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Generation mit Zukunft?
Lebenschancen der heutigen Jugend

Es gibt sie nicht: die Jugend. Denn Jugendsein hat viele Gesichter, bezeichnet unterschiedliche Lebenslagen – so lautet das Fazit des Soziologen Ronald Lutz von der Fachhochschule Erfurt. Lutz ist Mitherausgeber des gerade erschienenen Sammelbandes "Jugend im Blick". 20 Sozial- und Erziehungswissenschaftler stellen darin neue Untersuchungen vor.

Von Peter Leusch | 12.03.2015
    Ein Jugendlicher betrachtet Inhalte auf seinem Smartphone.
    59 Prozent der Jugendlichen blicken optimistisch in die Zukunft. (picture alliance / dpa / Tobias Hase)
    "Wenn wir das Wort Jugend nehmen, da hat jeder einen speziellen Blick. Aber genau das ist das Problem, dass wir sehr viele Jugenden haben, - wir haben, um es ganz grob zu sagen, eine Menge an Jugendlichen, denen es sehr gut geht, aber die in sich auch hochgradig zu differenzieren sind, - haben aber auch eine durchaus beträchtliche Zahl an Jugendlichen - bis zu 20 Prozent, in manchen Regionen bis zu 25 Prozent, denen es nicht sehr gut geht."
    Es gibt sie nicht: die Jugend. Denn Jugend hat viele Gesichter, bezeichnet ganz unterschiedliche Lebenslagen – so lautet das Fazit des Soziologen Ronald Lutz von der Fachhochschule Erfurt. Lutz ist Mitherausgeber des gerade erschienenen Sammelbandes "Jugend im Blick". 20 Sozial- und Erziehungswissenschaftler haben darin ihre neuen Untersuchungen vorgestellt zu einem Thema, das immer komplizierter wird, je genauer man hinschaut. Das fängt schon bei den Zahlen an. Wer gehört zur Jugend dazu? Wie viele Menschen sind das?
    "In der Altersgruppe der 15 bis 27-Jährigen sind es in Deutschland so um die neun Millionen, die wir hier haben, das sind vielleicht etwa zwölf Prozent."
    12 Prozent der Bevölkerung sind Jugendliche
    Der Soziologe Frank Tillmann vom Deutschen Jugendinstitut zögert ein wenig bei seinen Angaben. Aus wissenschaftlicher Redlichkeit. Denn tatsächlich wird die Altersspanne der Jugend je nach fachlicher Warte - juristisch, pädagogisch oder im Alltagsverständnis - unterschiedlich definiert. Nach deutschem Recht gilt jemand als Jugendlicher, der mindestens 14 aber noch nicht 18 Jahre alt ist. In sozialwissenschaftlicher Perspektive hat die Shell-Jugendstudie Maßstäbe gesetzt: Sie definiert Jugend als Lebensphase zwischen 12 und 25 Jahren. Und auch inhaltlich fungiert die Studie wie ein Wasserstandsmelder, ihre repräsentative Erhebung gibt etwa alle vier Jahre Auskunft über Einstellungen, Werte und Lebensgewohnheiten der jungen Generation. In der letzten Studie von 2010 registrierten die Wissenschaftler, dass 59 Prozent der jungen Leute optimistisch in die Zukunft schauen.
    "Aber diese Jugendlichen wachsen auch in bestimmten mittelschichtgeprägten Kulturen auf, in denen so etwas wie Bildung als eine große Chance vermittelt wird, in denen auch eine Auseinandersetzung stattfindet, man spricht mittlerweile auch wieder von den Bildungsaspirationen von Eltern, die durchaus für die Chancen und die Berufsaussichten der Kinder sehr entscheidend sein könnten. Sie wachsen mit dem Bild auf, dass es möglich sein könnte – ob es dann tatsächlich realisierbar ist, ist eine ganz andere Frage, das hat die Shell Studie auch belegt, dass es 15 bis 20 Prozent Jugendliche gibt, die das völlig anders sehen."
    Fast Freiviertel der Jugendlichen sind zufrieden
    Ronald Lutz findet in seinen eigenen Untersuchungen jene soziale Kluft bestätigt, auf die auch die Shell-Studie gestoßen war. Während im Allgemeinen fast drei Viertel der Heranwachsenden mit ihrem Leben zufrieden sind, sind es im Segment der Jugendlichen aus sozial schwierigen Verhältnissen nur 40 Prozent. Hier wird auch deutlich, so Ronald Lutz, welcher Widerspruch besteht zwischen dem gesellschaftlichen Bild von Jugend und ihrer sozialen Realität, jedenfalls für einen beträchtlichen Teil dieser Generation.
    Jugend ist ein Mythos, der Freiheit und selbstbestimmtes Leben verheißt, voller Chancen und Möglichkeiten. Und in einigen Lebensbereichen, insbesondere in der Jugendkultur, in Freizeit, Musik, Medien und Unterhaltung, erfüllt sich manches davon auch. Aber auf der anderen Seite spüren die Jugendlichen schon früh die hohen Erwartungen der Leistungsgesellschaft, einer Zukunft, die Herausforderungen enthält, aber auch den Anpassungsdruck der Arbeitswelt. Und die Jugendlichen sind sich dessen bewusst, die Optimisten ebenso wie die Pessimisten.
    "Die Jugendlichen sind, so wie ich es erlebe liebe, sehr viel realistischer und sehr viel pragmatischer, sie können ihre Lage sehr viel besser und sehr viel adäquater einschätzen als vielleicht wir das noch konnten, aber das wäre jetzt eine ganz andere Frage, warum in unserer Generation das anders war. Fakt ist für mich, das die Jugendlichen sehr pragmatisch sind in unterschiedlichen Kontexten und in unterschiedlichen Erfahrungsweisen."
    Jugendliche sind pragmatisch und realistisch
    Wo die Generation der Achtundsechziger einst darüber nachsann und diskutierte, ob Arbeit in der kapitalistischen Gesellschaft nicht eine grundsätzliche Entfremdung für den Menschen darstelle und deshalb besser zu meiden sei, versuchen Jugendliche heute, ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt mit allen Mitteln zu optimieren. Mitunter, so Frank Tillmann, auf eine kuriose Weise.
    "Aus unseren qualitativen Studien ist eigentlich sehr schön zu sehen, dass viele Jugendliche gerade mit mittleren oder unteren Bildungsabschlüssen sehr ihre Orientierung auf die Verwertbarkeit, auf die biografische oder insbesondere ihre berufliche Verwertbarkeit von Übergangsepisoden legen. Mir fallen da so Interviewpassagen ein, wo uns ein Jugendlicher mitgeteilt hat, dass er in Zukunft bald heiraten wird, weil sich das im Lebenslauf eben besonders gut macht, wenn man sich irgendwo bewirbt bei einem Arbeitgeber, dass das sozusagen Solidität widerspiegelt und hier eben die Übergangschancen ein bisschen verbessert."
    Mindestlohn ein Schritt in die richtige Richtung
    Obwohl im Februar in Deutschland die Arbeitslosigkeit von Jugendlichen bis 25 Jahre unter sechs Prozent lag, also nicht vergleichbar ist mit den katastrophalen Daten aus dem Süden der EU, ist die Situation keineswegs unproblematisch. Denn manche seien hierzulande in Projekten der Weiterbildung mehr geparkt als vorangebracht. Andere, die Arbeit haben, so Lutz, müssten damit rechnen, ihr Leben im Niedriglohnsektor zu verbringen. Hier sei die Durchsetzung des Mindestlohns ein Schritt in die richtige Richtung, aber ob er ausreicht ist fraglich. Ronald Lutz hat einen Besorgnis weckenden Typus ausgemacht, den erschöpften Jugendlichen.
    "Ein Kind, das in einem Elternhaus aufwächst, das seit längerer Zeit in Armut lebt, hat relativ geringe Chancen trotz bestehender Fähigkeiten, auf eine weiterführende Schule zu gehen. Dann beginnt schon eine erste Form des Erlebens: "Ich bin eigentlich chancenlos." Das geht weiter beim Beruf, wo keine Lehrstelle gefunden wird, das geht weiter dass man über bestimmte Formen der Hilfe tatsächlich nicht die Hilfe erfährt, die man gerne haben möchte."
    Umdenken in der Politik gefordert
    Wie solche Frustrationen entstehen, hat Lutz als wissenschaftlicher Begleiter bei einem finanziell gut ausgestatten Programm in Erfurt selber miterlebt. Für die anderthalb Jahre lang betreuten Jugendlichen gab es in der gesamten Region schlichtweg nicht jene Ausbildungsplätze, auf die das Projekt hingearbeitet hatte. Das aber hatte niemand vorab geklärt. - Angesichts solcher Pleiten, die die Frustrationen bei Jugendlichen mehr auf - als abbauen, stellt sich die Frage, was man denn anders, was man besser machen könne. – Frank Tillmann fordert ein Umdenken in der Politik:
    "Zunächst müsste sich ein mentales Modell ändern vonseiten der Politik. Jugendliche werden generell eher als Ressource wahrgenommen, bestenfalls als Investitionsprojekt, wo man reininvestiert und später kommt dann eine ordentliche Rendite heraus. Jugend müsste viel stärker um ihrer selbst willen betrachtet werden, ich denke hier beispielsweise an eine Ausbildungsgarantie, also nicht die von der EU propagierte Jugendgarantie, die mehr oder weniger gar nichts garantiert, sondern eine voll qualifizierende Berufsausbildung. Um die es hier gehen sollte."
    Jugendliche mitgestalten lassen
    Ronald Lutz fordert von der Politik, die Jugendlichen stärker mitgestalten zu lassen. Statt sie, wenn auch wohlmeinend, zu Objekten zu degradieren, sollte man die Jugendlichen als Subjekte ernstnehmen, die selber Vorschläge entwickeln.
    "Aus meiner Sicht müsste die Jugendpolitik sehr viel stärker das Tun, was sie immer tun möchte, aber nicht umsetzt, nämlich die Jugendlichen zu beteiligen. Die Jugendlichen mit einzubeziehen. Man kann beispielsweise sehr viel früher Jugendparlamente installieren, man kann Jugendliche in Planungsprozessen vor Ort im lokalen Bereich mit ihren Vorstellungen einbeziehen, wie die jugend-adäquate Angebote zu sein haben oder wie so etwas gestaltet werden müsste."
    Die Jugend in Deutschland, so das Fazit der beiden Herausgeber des Bandes Jugend im Blick, bietet kein einfaches und klares Bild, sondern ein breites Spektrum sehr unterschiedlicher Lebenslagen. Viele Jugendliche haben beste Chancen, andere drohen auf dem Weg in die Zukunft abgehängt zu werden. Ronald Lutz und Frank Tillmann haben vor allem diese Schattenseiten der Jugend ausgeleuchtet. Die wissenschaftliche Diskussion geht weiter. Im Herbst erscheint die Shell-Jugendstudie 2015.