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Velimir Chlebnikov: „Werke“
Generalüberholer der Poesie

Ob er den Krieg in Charkiv beschreibt oder die Sprache spielerisch krachen lässt: Velimir Chlebnikovs Werke sind auch einhundert Jahre nach seinem Tod revolutionär.

Von Tobias Lehmkuhl |
Die Neuauflage der "Werke" des russischen Dichters Velimir Chlebnikov
Die Neuauflage der "Werke" des russischen Dichters Velimir Chlebnikov (Buchcover: Suhrkamp Verlag, Hintergrund: Gerda Bergs)
Velimir Chlebnikov, Werke, steht da. Schwarze Schrift auf sandfarbenem Grund, leicht schräg gestellt, der Nachname in sattem Rot. Unten rechts auf dem Cover ein Holzschnitt, der den Autor im Profil zeigt. Passend zum Inhalt eine Verbeugung vor der typographischen Avantgarde zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Jan Tschichold, der große Grafiker und Buchgestalter aus dem Bauhaus-Umfeld, lässt grüßen. Aber nicht nur sieht der Umschlag in seinem Minimalismus toll aus, das Buch liegt auch gut in der Hand. Trotz der fast 1200 Seiten kann man es sogar im Bett lesen.
Allerdings ist es kein neues Buch, das muss gesagt werden, sondern die Wiederauflage einer äußerlich weit weniger ansprechenden zweibändigen Ausgabe, die zuerst 1972, und dann noch einmal 1985 bei Rowohlt erschienen ist. Mit kleinen, aber entscheidenden Unterschieden: Im Nachwort der Neuausgabe berichtet die Essayistin, Übersetzerin und Kritikerin Marie Luise Knott von der spannenden Entstehungsgeschichte der Erstausgabe.

Zwischen Jesus und Nero

Außerdem ist der Neuausgabe ein Gedicht Velimir Chlebnikovs beigegeben, das in der Sowjetunion erst in der Glasnost-Zeit veröffentlicht werden konnte und deswegen nicht Eingang in die von Peter Urban herausgegebene Werkausgabe gefunden hatte. Es heißt „Der Vorsitzende der Tscheka“.
"Er kam, er lacht, zieht Rauch aus seiner Zigarette.
Er kommt erneut und wieder lacht er.
Wieder hat er einen Fang gemacht: weiße Gewehre haufenweis
für weißgewölkte Schießereien.
Er malt das Bild aus, wie die Alten und die Enkel
Gesetzestafeln voller kluger Regeln tragen, Vielecke des
Schicksals:
'Mir scheint, ich bestehe
aus Jesus und aus Nero,
ich weiß in mir die Herzen beider,
zwei Seelen fühle ich in meiner Brust.
Verurteilt war ich schon zum Tode durch Erschießen
dafür, daß Todesurteile
in meiner Arbeit nicht zu finden waren.'

(...)"
In den Jahren der Revolution, wie auch danach, zählt in Russland ein Menschenleben wenig. Von dieser Erfahrung ist das mehrseitige Langgedicht „Der Vorsitzende der Tscheka“ durchzogen. Es geht auf eigene Erfahrungen Velimir Chlebnikovs in Charkow zurück, dem heutigen und wieder schwer umkämpften Charkiw. Damals wechselte, wie Peter Urban in seiner Erläuterung schreibt, die Macht mehrmals zwischen Rot und Weiß, „Morde, Verhaftungen, Plünderungen, Hunger und Terror“ waren an der Tagesordnung.
Chlebnikov hatte sich der Zwangsrekrutierung durch die Flucht in ein Nervensanatorium entziehen können, ein Untersuchungsrichter des Militärtribunals der Roten holte ihn eine Weile später wieder heraus, zog mit ihm zusammen in eine Wohnung und wurde in seinen letzten Lebensjahren sein bester Freund.
Beide teilten sie die Faszination für die Welt der Zahlen, und fasziniert war Chlebnikov offenbar auch vom Lachen und vom Temperament dieses Bolschewiken, denn er diente ihm als Vorbild für jenen „Vorsitzenden der Tscheka“, der zwar nicht töten mag, aber seine Häftlinge beim Verhör doch psychisch piesackt und sie glauben lässt, er würde ihrem Leben gleich ein Ende bereiten, bevor er sie im letzten Moment in die Freiheit entlässt.
Der Vorsitzende will sich aus Liebeskummer selbst umbringen, zum Beweis, wie es im Gedicht heißt, dass er „kein Schlappschwanz“ sei. Doch er tut es nicht, lässt sich selbst wie diejenigen, die er verhört, leben. Anders als seine Kollegen.
"Das Haus der Tscheka stand auf einem hohen Riff aus Lehm
am Rand einer tiefen Schlucht,
die Rückfront blickte in den Abgrund.
Von hier drang nichts, kein Seufzer auf die Straße.
Die Leichen warf man aus dem Fenster in den Abgrund.
Chinesen an den ausgehobenen Gräben warfen Erde drauf.
Müllgruben waren oft der Sarg
und Nägel unterm Fingernagel Schmuck der Männer.
Das Schloß der Tscheka stand am blinden Ende einer großen
Straße am Stadtrand,
umgeben von finsterem Ruhm – ein Schloß des Todes,
am Ende einer Straße mit dem schönen Namen eines Dichters,
den man lieber umschrieb als benannte: das Schweigen von
ihm war stärker als Worte."

Vorsitzender der Erdballs

Die Straße mit dem schönen Namen eines Dichters, war natürlich die Puschkin-Straße in Charkiw. Dort stand das Gebäude der Tscheka.
Chlebnikov schrieb das Gedicht erst zwei Jahre nach seinem Aufenthalt in der umkämpften Stadt. Inzwischen hatte ihn die Revolution nach Persien verschlagen. Dort entstand eine ganze Reihe von Gedichten, in denen er zwar als sowjetischer Imperialist in Erscheinung tritt, die aber zugleich zeigen, wie sehr ihn das persische Sprachumfeld, die persische Kultur faszinierten.
"Seht Perser – hier komme ich
über Sinvat zu euch.
Unter mir die Brücke der Winde.
Ich bin ein Guschedar-mach,
ich bin ein Guschedar-mach, der Prophet
dieses Jahrhunderts und in Händen trage ich
Fraschokereti (die Welt der Zukunft).

(…)

Ich bin Vogu-Mano – ein guter Gedanke,
ich bin Ascha-valista – die höchste Gerechtigkeit,
ich bin Kschatra-vajrija – das gelobte Reich.
Schwören wir bei den Haaren von Gurriet el Ajn,
schwören wir beim goldenen Mund Zarathustras –
Persien werde ein Sowjetland.
So spricht der Prophet!"
So spricht der Prophet – aber wer ist hier der Prophet? Gut möglich, dass sich Chlebnikov selbst als solchen sah. Er verstand sich allerdings weniger als Prophet des Bolschewismus, denn vielmehr als „Vorsitzender des Erdballs“. Davon zeugen einige andere Texte.

Fazination für das Reisen

Wie ernst es ihm damit tatsächlich war, lässt sich schwer sagen, wie man überhaupt schwer sagen kann, wer dieser Velimir Chlebnikov war, zu vielgestaltig ist sein Werk, zu wechselhaft seine Biographie. Selbst für seine Dichterfreunde, für Vladimir Majakowski, Alexander Block oder Viktor Schklowski war er schwer zu fassen, immer unterwegs, angelockt weniger von den exotischen Zielen als vom Reisen selbst.
Diese physische wie dichterische Unruhe hatte auch großen Einfluss auf die Materialität seines Werks. Chlebnikovs Zimmer sei überschwemmt gewesen von Heften, Blättern und Papierfetzen, schreibt Majakowski in seinem Nachruf auf den Freund, und wenn man ihm nicht das eine oder andere gewaltsam entriss, so Majakowski weiter, überarbeitete er es immer und immer wieder oder nähte ganze Manuskriptstapel in Stoff ein, um sie als Kopfkissen zu benutzen und irgendwann zu verlieren.
Chlebnikov sei ein völlig unorganisierter Mensch gewesen, für den ein Gedicht, eine Verserzählung, ein Theaterstück nie endgültigen Charakter gehabt habe.
Trotzdem stellt sich beim Lesen seiner Werke nie der Eindruck ein, es mit Fragmenten zu tun zu haben. Dass Chlebnikow sie nicht als abgeschlossen angesehen hat, ist wohl die Bedingung dafür, dass sie so frei, offen und lebendig wirken.
"Das Heupferdchen
Flügelchend mit dem Goldbrief
aus feinstem Faserwerk,
packte das Heupferdchen seinen Wanst korbvoll
mit Ufernernem: Schilfen und Gräsern
Pinj, pinj, pinj! pardauzte die Roßpappel.
O schwanings.
O aufschein!"

Kinder Chlebnikovs

In diesem kleinen Gedicht über einen Grashüpfer, auch Heupferdchen genannt, zeigt sich nicht nur Chlebnikovs offener und spielerischer dichterischer Ansatz, es ist auch ein wunderbares Beispiel dafür, wie aus einem russischen Gedicht ein deutschsprachiges Gedicht werden kann, wie man also der eigenen dichterischen Persona treu bleibend doch im Geiste des Autors übersetzt. Die zitierte Übersetzung stammt von Paul Celan, es folgt die Version von Oskar Pastior.
"grashupfer
rasch war der golschrieb gefluttert
tupfig sehr ädrigst verbostelt
da lupfte der hupfer den bauchkorb
verbarg er die binsige rupfe
tschiribombös profelurte kikieglitz
o schwansam
teich auf!"
Und hier noch der flinke Grashüpfer Ernst Jandls:

"flüxelnd mitz golsgekrixel
miniminz ädergestricks
drüxt gratzhüpfer in seins bauchs büxel
schilpf und anzer uferblipf
pfilpf, pfilpf, pfilpf! schimpfelt zinziver
beschwan beschwampf
kompf her! kompf her"
1967 hatte Peter Urban, damals Lektor im Suhrkamp Verlag, das Projekt einer Chlebnikov-Werkausgabe ins Auge gefasst und dafür neben Celan, Pastior und Jandl so eminente Dichter wie H.C. Artmann, Friederike Mayröcker, Franz Mon, Gerhard Rühm und Hans Magnus Enzensberger angeschrieben, bis auf Enzensberger alles Dichter, die damals als experimentell galten, die sich mit Dadaismus und Surrealismus auskannten, die selbst konkrete Poesie und Lautgedichte verfassten, und die damit allesamt als Kinder Chlebnikovs gelten konnten.
1968 allerdings verließ Peter Urban Suhrkamp, womit das Projekt erst einmal heimatlos wurde. Nach vielen Gesprächen kam es schließlich bei Rowohlt unter, und zwar so, wie Urban es sich vorgestellt hatte: mit allen Varianten der doppelt und mehrfach übersetzen Gedichte, denn er hatte den Dichtern die Freiheit gelassen, sich selbst jene Texte auszusuchen, die sie am meisten ansprachen.
Der Herausgeber und Übersetzer Urban sowie Rosemarie Ziegler erstellten Interlinearversionen und Wortlisten und übersetzten jene Texte – vor allem im Prosa- und Briefteil – für die sich keine namhaften Nachdichter fanden.
Ihre Wortlisten und Erläuterungen zu den einzelnen Gedichten finden sich im Anhang dieser Ausgabe, nebst einem umfangreichen Nachwort Peter Urbans, der im Jahr 2013 gestorben ist. Darin erläutert er, wie Chlebnikow, dieser sogenannte „Generalüberholer der Poesie“, in seinem eigenen Land fast vergessen und außerhalb davon kaum wahrgenommen wurde – weder entsprachen seine Werke bürgerlichen Vorstellungen von Literatur, noch dem Programm des sozialistischen Realismus. Majakowski nannte ihn einen Dichter für Dichter:
"Von den hundert, die ihn gelesen haben, nannten ihn fünfzig einfach einen Graphomanen, vierzig haben ihn als Unterhaltung gelesen und sich gewundert, weshalb sie von all dem keine Unterhaltung hatten, und nur zehn (die Futuristen-Dichter, die Philologen des 'Opojaz') kannten und liebten diesen Kolumbus neuer poetischer Kontinente, die jetzt von uns besiedelt und urbar gemacht werden."

Poetisches Ping-Pong

In einem Punkt muss man Majakowski allerdings widersprechen: Chlebnikov ist sehr wohl gute Unterhaltung, wahnsinnig gute Unterhaltung sogar. Auch Peter Urban ist dieser Umstand wenn nicht verborgen, so doch einigermaßen fremd geblieben. Zumindest legt er in seinem Nachwort mit bewundernswerter Detailgenauigkeit dar, was aus formaler Sicht so neu war an Chlebnikovs Gedichten, wie sie zum Teil mathematischen Prinzipien unterworfen sind, und vor allem, wie Chlebnikows Arbeit am einzelnen Wort vonstatten ging – kein Dichter hat wohl so viele Neologismen gebildet wie er.
Mag sein, dass eine akademische Beweisführung Anfang der siebziger Jahre als nötig empfunden wurde, um einen praktisch unbekannten Autor und Klassiker beim Publikum durchzusetzen. Mitte der achtziger Jahre allerdings veröffentlichte der Rowohlt Verlag als Marketinggag eine umgekehrte Bestenliste, auf der die Bücher, die sich am schlechtesten verkauft hatten, ganz oben standen. Darunter auch die Chlebnikows.
Dabei dürfte der hintere Verkaufsrang weniger am Dichter selbst liegen, sondern daran, dass man nie deutlich gemacht hat, warum er es wert ist, gelesen zu werden: Weil viele seiner Gedichte schlicht ein großer Spaß sind. Literaturgeschichtlich bedeutend, ja, aber man liest ja abseits der Universitäten nicht für die Literaturgeschichte, sondern um gut unterhalten zu werden, sich anregen zu lassen oder einen neuen, frischen Blick auf die eigene Sprache zu gewinnen.
Nicht umsonst hat Wassily Kandinsky einige von Chlebnikovs Lautgedichten auf einer Soirée im Café Voltaire vorgetragen. Zeitlich gingen sie denen Hugo Balls und Hans Arps sogar voraus. Und nicht zufällig hat Chlebnikov so viele Kurz- und Kürzestdramen geschrieben: Das ist Poesie, die noch heute auf jeder Bühne vorgetragen werden könnte, eine Poesie nicht für den Schreibtisch oder für Innigkeit und Einsamkeit im Lesesessel, sondern eine höchst kommunikative Poesie, die nicht nur die immer in Bewegung befindliche Alltagsprache aufnimmt und weitertreibt, sondern diese Veränderung auch an ein Publikum weiterreichen möchte.
Sprache als Spielball, der hin und her fliegt. Deswegen natürlich ist Chlebnikov ein Dichter für Dichter, weil er sie zum Mitmachen einlädt, genauso wie seine Übersetzer, die, wie Jandl oder Mayröcker, dafür nicht einmal Russisch können müssen. Oder die, wie Peter Urban, zwar Russisch können, aber den Grashüpfer dann doch einfach akustisch und nicht semantisch übersetzen:
"Grill ich Kuh, ja? Soll Otto um…
Dann – TSCH! heisch ich, still!
Kuh s net schick! Kuh soff, puh! Sau! Ulla schielt.
Blieb resch, nich? Mm, no. Gott traf ihr schwer:
Pin-pin-pin, tararach! Null-Sinn, Sie! Wer?!
Oh lebet denn wohl.
Oh Hosen ihr!"
Hier sieht man noch fünfzig Jahre später die Forderung aus Chlebnikovs Manifest des Kubofuturismus bestens umgesetzt: „Wir wollen die Jungfrau des Wortes, in deren Blicken Feuerschnee brennt“, heißt es da. Dabei hat Chlebnikow, dessen Sprachrevolution dem alle Verhältnisse auf den Kopf stellenden Krieg und der gesellschaftlichen Revolution im russischen Schicksalsjahr 1917 vorausging, aus diesen Ereignissen dann wiederum ganz andere Schlüsse für seine Dichtung gezogen.

Hunger und Mathematik

„Das Haus der Tscheka“ wurde schon zitiert, auch in den Persien-Gedichten rückt die politische Lage ganz konkret in die Verse ein, und mit dem Gedicht „Hunger“ hat er eines der anschaulichsten Beispiele für diesen selbst erlebten Zustand während der Revolution gefunden. Erschienen ist es erstmals 1921 in „irgendeiner Krim-Zeitung“, wie Majakowski notiert.
"Warum springen die Elche und Hasen durch den Wald,
und laufen davon?
Die Menschen haben alle Espenrinde aufgegessen,
die grünen Tannentriebe …
Frauen und Kinder streifen durch den Wald
und sammeln Birkenblätter

(…)

Waldesnahrung.
Die Kinder, die Kundschafter des Waldes,
streifen durchs Gehölz,
braten weiße Würmer im Feuer,
Hasenkohl, fette Raupen,
oder große Spinnen – sie sind süßer als Nüsse.

(…)

Vor Hunger laufen sie den Faltern nach:
einen ganzen Sack haben sie gesammelt,
heute wird es Boršč aus Schmetterlingen geben –
Mutter wird ihn kochen."
Neben 400 Seiten Lyrik enthält die deutsche Werkausgabe Velimir Chlebnikovs über 500 Seiten Prosa, darunter Tagebuchauszüge, Briefe an die Familie, Manifeste und auch zahlreiche mathematische Schriften, wobei „mathematisch“ nicht ganz der richtige Begriff ist, eher widmete sich Chlebnikov offenbar zeitlebens einer Art Zahlenmystik, bei der es darum ging, mithilfe von Vielfachen der Zahl 365 zukünftige Ereignisse vorauszusagen.

Ein prophetischer Dichter

So setzte er zahllose Schlachten in Beziehung zueinander und landete mit der Voraussage, dass im Jahr 1917 ein großer Staat zerbrechen würde einen Volltreffer, oder, wie Ungläubige sagen würden, Glückstreffer. Chlebnikov allerdings fühlte sich bestätigt und führte seine Reihen und Listen weiter. Selbst die biographischen Eckpunkte im Leben Nikolai Gogols setzte er in ein Zahlenverhältnis zueinander.
In einer anderen Hinsicht aber war er tatsächlich prophetisch: Was die Entwicklung der Technik anging. Er feierte schon 1921 das gerade aufkommende Radio als Medium der Zukunft, ein Medium, so Chlebnikow, dem wir früher oder später völlig ausgeliefert sein würden. Man braucht in seinem Text nur das Wort „Radio“ durch das Wort „Internet“ zu ersetzen und findet die Situation Anfang der 21. Jahrhunderts absolut treffend beschrieben:
"Das Radio der Zukunft – der wichtigste Baum der Erkenntnis – wird der Wissenschaft eine Fülle von Aufgaben eröffnen und die Menschheit zusammenführen. Neben der Radiohauptstation, diesem Schloß aus Eisen, um das Wolken aus Drähten wie Haare verstreut sind, werden wahrscheinlich ein Knochenpaar, ein Schädel und die bekannte Aufschrift: „Achtung“ zu sehen sein, da die geringste Unterbrechung in der Arbeit des Radios die geistige Ohnmacht des ganzen Landes, den zeitweiligen Verlust seines Bewußtseins verursachen würde. Das Radio wird zur geistigen Sonne des Landes, zu dessen großem Hexenmeister werden."
Doch interessant ist nicht nur, was in der Zukunft sein wird, interessant ist, was bleibt. Und das heißt auch: Was aktuell bleibt. Velimir Chlebnikov ist in jeder Hinsicht hochaktuell geblieben: Dass seine Gedichte aus der Ukraine oder Persien von Ereignissen handeln, die hundert Jahre her sind, ist kaum zu glauben. Sie könnten aus unserer Gegenwart stammen und Vorgänge beschreiben, die heute und oft sogar an denselben Orten stattfinden.
Aber auch seine vor gut hundert Jahren entstandenen sprachexperimentellen und sprachspielerischen Gedichte sind heute ebenso relevant wie damals: Formal wurden sie nicht übertroffen; niemand hat die Sprache so früh im 20. Jahrhundert so durchgeschüttelt und -gerüttelt wie Chlebnikov. Sie sind nach wie vor Vorbild und Inspiration. Man sollte sie, ebenso wie seine Stücke, wieder auf die Bühne bringen. Bis das geschieht, steht es jedem Menschen frei, sie zu lesen.
Velimir Chlebnikov: „Werke“
Herausgegeben von Peter Urban
Suhrkamp Verlag, Berlin.
1168 Seiten, 68 Euro.