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Generalstreik in Venezuela

Ensminger: Der Generalstreik in Venezuela ging gerade in die zweite Woche. Präsident Chávez gerät immer mehr unter Druck. Die Opposition fordert, er solle zurücktreten, und gestern hieß es dann auch, die Regierung sei zu Gesprächen über einen Zeitplan für Präsidentschaftswahlen bereit. Doch die Opposition ist skeptisch, drohte die Streiks solange fortzusetzen bis Chávez wirklich zurückgetreten ist. Der Generalstreik trifft vor allem die Ölindustrie des Landes, die Haupteinnahmequelle Venezuelas, und auch der Export von Flüssiggas könnte in Gefahr sein, nachdem sich die Arbeiter einer wichtigen Schmelzhütte dem Streik angeschlossen haben. Die Anhänger des Präsidenten stürmten gestern einen Fernsehsender. Büros weiterer Sender wurden umstellt. Eine verfahrene Situation, in der das Land steckt. Wie muss man sich das also vorstellen? Das wollte ich vor der Sendung von Michael Lingenthal wissen, Landesbeauftragter der Konrad-Adenauer-Stiftung für Venezuela in Caracas.

    Lingenthal: Die Situation ist zum Zerreißen gespannt. Die Anhänger der Regierung Chávez haben sich als Hauptattacke in der Nacht die Medien ausgesucht und haben in einer koordiniert landesweiten Aktion nicht nur in Caracas, sondern in allen Regionen private Fernseh- und Rundfunksender bedroht und angegriffen und eigene Sendungen laufen lassen. In Mérida - das ist eine Andenprovinz - hat man ebenfalls einen privaten Sender belagert, und Bischof Porras, der Erzbischof der Stadt und Vorsitzender der Bischofskonferenz, hat heute öffentlich bezeugt, dass die Bedrohung des Privatsenders in Mérida von dem ehemaligen Gouverneur, der ein ehemaliger Mitputschist von Chávez 1992 war, von dort ausgegangen ist.

    Ensminger: Das heißt also Generalstreik einerseits, aber es gibt auch noch Anhänger. Wer sind denn die Anhänger von Chávez?

    Lingenthal: Die Anhänger von Chávez sind seine sehr gut organisierten verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Es sind die sogenannten círculos bolivarianos, die sicher nicht alle gewalttätig und gewaltbereit sind. Viele verstehen ihre Aufgabe als ein soziales Projekt. Das sind verschiedene Frentes - Chávez nimmt ja die bolivarianische Revolution sehr ernst und hat einen gesellschaftlichen Koordinierungsrat geschaffen -, und es sind natürlich die Parteien, die noch im Chávez-Bündnis stehen. Insgesamt kann man sicherlich sagen, dass Präsident Chávez über mindestens eine Million gut organisierter Anhänger verfügt.

    Ensminger: Aber es hört sich so an, als wären das hauptsächlich Menschen aus den eher sozial schwächer gestellten gesellschaftlichen Bereichen.

    Lingenthal: Da hat er seinen Rückhalt, weil Chávez, als er 1998 kandidierte, diesen Menschen Hoffnung und Stimme gegeben hat, was eigentlich wichtig ist. Er hat sie zum ersten Mal wirklich in der Politik beteiligt. Bei aller Problematik, die wir haben, hat er immer noch um die 25 Prozent Rückhalt in der Bevölkerung. Die Oppositionsparteien sind 16 an der Zahl und haben insgesamt zwar rund drei Viertel des Landes unter sich, aber jede einzelne immer noch weniger als die Partei von Präsident Chávez.

    Ensminger: Wie geht es denn der Bevölkerung? Wie schlimm ist die wirtschaftliche Situation?

    Lingenthal: Die wirtschaftliche Situation hat sich verschlechtert. Die Inflation dieses Jahres hat 30 Prozent erreicht, so dass die Bevölkerung tatsächlich weniger hat und der Verarmungsprozess der Bevölkerung sich weiter fortgesetzt hat. Der Streik jetzt unmittelbar hat Auswirkungen, aber es ist schon erstaunlich, wie die Streikfront jeden Tag weiter wächst, wie Menschen im großen Durchschnitt bereit sind, auch die Einschränkungen zu tragen, wobei jetzt für Lebensmittel und Grundversorgung die Streikfront bewusst geöffnet wurde, damit die Bevölkerung in der zweiten Woche des Generalstreiks wieder ihre Vorräte auffüllen kann.

    Ensminger: Wäre denn dem Land mit einem Rücktritt beziehungsweise Neuwahlen geholfen?

    Lingenthal: Ja, selbstverständlich. Wir sind in einer Lage, in der es seit April eigentlich schon keine Regierungstätigkeiten mehr gibt, in der das Land ohne Führung dahin trudelt, in der die Revolution verschärft wird und immer mehr abgelehnt wird, und das Land braucht eine Entscheidung. Wenn es so ist, wie Präsident Chávez immer sagt, dass er die Mehrheit hinter sich hat, und er bekommt die Mehrheit in Wahlen, dann ist das auch eine Entscheidung, die wichtig ist, damit das Land wieder zu innerem Frieden findet, denn wir haben ja nicht nur eine politische Zerrissenheit, sondern wir haben Gewalt. Sie wissen, dass letzte Woche bei friedlichen Protesten drei Menschen ermordet wurden, 28 verletzt wurden, dass in der Woche davor die Guardia Nacional mit großer Brutalität gegen die Opposition vorging, aber nicht bei der Belagerung der Medien die círculos bolivarianos des Präsidenten zerstreute. All das muss zum Ende kommen, und das beste und demokratischste sind eben Neuwahlen. Das sagt inzwischen auch ganz offen die OEA und auch Präsident Carter, der mit dem Carter-Zentrum ja mit zu den internationalen Vermittlungsorganisationen gehört.

    Ensminger: Bleiben wir mal dabei. Die Führung in Caracas, so sagt man, habe sich zu Verhandlungen über einen Zeitplan für Neuwahlen bereit erklärt. Das sagt jedenfalls der Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten Gaviria. Glauben Sie denn an Neuwahlen, oder stehen die Zeichen eher auf Putsch?

    Lingenthal: Auf Putsch stehen sie eher seitens des autogolpe (Selbstputsch), das heißt dass der Präsident selber einen Anlass sucht, um mit harter Hand durchzugreifen - er wird ja von seinen eigenen Anhängern immer dahingehend aufgefordert. Die Opposition will sich nicht provozieren lassen. Sie lehnt auch einen Putsch ab. Sie weiß, dass auch das Militär keine Lösung für Lateinamerika ist. Da hat man ja nun in verschiedenen Ländern und Zeiten schlimme Erfahrungen gemacht.

    Ensminger: Nun wissen wir nicht, ob tatsächlich Neuwahlen kommen, aber die Opposition sagt, sie will bis zum Rücktritt von Chávez streiken. Das könnte ja Wochen dauern. Was bedeutet das dann für das Land?

    Lingenthal: Das bedeutet für das Land, dass seine Wirtschaft weiter runtergeht. Ölexporte liegen jetzt schon auf 50 Prozent des Normalniveaus. Im Innland gibt es erhebliche Versorgungsschwierigkeiten, noch nicht mit Strom und Haushaltsgas, weil da noch für drei Wochen Reserven da sind, aber sehr wohl bei Benzin. Ich bin heute Vormittag etwas in die Region gefahren und habe mir das angesehen, wo mir an Tankstellen gesagt wurde, wir erwarten erst morgen Benzin, aber schon heute stellten sich die Leute mit den Autos in die Schlangen, damit sie dann auch wirklich morgen in erster Linie etwas bekommen. Die Opposition sagt, das ist schlimm für das Land, aber noch schlimmer ist eine weitere Fortführung dieser Regierung mit ihrer totalen Unfähigkeit, ihrer internationalen Isolation und der Zerrissenheit und dem Hass, den sie in dieses Land bringt. Deshalb denke ich, wenn man gegen Gewalt ist, und wenn man vor allen Dingen gegen Putsch eintritt - und das sind natürlich auch alle internationale Organisationen, auch wir als Adenauer-Stiftung -, dann muss man den Weg für Neuwahlen freimachen. Das Misstrauen gegenüber Chávez ist eben so tief, dass jetzt schon, gerade nach den Morden in den letzten Wochen, nicht mehr einfach nur Neuwahlen auszureichen scheinen, sondern dass man eben auf den Rücktritt drängt und noch viel mehr: Weil man dem Vizepräsidenten überhaupt nicht traut, fordert man die einzelnen Stimmen der Opposition auf, dass man stattdessen eine Übergangsregierung einsetzt.

    Ensminger: Ist das die Hoffnung, die Sie jetzt sehen?

    Lingenthal: Es ist natürlich die Hoffnung, wenngleich so viel dagegen spricht, dass man an seiner eigenen Hoffnung manchmal zweifeln möchte. Dagegen spricht eben, dass die Chávez-Anhänger erklärt haben, dass sie ihre Aktion auf der Straße, gegen Medien, gegen Gewerkschaften weiterführen werden, dass sie weiter den Generalstreik durchführen werden, der ja eigentlich mit zum Kanon demokratischer Auseinandersetzung gehört, wenn er friedlich und gewaltlos erfolgt, auch wenn er als Terror, als Putsch bezeichnet wird. Also das Land ist eben so tief gespalten, bis in die Sprache hinein, und der Präsident tut nichts aber auch gar nichts, um die Lage zu entspannen und eine Lösung zu erreichen. Wenn er jetzt anfängt und bereit ist, über einen Wahlkalender - das heißt ja noch nicht, dass es gleich Wahlen gibt - zu verhandeln, dann muss er jetzt glaubwürdige Vorschläge vorlegen. Er kann nur ein weiteres Zerreißen des Landes verhindern, wenn er so konkrete Vorschläge vorlegt, mit denen auch die Opposition leben kann, und die vor allen Dingen international in erster Linie durch die OAS auch überprüft werden können. Alles andere wird genau dazu führen, was viele befürchten, dass das Land dann tatsächlich in ein Gewaltszenario endet.

    Link: Interview als RealAudio