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Geopolitische Interessen im Taiwan-Konflikt

Nach Ansicht des Journalisten Shi Ming stößt China mit seiner gegenwärtigen expansiven Außenpolitik an Grenzen, die durch einen "Umzingelungsring" durch die USA angelegt sind. Aus geopolitischer Sicht sei es daher nicht auszuschließen, dass China militärisch gegen Taiwan vorgehe.

Moderation: Christiane Kaess |
    Kaess: China hat das so genannte Antisezessionsgesetz verabschiedet. Darin behält sich die Volksrepublik gegenüber Taiwan ein Recht auf militärisches Eingreifen vor, sollte sich der kleine Inselstaat vor der südöstlichen Küste des chinesischen Festlands unabhängig machen. Das Gesetz löst nicht nur in Taiwan Besorgnis aus. Die USA, die sich als Sicherheitsregulator in der Region sehen und dort auch Soldaten stationiert hat, befürchtet, das machtpolitische Gleichgewicht könne ins Wanken kommen. Deutschland und Frankreich auf der anderen Seite machen sich für eine Aufhebung des Waffenembargos gegen China stark, stoßen aber damit in der EU auf Widerstand. Das Embargo gilt seit dem Massaker auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens im Jahr 1989. Für morgen ist in Taiwans Hauptstadt Taipeh eine Massendemonstration gegen das chinesische Gesetz geplant. Und bei mir im Studio ist jetzt Shi Ming, er kommt aus Peking und hat Germanistik und Jura studiert und arbeitet als Journalist. Herr Shi, die Geschichte zwischen Taiwan und der Volksrepublik China war immer spannungsgeladen. Militärische Drohungen und auch Raketenangriffe gab es bereits schon zu Maos Zeiten. Neu ist jetzt, dass mögliche militärische Angriffe per Gesetz geregelt sind. Warum hat die chinesische Regierung dieses Gesetz ausgerechnet jetzt verabschiedet?

    Shi: Die chinesische Regierung verfolgt schon seit drei Jahren eine expansive Außenpolitik. Das war nie eine sehr große Veränderung in der Außenpolitik. Bisher, das heißt bis vor drei Jahren, hatte die chinesische Außenpolitik zum Angelpunkt gemacht, die Beziehungen zu USA und zu sonstigen Großmächten zu verbessern. Das hat sich nicht gelohnt aus Pekinger Sicht, weil die USA, insbesondere nach dem 11. September mit dem Antiterrorkampf, sozusagen einen Umzinglungsring um China herum nicht nur angelegt, sondern auch enger gezogen hatte. Also, im Osten hatten die USA schon traditionell die Verbündeten Südkorea, Japan, Taiwan, die südostasiatischen Staaten bis hin zu Australien und Neuseeland. Und im Süden kommt Indien immer stärker ins Spiel und im Westen - und das kam ja ganz neu - kommen die USA mit dem Kampf gegen El Kaida in Afghanistan, in Pakistan, jetzt langsam durch Irak gegen Iran auch zum Zuge. Und jetzt die neuen Nachrichten in Kirgistan beunruhigen Peking zusehendst, weil dort auch die westlichen Einflüsse deutlicher werden oder jedenfalls werden könnten. Also aus dieser Großwetterlage hatte Peking vor drei Jahren eine außenpolitische Wende eingeleitet und die bedeutet, dass man einige gezielte Feindbilder aufbauen will - zum Beispiel Taiwan, zum Beispiel Japan - und dass man sozusagen zurückkehrt zu einem traditionellen geopolitischen Denkmuster, sozusagen "Feinde meiner Feinde sind meine Freunde". Deutschland und Frankreich, wie Sie es ja auch erwähnt haben, sind sozusagen "Feinde der Feinde", also sind die chinesischen Freunde.

    Kaess: China betont ja, dass es eine friedliche Wiedervereinigung will. Wie sollte die denn aussehen und auch organisatorisch vonstatten gehen?

    Shi: Es gab natürlich das Modell "ein Land - zwei Systeme", wobei China im Moment in einer Zwickmühle steckt, weil in China selbst der Kapitalismus so sehr die Oberhand gewonnen hat, dass man selber nicht mehr mit dem eigenen politischen System ganz genau weiß, wohin damit. Also die Partei will ja an dem Ein-Parteien-System festhalten. Die Partei will, dass also die Zentralmacht bleibt, aber die Partei will zugleich, dass eine dezentralisierte, kapitalistische Marktwirtschaft weiter floriert. Und bei dieser Konstellation, dann sich zu überlegen, Taiwan auch noch einzubinden mit einem völlig anderen, aber viel integrierterem System, das ist natürlich politisch für Peking auch ein Sprengstoff. Das heißt also, Peking geht jetzt systempolitisch nach vorne in die Flucht. Man sagt: "wir wollen vereinigen, wir wollen zwei Systeme zulassen", aber sie werden dann nicht konkretisieren können, was für zwei Systeme das wirklich sind. Also, ein freiheitlich-demokratisches, marktwirtschaftliches System als ein solches System oder aber so dieses technokratische, oligarchische, aber auch ebenso marktwirtschaftlich-orientierte System. Das ist ein großes Problem, das jetzt in China gar nicht mehr diskutiert werden darf. Das ist Tabu.

    Kaess: Wann würde denn China militärisch eingreifen? Wann würde denn diese Situation kippen? Weil die Formulierungen dazu im Antisezessionsgesetz sind ja sehr vage.

    Shi: Es gibt drei Optionen. Die eine ist ja die offiziell verlautbarte: Wenn Taiwan Unabhängigkeit erklärt, formal, dann wäre natürlich die große Möglichkeit, die große Wahrscheinlichkeit, dass China zu militärischen Mitteln greift. Worüber nicht gesprochen wird, ist die zweite Option: Das heißt, China braucht jetzt immer mehr Öl- und Gaszulieferungen, die hauptsächlich über die Seewege kommen. Wenn also die geopolitischen Kräfteverhältnisse dort in dieser Region sich dermaßen verschieben, dass diese Gas- und Öllieferungen für China gefährdet werden, könnte es durchaus auch dazu kommen, dass Peking diesen Vorwand benutzt und sagt: "Wir wollen Taiwan wieder in den Schoß des Vaterlands zurückholen". In Wirklichkeit geht es natürlich um diese geopolitischen Großinteressen. Das wäre die zweite Möglichkeit. Die dritte Möglichkeit, das ist eine Verstärkung der amerikanisch-japanischen und sonstigen Bündnisse in dieser Region, die so weit schon gediehen ist, dass bis 2006, spätestens 2008, die Antiraketensysteme alle aufgebaut werden, und dass die australischen, neuseeländischen und vielleicht noch ein paar Asien-Staaten sich in dieses System hineinfinden wollen. Diese Situation wäre für China aus geopolitischer Sicht sozusagen der Garaus. Dann kann China nicht mehr auf Seewege nach außen expandieren. Es könnte durchaus sein, dass Peking dann, aus weltpolitischen Überlegungen, diesem Schritt zuvorkommen will.

    Kaess: Bundeskanzler Schröder argumentiert in der Diskussion um die Aufhebung des Waffenembargos, der Grund für die Verhängung des Embargos war das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens und das habe nichts mit der Taiwan-Frage zu tun. Ist das blauäugig?

    Shi: Das ist nicht nur blauäugig, das ist eher so ein Notbehelf, denn jeder weiß, dass dieses Massaker in China nie neu bewertet worden ist, bisher jedenfalls nicht. Die politische Führung lehnte es strikt ab, die Studentenbewegung als eine demokratische, als eine friedliche Bewegung einzustufen. Die Regierung bleibt ja dabei, dass nicht die Menschenrechte dominiert hätten während des Massakers, sondern es ginge - nach der Interpretation der chinesischen Regierung - um die Niederschlagung konterrevolutionärer Unruhen. Also, solange dieses historische Urteil in Peking aufrechterhalten wird - das ist bis jetzt der Fall - ist es sinnvoll, dieses Signal nicht an Peking zu senden und zu sagen: "Wir vergessen das und es dominieren jetzt andere Interessen". Und ich denke, die Argumentation sowohl von Schröder wie auch von Chirac, insbesondere von Chirac, ist so nicht aufrechtzuerhalten, weil es ja gerade nicht nur aktuelle Menschenrechtsverletzungen der Massen gibt, sondern weil die alten Menschenrechtsverletzungen als solche gar nicht anerkannt werden.

    Kaess: Die USA, die Taiwan militärisch und wirtschaftlich unterstützen, haben sich auch zu einer Verteidigung der Insel bei einem möglichen Angriff verpflichtet. Was bedeutet der Konflikt denn weltpolitisch?

    Shi: Weltpolitisch bedeutet es natürlich insbesondere für Europa eine Zwickmühle: Wie zu entscheiden? Die EU hat sich deutlich geäußert, man wolle im Fernen Osten neutral bleiben. Aber wie kann man neutral bleiben, wenn dort die geopolitischen Spannungen sich dermaßen zuspitzen? Wie würde man mit Japan umgehen, etwa? Japan ist für China genauso ein wichtiger Markt wie für Deutschland, wie für die ganze EU. Wie würde man zum Beispiel mit Südkorea umgehen? Wie würde man mit Indien umgehen, wenn man sozusagen alles auf eine Karte setzt und sagt: "Wir unterstützen China ohne Wenn und Aber". Das würde, glaube ich, in der nächsten Zeit, in den nächsten Jahren für die EU eine bleibende schwere Belastung bedeuten.