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Gerechtigkeit
Nächstenliebe ist zu wenig

Weltweit formiert sich die Bewegung der Effektiven Altruisten. Sie sind bereit, mindestens zehn Prozent ihres Gehalts an Arme zu geben, allerdings nur dorthin, wo es am meisten bewirkt. Jeder Spende geht eine umfassende Evaluation voraus. Unter Ethikern ist dieses Konzept umstritten.

Von Thomas Klatt | 25.07.2017
    Ein Mann sitzt in Hamburg vor dem Hauptbahnhof und hält ein Schild mit der Aufschrift "Brauche Geld für Gras!"(Bild: Daniel Reinhardt/dpa )
    Im Effektiven Altruismus ist Spende nicht gleich Spende (dpa / Daniel Reinhardt)
    Anderen Menschen zu helfen ist nicht neu. Nun aber gibt es eine weltweite Bewegung, die dabei möglichst optimal vorgehen möchte. Stefan Torges ist Projektleiter bei der Stiftung für Effektiven Altruismus in Berlin.
    "Wir sagen, dass wir mehr geben sollten als die meisten von uns. Es gibt Leute, die geben 10 Prozent ihres Einkommens, teilweise auch mehr, auch 50 Prozent, weil sie glauben, dass es so ein großes Problem gibt, dass wir überproportional zurückgeben sollten. Das ist die eine Sache, wie sie sich von normaler Hilfe unterscheidet. Und die andere Sache ist, dass wir verstärkt darauf schauen: Was sagt die Evidenz? Wo bewirkt das Geld, was wir spenden, am meisten."
    "In der Vergangenheit gab es wenig Evaluation"
    Denn nur allzu lange habe es in den letzten Jahrzehnten beispielsweise Entwicklungshilfe gegeben - ohne zu prüfen, wie nachhaltig die millionenschweren Investitionen wirklich gewesen seien. Nun aber wollen die Effektiven Altruisten neue Maßstäbe setzen.
    Torges: "Vor allem in der Vergangenheit gab es wenig Fokus auf tatsächlich Evaluation und wissenschaftliche Kontrollstudien, dass man sich anschaut: Wir führen Programm A in zwei Dörfern durch und in zwei anderen führen wir es nicht durch, aber messen in beiden die Effekte und schauen, wie groß wirklich die Wirkung der Sachen ist, die wir machen. Das ist etwas, was durch den Effektiven Altruismus ins Bewusstsein gekommen ist. Nicht jede Hilfe ist gut genug, sondern wo können wir das meiste rausholen bei unseren Programmen."
    "Leute müssen durch Mitgefühl motiviert sein"
    Der Effektive Altruismus will nicht ein Hilfswerk unter vielen sein, sondern versteht sich als eine philosophische Denkrichtung und unabhängige Projektschmiede im Schnittbereich von Ethik und Wissenschaft, die etwa durch Konferenzen und Bildungsarbeit Entscheidungshilfe geben will. Damit will man nicht nur besser sein als etwa kirchliche Hilfswerke - Ziel ist der ethisch optimal handelnde Mensch.
    "Fundamental müssen Leute durch Mitgefühl motiviert sein, sonst werden sie nicht 50 Prozent ihres Gehalts abgeben", sagt Stefan Torges. "Das sind Menschen, die genuin altruistisch sind und Menschen helfen wollen. Aber die sich dann auch überlegen: Wie kann ich dieses Gefühl, diese Empathie in die richtigen Kanäle leiten? Und das unterscheidet sich schon von der eher breiten Zielgruppe von Leuten, die häufig durch Großorganisationen wie ,Brot für die Welt' angesprochen werden, durch Plakatwerbung und diese Sachen, die eher unmittelbar das Gefühl ansprechen."
    Unabsichtlich biblisch
    Schätzungsweise 1000 Effektive Altruisten gebe es schon in Deutschland, heißt es in der Berliner Zentrale. Die Webseite der Stiftung Effektiver Altruismus richtet sich vor allem an junge Leute. Versprochen wird Unterstützung bei der Karriereplanung - denn wer viel verdient, kann viel spenden. Knapp 3000 Effektive Altruisten hätten sich weltweit schon verpflichtet, mindestens 10 Prozent ihres Einkommens zu spenden. Das ist zwar genau das alte biblische Maß des Zehnten, den man geben soll. Aber man orientiere sich gerade nicht an der Ethik der Religionen.
    "Der Teich ist nicht immer sichtbar"
    Der Schweizer Politikwissenschaftler Tobias Pulver arbeitet bei der Stiftung mit. Anstoß für ihn war ein Gedankenexperiment, das dem australischen Philosophen und Vordenker des Effektiven Altruismus Peter Singer zugeschrieben wird.
    Pulver erklärt: "Das Gedankenexperiment geht so: Man geht an einem Teich vorbei, hat vielleicht eine Uhr dabei, die hat 500 Euro gekostet. Und man sieht in diesem Teich ist ein Kind und das Kind ist am Ertrinken. Man könnte sich entscheiden hineinzuspringen und das Kind zu retten oder man geht einfach weiter. Wenn man hineinspringt opfert man seine Uhr. Jetzt ist der interessante Aspekt dieses Gedankenexperimentes, dass wir auf eine gewisse Weise ständig in dieser Situation sind, nur ist dieser Teich bzw. das Kind nicht immer direkt sichtbar, sondern das findet irgendwo auf der Welt statt und eigentlich haben wir dieses Geld auf unseren Bankkonten und können uns jederzeit entscheiden, 500 Euro zu spenden."
    Eine Rolex auf mehreren 500 Euro Scheinen (Bild: imago stock&people)
    Würde man die Uhr auch für entfernte Leidende opfern? (imago stock&people)
    Für den katholischen Moraltheologen Eberhard Schockenhoff ist das aber eben Theorie. Praktisch sei mit diesem Gedankenexperiment jeder Mensch überfordert.
    "Die Imaginationsmöglichkeit und die Identifikationsmöglichkeit mit einem leidenden Anderen ist nicht unbegrenzt und das ist, glaube ich, gerade der Fehler in dem Denkansatz", sagt er.
    Mit Analyse zur bestmöglichen Lösung
    Den Anspruch hätten die Effektiven Altruisten aber gar nicht, allen Leidenden der Welt helfen zu können. Aber man wolle das Leid so gut wie möglich minimieren. Und zwar, indem man mit klarer Analyse und Recherche die bestmögliche Lösung findet, meint Tobias Pulver.
    "Es gibt die Organisation GiveWell, eine unabhängige Organisation aus den USA, die 35 Leute angestellt haben, die nur die Evaluation von Hilfswerken betreiben. Und zwar ist eine der Topempfehlungen von GiveWell ist GiveDirectly, bedingungslose Geldtransfers, 1000 Dollar aktuell, die sind einmalig. Da gibt es keine Bedenken, was Abhängigkeit angeht. Das ist ein gutes Beispiel der Hilfe zur Selbsthilfe, weil man den Leuten komplett offen lässt, was sie mit dem Geld tun."
    "Selbstauferlegte Luxussteuer"
    Insofern müsse man immer auf dem Laufenden bleiben, wo, wann und wie man am besten helfen könne. Zumindest sieht Moraltheologe Eberhard Schockenhoff darin einen löblichen Ansatz, dass Effektive Altruisten die besser Begüterten dieser Welt aus jeglicher Wohlstandsgemütlichkeit wachrütteln wollen. Sich also selbst die Frage zu stellen: Was brauche ich für mein Leben und worauf kann ich verzichten? Schockenhoff hat da für sich seine eigenen Faustformeln entwickelt:
    "Von dem Überfluss, den man selber nicht braucht für das eigene Leben, soll man großzügig den anderen spenden. Eine Orientierung: Von dem, was überflüssig ist, von dem die Hälfte - das wäre nicht schlecht. Wenn ich mir etwas leiste oder etwas ausgebe, was ich eigentlich nicht brauche, was allein dem Luxus dient, dann sollte ich das gleiche noch einmal als eine Art Luxussteuer, die ich mir selbst auferlege, für die Linderung von Not anderer geben."
    Kritik am Kalkül
    Hilfe müsse effektiv sein. Aber genau darum würden sich in der Regel auch die kirchlichen und anderen Hilfswerke bemühen. Ein Argument der Effektiven Altruisten besagt etwa, dass Geld dahin gehen solle, wo es die meiste Kaufkraft entwickele. Konkret - ich spende lieber in Entwicklungsländer, wo ich für den Euro mehr Dinge kaufen kann, als etwa für Arme in Deutschland. Hilfe könne aber nicht allein auf Grundlage eines mathematisch-nüchternen Kalküls erfolgen, kritisiert der Freiburger Theologe Eberhard Schockenhoff.
    "Es gibt in der Ethik immer wieder die Versuchung, die genuin praktische Urteilskraft, von der etwa Aristoteles gesprochen hat, zu verwandeln in eine angeblich noch rationalere Form logischer Algorithmen oder so etwas. Aber praktische Urteile haben es immer auch mit besonderen Situationen zu tun, mit individuellen Situationen. Und dazu kann eben auch das Betroffen Sein von der Not eines individuellen Menschen gehören, dem es objektiv noch immer besser geht als einem anderen, der vielleicht in einem afrikanischen Land, in dem gerade Hungersnot herrscht, lebt. Und trotzdem ist die Betroffenheit durch diesen Menschen auch eine Moralquelle, aus der heraus ich nun handle und dann ist das auch richtig, wenn ich ihm das zuwende."
    Eberhard Schockenhoff, Theologe und Mitglied im Deutschen Ethikrat.
    Eberhard Schockenhoff kritisiert die rein rationale Form der Nächstenliebe (picture alliance / dpa / Uli Deck)
    Die Frage ist nicht, ob Fernstenliebe oder Nächstenliebe das beste sei, sondern wohin ich als Individuum eine Beziehung entwickle. Etwa zu einem abstrakten Projekt irgendwo auf der Welt - oder zu einer armen Rentnerin in der Nachbarschaft.
    Dazu Schockenhoff: "Bei dieser Rechnung kommt, glaube ich, zu kurz, dass wir Menschen ja nicht einfach alle nur als Atome einer Weltgesellschaft nebeneinander stehen und es nur darum geht, die Distanzen zu überwinden - sondern wir stehen auch in Relationen, Beziehungen zueinander, die auch für die moralische Entscheidung bedeutsam sind, wem meine Hilfe vorrangig gelten soll. Und jetzt nehmen wir an, ich bin mit dieser Rentnerin in irgendeiner Form verbunden - und bereits Nachbarschaft ist eine Form menschlicher Verbundenheit - und ob diese Verbundenheit zueinander nun völlig bedeutungslos wäre für die Frage, wem ich meine begrenzten Hilfsmöglichkeiten vorrangig zukommen lassen soll, das ist eine zu abstrakte Vorannahme in diesem Kalkül, wo mein Geld am meisten bewirkt."
    Teilnehmen an der Not
    Und darin äußert Schockenhoff eine Art Generalkritik an den Effektiven Altruisten. Diese handelten vor allem vernunftorientiert. Empathie und Mitgefühl beinhalteten aber, zumindest aus christlicher Sicht, mehr.
    "Es gibt ja noch die Form der Con-Solidarität, eine Haltung, die sich nicht fernhält von der Lebenswirklichkeit derer, denen man helfen möchte, sondern die in dem Sinn solidarisch werden, dass sie das Leben mit ihnen teilen, dass die teilnehmen an ihrer Not. Dass sie Empathie empfinden. Und die Kritik, die ich an den Effektiven Altruisten üben würde beginnt dort, wo sie das Eintreten in den Lebenskontext der Armen, wo sie das überspringen und die Not nur als eine generische Gesamtgröße sehen, die sie dann reduzieren wollen. Und das als eine abstrakt mathematische Aufgabe, die es zu lösen gibt."