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Genscher will "Stärkung der europäischen Institutionen"

Hans-Dietrich Genscher begrüßt, dass sich angesichts der Schuldenkrise "mit Gewalt" eine neue Stabilitätskultur in Europa durchsetzt. Wer künftig Stabilitätsregeln verletzt, muss aus Sicht Genschers zudem durch europäische Institutionen sanktioniert werden können.

Hans-Dietrich Genscher im Gespräch mit Silvia Engels | 10.11.2011
    Silvia Engels: In Griechenland und in Italien verlieren die Ministerpräsidenten infolge der Schuldenkrise ihre Macht. Die Menschen auf den Straßen glauben mittlerweile nicht mehr an Reformen. Eine Collage der Krise in beiden Ländern im Zeitraffer:

    "Was wir klar sagen, ist, dass es so nicht weitergehen kann, mit so hohen Zinsen für unsere Staatsanleihen und dem Glaubwürdigkeitsverlust an den Märkten." – "Wir verfügen nicht mehr über die Mehrheit, jetzt müssen wir das mit Realismus zur Kenntnis nehmen, wir müssen an die Märkte das Signal senden, dass wir es ernst meinen, dann kommen all die anderen Fragen. Jetzt geht es erst einmal um das Wohl des Landes." – "Wenn sich noch ein Funken Verantwortungsgefühl für Italien in Ihnen regt, dann müssen Sie zurücktreten." – "Ich klebe nicht an meinem Stuhl, ich trage die politische Verantwortung für etwas, was ich nicht verursacht habe." – "Und nun verlangt er von uns, mit ihm neue Maßnahmen zu ergreifen. Nein, Herr Papandreou, Sie müssen zurücktreten und dann entscheidet das Volk bei Neuwahlen über einen neuen Ministerpräsidenten." – "Die sollen alle miteinander zur Hölle fahren. Es ist eine Schande. Sie nehmen keinerlei Rücksicht auf die griechische Bevölkerung."

    Engels: Die Krise in Griechenland und Italien zusammengefasst in Stimmen der vergangenen Tage. – Die Schuldenkrise hat Europa weiterhin fest im Griff. Ob und wie die ambitionierten Sparprogramme des letzten EU-Gipfels umgesetzt werden können, ist offener denn je. Die Börsen bleiben nervös, nicht zuletzt, weil die Regierungen in hoch verschuldeten Staaten wie Griechenland und Italien derzeit nun wahrlich nicht so wirken, als könnten sie die notwendigen Reformen wirklich gestalten. Langsam stellt sich die Grundsatzfrage: Wohin führt diese Krise die europäischen Institutionen und die europäische Idee? – Am Telefon ist der ehemalige Außenminister, FDP-Ehrenvorsitzende und maßgebliche Mitgestalter der europäischen Integration. Guten Morgen, Hans-Dietrich Genscher.

    Hans-Dietrich Genscher: Guten Morgen!

    Engels: Bevor wir grundsätzlich werden, beginnen wir kurz mit dem aktuellen Blick auf Griechenland. Gestern trat zwar Ministerpräsident Papandreou zurück, aber ein Nachfolger ist nicht gefunden. Wie ordnen Sie das ein?

    Genscher: Man wird ihn finden, denn Papandreou – das muss man ihm zugutehalten – hat die Stunde der Wahrheit über die wirkliche Lage Griechenlands eingeläutet und hat dabei auf sich selbst und seine Amtsinteressen keine Rücksicht genommen. Er tritt zurück und macht den Weg frei für eine breite Mehrheit. Ich bin auch sicher, diese breite Mehrheit wird einen neuen Regierungschef bringen. Aber das zeigt natürlich, wie die Lage sich in Griechenland nach Jahren der Verschleierung entwickelt hat und welche Fehler man in der Vergangenheit gemacht hat, dass man den Stabilitätspakt aufweicht, dass man Griechenland in einem Zustand, wo es nicht aufnahmefähig war, aufgenommen hat. Nur das ist der Blick zurück, der Blick nach vorne muss heißen, aus der Stunde der Wahrheit die Konsequenzen zu ziehen, und dazu sind offensichtlich die Politiker in Griechenland jetzt entschlossen.

    Engels: Herr Genscher, dann schauen wir auf die generelle Lage in Europa. In der Slowakei, in Irland, in Portugal sind bereits Regierungen infolge der Schuldenkrise abgelöst worden, nun folgen wohl Regierungen in Griechenland und Italien. Überspitzt gesagt werden sie ein Opfer der europäischen Währungsunion, denn nach Jahren der fehlenden Kontrolle, die eigentlich notwendig gewesen wäre, wird ihnen nun Sparzwang auferlegt. Was bedeutet das für die europäische Integration der Zukunft?

    Genscher: Mit großer Härte und auch großen persönlichen Konsequenzen setzt sich hier, fast könnte man sagen, mit Gewalt eine neue Stabilitätskultur in Europa durch. Das ist gut für Europa und daran muss weiter gearbeitet werden. Sie haben völlig recht: Was wir haben, ist eine Schuldenkrise und nicht eine Krise des Euro. Aber diese Schuldenkrise konnte eben eintreten, weil man den Stabilitätspakt aufweichte und weil man nicht bereit war, den europäischen Institutionen die Kontrollmöglichkeiten zu geben und ihnen die Sanktionsmöglichkeiten zu verleihen, um gegen ein solches Verhalten vorzugehen. Deshalb reicht es jetzt nicht aus, einen Stabilitätskurs zu beginnen, sondern man muss ihn dauerhaft sicherstellen durch Stärkung der europäischen Institutionen. Wir brauchen eine neue Verfasstheit, Europa muss Institutionen haben, die die Stabilitätsregeln nicht nur aufdecken, sondern auch sanktionieren, das heißt bestrafen und beenden können. Das ist jetzt eine Reformaufgabe von großer Bedeutung, das ist nicht einfach, aber jetzt ist wirklich staatsmännisches Handeln erforderlich in Europa.

    Engels: Das kann der mittelfristige Weg sein. Aber kurzfristig fehlt nun in vielen Ländern zur Sanierung die Zeit. Die Reformprozesse laufen teilweise chaotisch. Kann das nun akut zum Auseinanderbrechen der Währungsunion führen?

    Genscher: Wenn wir uns entschlossen zeigen, die Dinge prinzipiell anzugehen – und der Präsident der Europäischen Zentralbank hat ja, als er es noch war, Herr Trichet, bei der Verleihung des Karlspreises dazu aufgerufen, eine Art europäischen Finanz- oder Wirtschaftsminister zu bestellen; wie immer man das nennt, aber man braucht diese Institution -, wenn wir diese institutionellen Voraussetzungen schaffen, dann wird auch der Weg bis dorthin (das muss nicht lange dauern, das kann übrigens sehr schnell gehen, wenn man nur will, und das ist ja die Chance, die in jeder schwierigen Situation auch liegt, durch Erkenntnis der Schwierigkeit der Lage die Kraft zu finden, den neuen Weg zu beschreiten), also wenn wir diesen neuen Weg beschreiten, werden die Stabilitätsanstrengungen auch eine größere Wirkung haben. Nur jetzt muss wirklich gehandelt werden, da müssen alte Tabus zur Seite geschoben werden. Früher hat man mit Worten wie "keine europäische Wirtschaftsregierung" so getan, als ob europäische Institutionen ein Verstoß gegen die Regeln der Marktwirtschaft seien. In unseren Ländern haben wir Aufsichten, wir haben Regeln, nach denen unser Wirtschafts- und Finanzleben sich zu vollziehen hat, das müssen wir in Europa haben. Wir müssen es übrigens auch weltweit schaffen, da hat sich ja jetzt gezeigt, dass über die Steuer es Meinungsverschiedenheiten mit den USA und mit London gibt. Das muss in Angriff genommen werden. Lange Zeit, viele Jahre sind versäumt worden nach der großen Wende vor mehr als 20 Jahren. Es wird Zeit, dass jetzt die Welt sich wieder aufrafft und sich der Realität stellt, die sich aus der globalen Interdependenz, also der Abhängigkeit aller Teile von allen Teilen der Welt stellt.

    Engels: Sie haben das Stichwort einer Wirtschaftsregierung für Europa genannt. Nun haben wir aber gerade beim letzten EU-Gipfel auch beobachtet, dass sich da möglicherweise ein Machttransfer in Richtung Frankreich und Deutschland abzeichnet, denn die nationalen Regierungen der Schuldenstaaten müssen ja nun de facto Souveränität abgeben. Was passiert da? Erleben wir einen Machttransfer der schwachen Staaten auf die stärkeren?

    Genscher: Nein. Deutschland und Frankreich können ja nicht Dinge auferlegen, aber Deutschland und Frankreich können Vorgaben machen, für die man dann die anderen Staaten gewinnt. So ist es ja auch geschehen. Aber ich bin dankbar dafür, dass die Bundeskanzlerin und der französische Präsident die Verantwortung, die Frankreich und Deutschland haben für Europa – ich würde Polen noch dazunehmen, das trägt der Erweiterung auch Rechnung; Polen ist ein wirtschaftlich und finanziell erfolgreiches Land -, aber dass unsere Staaten ihre Verantwortung übernehmen für eine Fortentwicklung Europas. Darum geht es jetzt. Also das hat nichts zu tun mit einer Dominierung der Schwächeren durch die Stärkeren, sondern das ist die Beispielswirkung und eine Aufgabe, die ja die anderen Länder auch gerne Europa, also Deutschland und Frankreich, übertragen. Alle wissen, vom Zusammenwirken Deutschlands und Frankreichs hängt ganz weitgehend das Schicksal Europas ab. Das ist eine große Verantwortung, der wir uns stellen müssen.

    Engels: Aber da steht ja eine Weichenstellung bevor: entweder eine Wirtschaftsregierung, vielleicht geführt von den Nationalregierungen, oder aber eine Stärkung der europäischen Institutionen wie dem EU-Parlament oder der Kommission mit ganz klarer Abgabe von Macht an Brüssel. Welchen Weg bevorzugen Sie?

    Genscher: Das sind keine wirklichen Alternativen. Jede Institution, die wir neu schaffen in Europa – und wir brauchen sie, ob sie das eine Wirtschaftsregierung nennen, oder Finanzkommissar, darauf kommt es nicht an. Es muss sichergestellt werden, dass Europa eine einheitliche Finanz- und Wirtschaftspolitik im Interesse der Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit aller Länder bekommt. Jede dieser Institutionen muss natürlich der parlamentarischen Kontrolle unterliegen. Das heißt, es muss einher gehen mit einer Stärkung dieser europäischen Institutionen auch natürlich eine Stärkung des Einflusses des Europäischen Parlaments. Wir wollen ja nicht weniger Demokratie haben, sondern wir wollen in Europa mehr Demokratie haben, so wie wir nur durch mehr Europa die Krise von heute meistern können. Wir dürfen jetzt nicht sozusagen vor der Krise versagen, hoffnungslos in die Zukunft blicken, oder gar auf die Idee kommen, Europa zurückabzuwickeln. Das wäre ein schrecklicher und historischer Irrtum. Es geht in Wahrheit darum, Europa fortzuentwickeln durch Stärkung seiner Institutionen, und ich bin sicher, wenn nicht jetzt, wann eigentlich dann.

    Engels: Von Bundeskanzlerin Merkel stammt der Satz, "Scheitert der Euro, scheitert Europa". Unterschreiben Sie den?

    Genscher: Den unterschreibe ich in jeder Hinsicht.

    Engels: Hans-Dietrich Genscher, lange Jahre Außenminister der Bundesrepublik Deutschland und FDP-Ehrenvorsitzender. Vielen Dank für das Gespräch.

    Genscher: Auf Wiederhören!

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