätten führen können, durch entsprechend frühzeitige Reaktionen unterlaufen sollten, waren aber gleichzeitig auch in der Vorbereitung auf eine lange schon geplante Heeresübung, die Übung "Schwarzer Löwe", die in Ostbayern stattfinden sollte. Hier ist ziemlich rasch eingegriffen worden durch die Politik. Verteidigungsminister Gerhard Schröder und der Generalinspekteur Ulrich de Maizière haben seinerzeit den kommandierenden General des zweiten Korps General Thilo zu sich gerufen und haben befohlen, noch vor dem 20. August die Übung nicht in Ostbayern, sondern in Baden-Württemberg stattfinden zu lassen, weil die Warschauer-Pakt-Staaten angefangen hatten, diese in den deutschen Medien ja auch bekannt gegebene Übung "Schwarzer Löwe" für ihre Propaganda auszunutzen und so zu tun, als sei die Übung "Schwarzer Löwe" in Deutschland eine Unterstützung der "Konterrevolutionäre" in der Tschechoslowakei.
Fischer: Egon Bahr, der spätere Architekt der Ostverträge, war damals sehr besorgt. In Prag hat Bahr dem Deutschlandfunk gestern folgendes gesagt:
Bahr: Sind wir ganz sicher, dass dieser Aufmarsch nicht plötzlich einen Schwenk nach rechts macht und weitergeht, also gegen die Bundesrepublik? Das war der Hauptpunkt der Sorge, nichts anderes.
Fischer: So weit also Egon Bahr. 1968 war er im Planungsstab des Auswärtigen Amtes tätig. - Was wäre denn gewesen, Herr Eisele, wenn es diesen Rechtsschwenk, wie Bahr gesagt hat, gegeben hätte?
Eisele: Es gab ganz konkrete Maßnahmen, allerdings im Grunde genommen nur in Süddeutschland. Der Oberbefehlshaber der "central army group", der amerikanische General Polk, und der deutsche kommandierende General des zweiten Korps in Ulm, General Thilo, haben eine Erhöhung der Alarmbereitschaft befohlen - allerdings eben nur in Süddeutschland. Das bedeutete Ende der Wochenendurlaube. Die NATO hat erst Tage später ihre Einsatzbereitschaft erhöht mit der Erklärung der Stufe "Military Vigilance". Und der bayerische Ministerpräsident Goppel hat seinerzeit gebeten, während der Übung, die dann allerdings erst im September stattfand, die Grenzsicherung gegenüber der Tschechoslowakei wahrzunehmen. Dazu wurde die erste Gebirgsdivision aus ihren Standorten sozusagen an die Ostgrenze Bayerns zwischen Hof und Passau verlegt.
Fischer: Rückblickend betrachtet aus der Routine des aktiven Soldaten, wie weit oder wie nah waren wir in jenen Tagen an der Schwelle zu einem Krieg?
Eisele: Im Grunde genommen wären die militärischen Maßnahmen des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei auch als Angriffsvorbereitungen möglich gewesen. Da die Zielrichtung aber eben quasi innerhalb des Bereiches der Tschechoslowakei und damit des Warschauer Paktes blieb und damit die eingeschränkte Souveränität der Breschnew-Doktrin erstmals praktiziert wurde, hat man das im Westen rasch als keine unmittelbare eigene Gefährdung betrachtet.
Fischer: General a.D. Manfred Eisele war am 21. August _68 Soldat in Bayern, als die Truppen des Warschauer Paktes in dessen Nachbarland Tschechoslowakei einmarschiert sind. Vielen Dank für Ihre Schilderungen.