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Georg Brunold: Handbuch der Menschenkenntnis
Von der Achtsamkeit wussten schon die Römer

Der Schweizer Journalist und Philosoph Georg Brunold hat Texte aus 2500 Jahren gesammelt, aus denen man Wissenswertes zum Menschsein erfahren kann. Vieles ist schon mal gedacht worden, schon der Römer Seneca hielt viel von der Kontrolle seiner Affekte. Andererseits lernt der Mensch nie aus.

Georg Brunold im Gespräch mit Tanya Lieske | 15.01.2019
    Buchcover Georg Brunold: „Handbuch der Menschenkenntnis. Mutmaßungen aus 2500 Jahren“
    Neues vom Menschen. Altes auch. (Buchcover Galiani Verlag / Hintergrund: imago / 52073457)
    Tanya Lieske: Georg Brunold ist ein Schweizer Journalist und Schriftsteller, geboren 1953 in Arosa, studiert hat er Philosophie, Soziologie und Psychologie. Er hat als Journalist und Korrespondent gearbeitet, war viel in Afrika unterwegs, hat Reportagen und Essays veröffentlicht, und er ist Autor eines dreibändigen Werkes, in dem es im weitesten um den Menschen geht und um seine Fähigkeit, zu Selbsterkenntnis zu gelangen. Jüngst erschienen ist sein "Handbuch der Menschenkenntnis: Mutmaßungen aus 2500 Jahren". Ich habe mit Georg Brunold vor der Sendung gesprochen und habe ihn als erstes gefragt, warum für ihn der Zeitraum von 2500 Jahren besonders aussagekräftig ist?
    Georg Brunold: Also es ist eine runde Zahl erst mal, aber ich würde sagen, ungefähr so lange haben wir schriftliche Kunde von selbstbewussten Artgenossen. Daher liegt es nahe, da anzufangen. Es geht um Menschenbilder, die unsere unterschiedlichen Kulturen charakterisieren, und mit diesem Wort Charakter haben wir auch schon bereits wieder ein Wort, ein zweieinhalbtausend Jahre altes Wort. Wir führen ja ständig, ob wir es merken oder nicht, Theorien im Mund, die so weit zurückreichen. Wenn wir von Temperamenten sprechen oder, wie gesagt, vom Charakter, meinetwegen auch vom Sex.
    Geschichte der Typologien als roter Faden
    Lieske: Ich greife mal das Stichwort von den Temperamenten auf. Ich habe in Ihrem Band erfahren, dass es zum Beispiel 170 nach Christus formuliert wurde, diese Theorie von den vier Temperamenten – sanguinisch, cholerisch, phlegmatisch und melancholisch. Was mich dann aber erstaunt hat, ist, dass die Lehre von den vier Temperamenten über Kant, über Jung bis in unsere jüngste Wissenschaft sich fortpflanzt. War das mit ein Anliegen von Ihnen, solche Traditionen, solche Gedankenpfade darzulegen?
    Brunold: Es gibt ein paarmal so einen roten Faden in dem Band, und der eine ist natürlich die Geschichte der Typologien. Die geht zurück bis, wenn man will, Hippokrates, fünftes Jahrhundert vor Christus. Ausformuliert wurde sie dann von Galenos von Pergamon, und das blieb Lehrmeinung, bis zu Kant wurde das dann an medizinischen Fakultäten sämtlicher Universitäten gelehrt und hat seine Aktualität nicht verloren bis ins letzte Jahrhundert.
    Lieske: Wenn wir noch mal auf Ihre Auswahl zurückkommen, Sie steigen sogar etwas früher als vor 2500 Jahren ein mit einem Text von Homer, gehen dann über die Antike, das Mittelalter, in die besonders reiche Zeit des Humanismus über die Gegenwart in die Neuzeit. Vor dem jeweiligen Textauszug steht eine kleine, fast schon essayistische Einführung, die es manchmal auch in sich hat, und dann schließen Sie Querverweise an, verweisen von einem Autor, einer Autorin, auf eine andere, manchmal über die Jahrhunderte. Ist es auch so gedacht, dass man sich quasi labyrinthisch durch dieses Buch bewegen kann?
    Brunold: Ich denke, dazu gibt es keine Alternative. Das machen auch alle so. Ich lese Bücher vom Register aus meistens. Die Querverweise, die fand ich in dem Fall jetzt nicht nur nützlich, sondern auch unentbehrlich.
    Lieske: Es sind erfreulich viele Frauen, viele Schriftstellerinnen dabei. Einige kannte ich, wie Christine de Pizan und ihr berühmtes Gleichnis um den Raub der Sabinerinnen. Andere habe ich jetzt entdeckt, zum Beispiel Margareta Porete, die über Spiegelbilder und Projektionen nachgedacht hat oder Margarete von Navarra, die ein launiges Stück über eheliche Treue geschrieben hat. Die eine Autorin, Herr Brunold, wurde 1310 auf dem Scheiterhaufen verbrannt, die andere fand im 16. Jahrhundert ihre Schriften von der Sorbonne verurteilt. Würden Sie sagen, dass es für Frauen gefährlicher war, zu denken und zu schreiben in der Geschichte?
    Brunold: Ich weiß es nicht, ob es da einen Geschlechterunterschied gegeben hat. Es war brandgefährlich für jedermann – viel länger als uns bewusst ist, bis ins vorletzte Jahrhundert.
    Lieske: Ich habe einige Dinge entdeckt, die man ganz gut in unserer Neuzeit, in unserer Gegenwart verorten könnte, die aber eigentlich auch schon vor langer Zeit, vor Jahrhunderten oder tausenden von Jahren schon formuliert wurden: ein Auszug, den Sie drin haben von dem römischen Gelehrten Seneca. Er macht sich sehr stark für die Kontrolle der Affekte, schließt sogar eine kleine Meditationsanweisung an. Das würde heute jedem Achtsamkeitsbuch die Ehre erweisen. Herr Brunold, ist es denn so, dass alles Gute und Wahre schon mal gedacht war, dass es aber lediglich über die Jahrhunderte und Jahrtausende vielleicht in der Umsetzung gescheitert hat?
    Brunold: Ja, denke ich schon, und ich meine, eine Angelegenheit wie Wut ist natürlich so alt wie das menschliche Gedächtnis zurückreicht. Seneca findet man ja immer noch in jeder anständigen Bahnhofsbuchhandlung. Natürlich wäre das die beste Lektüre zu, sagen wir, einem Film wie "Wutprobe" mit Jack Nicholson. Die Affektkontrolle, das hat nicht gewartet auf die Management-Coaches.
    "Es gibt ja heute die Kognitionswissenschaft"
    Lieske: Wenn wir in der Gegenwart angelangt sind, zeigt Ihre Auswahl eine besondere Häufung von Texten, die ja zum Feld der Psychologie gehören – Freud, Jung, Hirschfeld, Watzlawick, Paul Ekman. Ist heute die Psychologie für Sie die zentrale Wissenschaft zur Erkenntnis des Menschen, vielleicht sogar noch wichtiger als die Philosophie?
    Brunold: Ich denke, die Philosophie ist dabei, einen Riesenschritt zu lernen, nicht unbedingt jetzt nur von der Psychologie, was man traditionell unter Psychologie versteht, sondern ich würde mal sagen, es gibt ja jetzt heute die Kognitionswissenschaft, und das ist eine Disziplin, die vieles, was früher in den unterschiedlichen Fächern studiert und erforscht wurde, vereint.
    Lieske: Das heißt, Sie sprechen durchaus einem disziplinübergreifenden Denken und Arbeiten das Wort.
    Brunold: Ja, wir Journalisten haben ja auch diese Freiheit. Es ist nicht nur eine Freiheit, sondern auch eine Pflicht.
    Lieske: Das Buch, ohne das Sie selbst nicht verreisen oder leben würden, ist ein Essayband mit Maximen und Reflexionen des französischen Herzogs La Rochefoucauld. Der lebte von 1613 bis 1680. Das verraten Sie en passant in der Einführung. Also man muss schon sehr kleinteilig lesen, um Ihnen da auch auf die Schliche zu kommen. Was ist so besonders an diesem Buch für Sie?
    Brunold: Ich liebe Sentenzen, und da ist La Rochefoucauld unschlagbar. Schon sowas wie: "Alle beklagen sich über ihr Gedächtnis, keiner über seine Urteilskraft" – sowas finde ich großartig, und das muss ich in der Tasche haben.
    Lieske: Humor ist wichtig.
    Brunold: Ja, sicher, man kann nicht genug lachen, auch schon aus medizinischen Gründen.
    Lieske: "Wir sind so gerne in der Natur, weil diese keine Meinung über uns hat" oder "Überzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit als Lügen" – das alles sagt Friedrich Nietzsche, dem ich persönlich so viel Witz, so viel Humor gar nicht zugetraut hätte. Jetzt steht Friedrich Nietzsche in Ihrem Kompendium Tür an Tür mit Mark Twain, dem man solche Aphorismen ja eher zutraut, also man weiß, der hat ja viele lustige Sachen gesagt: "Das Gedächtnis ist eine großartige Angelegenheit, es funktioniert von der Geburt an bis zu dem Augenblick, an dem man aufsteht, um eine öffentliche Rede zu halten" und so. Diese Nachbarschaft von Twain und Nietzsche – ist das von Ihnen beabsichtigt, damit man derlei Entdeckungen machen kann?
    Brunold: Ich denke, das sind die Zufälle des Kalenders, die natürlich keine Zufälle sind. Das war die zweite Hälfte 19. Jahrhundert, da war ein Aufbruch auf beiden Seiten des Atlantiks.
    Lieske: Ein Zeitalter auch, das vielleicht für Aphorismen besonders günstig war, kann das sein?
    Brunold: Ich denke schon, ja. Also die großen Systemdenker, die waren da eher dann Abenddämmerung oder Ruhestand. Nach Kant, Hegel war das Feld frei für den Essay, sagen wir mal, und für die Sentenz, für den Aphorismus.
    "Es gibt nichts Aktuelleres als Freiheit"
    Lieske: Wir sprachen über Pfade, die man durch dieses Buch legen kann. Ich glaube, einen zweiten entdeckt zu haben oder einen weiteren, und das ist Ihr Engagement, Herr Brunold, für die Existenz des menschlichen, des freien Willens. Sie stellen sich damit durchaus auch entgegen den Erkenntnissen der modernen Hirnforschung. Warum ist Ihnen das so wichtig?
    Brunold: Ich denke, Freiheit ist natürlich das Thema überhaupt in der Philosophie. Es gibt nichts Aktuelleres als Freiheit, und dazu gehört natürlich der freie Wille. Ich würde meinen, der freie Wille ist das, was den Menschen ausmacht.
    Lieske: Nun behauptet die Hirnforschung ja genau das Gegenteil, und es gibt auch wirklich Messungen dazu von Impulsen, die uns angeblich durchzucken, bevor der Gedanke gedacht ist und so weiter. Lässt Sie das kalt?
    Brunold: Nein, das habe ich alles ziemlich ausführlich und eindringlich studiert, und ich denke, die Hirnforscher, die sich da auf die Äste hinauslassen, die überschätzen gewaltig den Horizont ihres Fachs.
    Lieske: Die Auswahl, die Fülle Ihrer Texte ist beeindruckend. Haben Sie ausschließlich auf Dinge zurückgegriffen, die Sie schon Ihr Leben lang kannten und gut einschätzen konnten –
    Brunold: Nein.
    Lieske: – oder haben Sie, Herr Brunold, noch eine Entdeckung gemacht, die Ihnen wichtig ist?
    Brunold: Ja, jede Menge. Also jetzt vor allen Dingen das dritte Drittel des Buchs sind ungefähr die letzten 100 Jahre, und da habe ich einen Haufen gelernt, einen Haufen Entdeckungen gemacht, auch bei älteren Texten. Vor drei Jahren kannte ich die Christine de Pizan nicht und die Margarete Porete ebenso wenig. Man wird vom einen aufs andere geführt. Das ist die berühmte Geschichte mit den Prinzen von Serendip. Wenn man was sucht, entdeckt man einen Haufen anderes. Insbesondere, was jetzt Psychologie im engeren Sinn angeht, diese Persönlichkeitspsychologie, die Typologien, da gab es für mich also wirklich wunderbare Entdeckungen. Zum Beispiel Howard Gardner und die Intelligenz, dass jetzt nun der wichtigste Intelligenzforscher, lebende Intelligenzforscher, wirklich aufgeräumt hat mit dieser Vorstellung, es gäbe sowas wie die eine Intelligenz, die auch noch messbar sein soll. Davon ist nichts übrig, und das war für mich auch eine Entdeckung, die wirklich Freude gemacht hat.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Georg Brunold: Handbuch der Menschenkenntnis. Mutmaßungen aus 2500 Jahren.
    Galiani Verlag, Berlin
    416 Seiten 39,00 Euro