Schröder: Das ist Unsinn. Die Kraft der deutschen Volkswirtschaft ist ungeheuer groß. Gelegentlich wird darauf hingewiesen, dass wir im Wachstum nicht so gut sind wie andere europäische Länder, aber der Vergleich mit Irland oder Portugal, auch Griechenland, die andere Wachstumsraten haben, ist ein völlig unsinniger Vergleich. Das sind Volkswirtschaften, die weit hinter der deutschen zurück sind und natürlich andere Wachstumsraten haben, übrigens Wachstumsraten, die wir mit unserer Nettozahler-Position auch mit finanzieren. Das ist auch in Ordnung so, weil wir da ja auch Aufträge bekommen. Nein, das ist ein Kampfbegriff, der Deutschland diskreditiert, was nicht sein sollte. Im Übrigen muss man immer wieder darauf hinweisen: Vier Prozent unseres Brutto-Inlandproduktes – damit finanzieren wir immer noch den Aufbau Ost. Das hat kein anderes Land der Welt zu leisten. Und die Tatsache, dass wir die zweitstärkste Ausfuhrmacht sind und die drittstärkste Volkswirtschaft der Welt, die zeigt doch nun alles andere als Sanierung.
Burchardt: Gleichwohl, die ‚Deutschland AG’, wie Sie es ja so oft und so gern bezeichnen, ist ins Schleudern geraten, ins Trudeln vielleicht noch nicht so richtig. Was sagt denn die ‚Ich-AG’ Bundeskanzler Gerhard Schröder zu diesem Status, auch nach den jetzt ja wieder gemischten Reaktionen auf Ihre Rede, die ja im Verhältnis zu dem, was man möglicherweise hätte erwarten können, relativ moderat gewesen ist?
Schröder: Moderat von den Gruppen, von denen wir sonst moderate Reaktionen ja nicht erwarten konnten. Das heißt, auch in den Verbänden der Wirtschaft – von Ausnahmen abgesehen – ist begriffen worden, dass hier weitreichende Reformmaßnahmen in Gang gesetzt worden sind. Ich habe übrigens nie verschwiegen, dass es Reformbedarf gibt in Deutschland, insbesondere auf dem Arbeitsmarkt und bei den sozialen Sicherungssystemen. Das hängt schlicht mit der Tatsache zusammen, dass wir eine älter werdende Gesellschaft sind – mit der Folge natürlich, dass immer weniger Junge für immer mehr Ältere sorgen müssen; das drückt auf das, was man Lohnnebenkosten nennt – und natürlich, dass Globalisierung bis weit in den Mittelstand hinein verschärfte Konkurrenzprobleme aufwirft. Darauf müssen wir reagieren. Das heißt nicht Abbau der sozialen Sicherungssysteme, das heißt ihre Veränderung. Das habe ich am Freitag angekündigt - natürlich nicht ohne Opfer für viele, aber notwendig. Und ich bin ganz sicher, es wird in Deutschland begriffen, dass das notwendig ist, um einen Standard zu erhalten, der Massenwohlstand weiter ermöglicht und für diejenigen, die Schwierigkeiten haben, auch soziale Sicherung weiter ermöglicht.
Burchardt: Ist das Stichwort ‚Massenwohlstand’ nicht inzwischen eine schöne Chimäre, gerade angesichts der augenblicklichen sozialpolitischen Verwerfungen weltweit. Wir haben auch das Risiko eines möglichen Irak-Krieges. Sie haben eine Agenda 2010 vorgestellt am letzten Freitag. Wie viel Mut und wie viel Klarsicht gehört eigentlich dazu, auf die nächsten sieben Jahre wirklich prognostisch klare Daten anzudeuten?
Schröder: Sie haben ein Thema genannt, das deutlich zeigt, dass man Prognosen zurückhaltend machen muss – Irak nämlich. Natürlich – so oder so, je nachdem, ob es uns gelingt, die friedliche Abrüstung des Iraks durchzusetzen, oder ob es Krieg im Irak gibt – wird das Auswirkungen auf die Weltwirtschaft, auch auf die deutsche Wirtschaft haben, keine Frage.
Burchardt: Ist denn Ihre Agenda schon obsolet?
Schröder: Das würde ich so nicht sagen, denn ich habe ja deutlich gemacht, dass für den Fall eines längeren Krieges mit negativen Folgen für die Weltwirtschaft die Europäer gerüstet sein müssen. Das geht auf der Basis des Stabilitätspaktes, insofern ist das einbezogen worden, aber so einbezogen, dass ganz klar geblieben ist, dass wir den Krieg verhindern wollen und nicht mit seinem Stattfinden gleichsam rechnen. Aber natürlich: Jede Prognose – bei der rasanten Veränderung in der wirtschaftlichen Basis unserer Gesellschaft – ist mit Zweifeln verbunden und mit Unsicherheiten. Übrigens, wir stützen ja unsere Prognosen sehr häufig auf die wissenschaftlichen Institute, auf die Forschungsinstitute – die fünf großen, die es gibt –, auf die . . .
Burchardt: . . . die sich regelmäßig irren und korrigieren . . .
Schröder: . . . auf den Sachverständigenrat – die sich irren –, und selbst Journalisten sollen sich gelegentlich irren.
Burchardt: Das glaube ich nicht. Herr Bundeskanzler, wir kommen sicher auf den Irak auch noch zu sprechen. Dennoch haben Sie hier schon ein Stichwort genannt, was natürlich innenpolitische Bedeutung hat, das heißt ‚Stabilitätspakt’. Man hat den Eindruck, dass die Frage, wie weit und wie lange man den Stabilitätspakt noch beibehalten kann, auch davon abhängt, wie lange noch der Frieden zu bewahren ist. Ist es denkbar, dass im Falle eines Krieges der Stabilitätspakt zur Disposition gestellt wird oder auch werden muss?
Schröder: Nein, der Pakt nicht, denn das ist ja das Interessante, das oft übersehen wird, dass der Pakt selber für unvorhergesehene Ereignisse mit tiefgreifenden Folgen Reaktionsmöglichkeiten vorsieht. Das heißt, man kann auf der Basis des Stabilitätspaktes über Ziele und über Zeiträume, die ansonsten eingehalten werden müssten, durchaus diskutieren. Das betrifft Ziele wie Verschuldung ebenso wie die Frage, wann der Konsolidierungsprozess abgeschlossen sein soll. Aber das ist keine aktuelle Debatte. Wir wollen, und das muss ganz klar bleiben, agieren auf der Basis des Stabilitätspaktes, aber nicht mit einer schematischen und statischen Anwendung dieses Paktes, sondern mit den Möglichkeiten, die er selber bietet. Das ist im übrigen abgesprochen mit der Europäischen Kommission, und das wird auch auf der Sitzung der Staats- und Regierungschefs jetzt am 20., also in der nächsten Woche in Brüssel und der Finanzminister im sogenannten Ecofinrat, also im Rat derer, die Währungspolitik auf der finanziellen Seite zu treiben haben – auf der Geldseite macht es ja die selbständige EZB –, da wird das auch besprochen werden. Im Übrigen: Alles, was wir auf der Basis des Paktes machen, muss sinnvollerweise europäisch abgesprochen sein, sonst kann es nicht funktionieren.
Burchardt: Würde es denn sinnvoll sein - wie man in Europa sagt -, ‚die Uhren anzuhalten’ oder möglicherweise Deutschland Sonderkonditionen deshalb einzurichten - Sie haben darauf hingewiesen -, weil ja die Kosten der Einheit nun überproportional sind?
Schröder: Das wäre früher eine Möglichkeit gewesen, ich glaube, heute nicht mehr. Nicht, weil wir die Kosten nicht mehr aufzubringen hätten – ich habe ja davon gesprochen, dass wir wirklich auch mit Freude und aus Überzeugung dieses Leistung erbringen, aber ich sehe keine Chance, sie aus den Berechnungen des Stabilitätspaktes herauszuhalten. Ich sage es noch einmal: Ich glaube, im Interesse der Währung, im Interesse von Stabilität ist dieser Pakt wichtig, aber gelegentlich ist er nur bezogen auf das eine Ziel, nämlich Einhalten der Defizitgrenzen, interpretiert worden. Und so ist er, jedenfalls so weit ich an der Diskussion teilgenommen habe, nie gemeint gewesen. Er heißt ja nicht nur einfach ‚Stabilitätspakt’, sondern es ist ja auch von Wachstum die Rede.
Burchardt: War es so gesehen – nachträglich – ein Fehler von Helmut Kohl, dass er beim Deutschlandgipfel 1990 den europäischen Partnern sagte, wir könnten die Einheit aus der Portokasse bezahlen und keine europäische Verpflichtung eingefordert hat?
Schröder: Das war sicher ein Fehler. Ob eine europäische Verpflichtung einzufordern erfolgreich gewesen wäre, will ich mal dahingestellt sein lassen. Aber man sollte jetzt auch der historischen Fairness wegen sagen: Es ist wohl ein Fehler, den alle gemacht haben. Es haben einzelne darauf hingewiesen, dass diese Leistung sinnvollerweise steuerfinanziert und nicht über die Lohnnebenkosten finanziert werden sollten, aber ich glaube, dass man das nicht einseitig abladen kann. In der Tat, es sind Fehler gemacht worden, weil die deutsche Einheit, statt sie von allen Steuerbürgern finanzieren zu lassen, finanziert worden ist über die Unternehmen auf der einen Seite und die aktiv Beschäftigten auf der anderen Seite. Das hat ja dazu geführt, dass wir jetzt unter enormen Druck gekommen sind. Die Lohnnebenkosten sind von 1992 – da betrugen sie 34 Prozent – bis 98 auf dann 43 Prozent gestiegen. Und wir müssen sie jetzt runterbringen. Verglichen mit damals ist die Forderung von vielen unter 40 ja eher eine bescheidene Forderung, aber eine, die wir durchsetzen müssen.
Burchardt: Sie sind ja auch Parteivorsitzender bei den Sozialdemokraten. Nicht nur in der Fraktion, sondern auch in der Partei gibt es logischerweise Unruhe, weil einige den Eindruck haben, dass durch Ihre Agenda jetzt, die insbesondere natürlich Einschnitte im sozialen Netz mit sich bringen wird, gerade die Schwachen der Gesellschaft auch zur Kasse gebeten werden. Halten Sie das aus, oder wäre es sinnvoll, möglicherweise auch Ihre Ämter zu trennen?
Schröder: Nein, ich glaube nicht, dass das in Rede steht zurzeit. Man kann immer über solch eine Frage diskutieren, aber ich glaube, sowohl die Partei als auch diejenigen, mit denen ich die Regierung zu bilden habe, würden das nicht gut finden, wenn das jetzt geteilt werden würde. Daraus soll man keine Prinzipienfrage machen, aber im Moment steht das nicht zur Debatte. Was die Frage der Belastung angeht, nur soviel: Ich denke, man muss sehen, dass zum Beispiel die Begrenzung der zeitlichen Dauer der Zahlung von Arbeitslosengeld auf jetzt zwölf Monate im Regelfall – für Ältere gibt es ja Ausnahmen -, dass die zu tun hat mit den Veränderungen in der Bundesanstalt für Arbeit und mit den verbesserten Vermittlungsmöglichkeiten, die die Bundesanstalt hat beziehungsweise haben wird. Das muss man im Zusammenhang sehen. Aber klar ist - und das will ich auch nicht zurücknehmen -, wir werden bei den sozialen Leistungen gucken müssen: Was können wir noch bezahlen, auch angesichts der Veränderung im Altersaufbau unserer Gesellschaft? Und wenn wir etwas nicht mehr bezahlen können, dann müssen wir das auch klar sagen. Ich habe sehr deutlich gesagt, und dazu stehe ich, ich will die Substanz von Sozialstaatlichkeit retten. Aber angesichts der veränderten wirtschaftlichen Bedingungen heißt das, es kann nicht alles so bleiben wie es ist, denn sonst wird es schlimmer. Wir müssen verändern, um die Substanz erhalten zu können. Das ist der Zusammenhang, auf den es mir ankommt.
Burchardt: Sie haben eine zeitlang eine Politik der ‚ruhigen’ Hand betrieben, das haben Sie nachträglich doch bedauert. Kommt jetzt die Politik der ‚harten’ oder vielleicht auch der ‚eisernen’ Hand?
Schröder: Das sind immer so Begrifflichkeiten. ‚Ruhig’ hieß damals, in einer Situation, wo alle über wilde Programme diskutierten, zu sagen: Nun lasst uns mal das, was ein Programm bringen kann, auch wie es finanziert ist, genau angucken, damit man Vor- und Nachteile gegeneinander abwägen kann. Ich habe hier ja ein Programm vorgeschlagen, bei dem ich fest davon ausgehe, dass es nützlich ist. Acht Milliarden Euro für Häuslebauer und –besitzer, damit die das Dach in Ordnung bringen können oder die Heizung erneuern können, Wärmedämmung machen können oder was auch immer, zu billigen, runtersubventionierten Zinsen. Das ist keine Verschuldung, sondern wird sauber aus dem Haushalt finanziert und dann von der Kreditanstalt für Wiederaufbau entsprechend begleitet. Das ist verantwortbar, das kann man machen. Das Gleiche gilt für die Kommunen, denen muss man noch etwas mehr unter die Arme greifen, weil sie häufig klamm sind – übrigens nicht alle, auch da gilt es zu differenzieren. Aber das wird geschehen, und insofern denke ich, diese 15 Milliarden Euro sind insbesondere im Bau- und Baunebengewerbe gut angelegtes Geld.
Burchardt: Wobei, Herr Bundeskanzler, gerade dieser Aspekt ja von Ihnen noch vor Monaten anders gesehen wurde. Sie haben damals von ‚Mitnahmeeffekten’ gesprochen und von ’Strohfeuer’, was man ja immer bei diesen sogenannten Konjunkturprogrammen hört. Und es gibt auch in Ihrer Fraktion Leute, die gesagt haben: Warum hat er diese Regierungserklärung nicht schon nach der Wahl gehalten, warum fünf Monate zu spät?
Schröder: Ja, da würde ich mal – ob es zu spät ist, weiß ich nicht, aber manchmal ist es ja so, dass es auch erst eine bestimmte Debatte geben muss, bevor man für eine solche ja durchaus auch prononcierte Position Mehrheiten bilden kann. An der Reaktion der Fraktion, auch der Partei, haben Sie gesehen, dass das entgegen dem, was die Auguren so geflüstert haben, möglich gewesen ist. Da ist es manchmal so, dass man auch auf den richtigen Zeitpunkt setzen muss.
Burchardt: Also, eine neue Vertrauensfrage wird nicht nötig sein?
Schröder: Nein. Davon gehe ich ganz fest aus. Das war auch klar angesichts der Reaktion der Fraktion, der Fraktionsführung. Das wird jetzt umgesetzt, was beschlossen worden ist. Nochmal zurück zu den sogenannten ‚Strohfeuerprogrammen’. Das habe ich immer bezogen auf schuldenfinanzierte, denn das holt uns ein. Das ist nicht verschuldenfinanziert, sondern es ist eines, wo das, was aufgebracht werden muss für die Zinssubventionen der Kreditanstalt für Wiederaufbau, aus dem Bundeshaushalt erstattet wird. Es wird also gerechnet und ist nicht durch zusätzliche Verschuldung zu finanzieren.
Burchardt: Soweit vielleicht zum Mut zur Veränderung. Das zweite Motto war: Mut zum Frieden. Ist ein Irak-Krieg noch vermeidbar?
Schröder: Ich hoffe es, aber ich habe meine Zweifel. Das will ich gerne sagen. Und da unterscheide ich mich ja nicht sehr von der Meinung, die im deutschen Volk verbreitet ist. Wir arbeiten daran mit unseren Partnern - Frankreich insbesondere, aber auch Russland, China, andere. Ob es gelingt, ist eine Frage, die letztlich – glaube ich – vor allen Dingen in den Vereinigten Staaten von Amerika entschieden werden wird und weniger von den Partnern, wie immer sie sich positioniert haben. Ich habe meine Zweifel, aber ich will die Hoffnung und die Arbeit daran nicht aufgeben.
Burchardt: Sie waren in der zu Ende gegangenen Woche bei Tony Blair. Haben Sie bei Blair eine mögliche Meinungsänderung oder Tendenzen zur Nachdenklichkeit gesehen, denn er hat ja doch ziemlich klar zunächst sich an die Seite von George Bush gestellt?
Schröder: Wir haben unter vier Augen gesprochen. Deswegen verbietet sich detaillierte Auskunft. Aber so viel kann ich sagen, ich glaube, ohne irgendjemandem zu nahe zu treten: Die Reise hatte nicht den Sinn, dass der eine den anderen überzeugt, sondern wir wussten voneinander, dass wir unterschiedliche Position in dieser Frage haben. Der Anlass war ja, gemeinsam eine Kunstausstellung ‚Dresdner Meisterwerke’ zu eröffnen. Das Gespräch, das natürlich dann stattgefunden hat, drehte sich vor allen Dingen um europäische Fragen und sollte auch deutlich machen, dass – unabhängig von den Meinungsverschiedenheiten in der Irak-Frage – Großbritannien und Deutschland so viel miteinander gemeinsam haben, so viele Aufgaben miteinander haben - auch und gerade in Europa -, dass diese Meinungsverschiedenheit das andere nicht überlagern darf. Das gilt im Übrigen auch für die persönliche Freundschaft zwischen Herrn Blair und mir.
Burchardt: George Bush wirkt im Augenblick, zumindest was die Kritiker seines Kurses angeht, demgegenüber ziemlich beratungsresistent. Halten Sie noch einen Zeitpunkt für denkbar, wo Sie mal zum Telefon greifen und George Bush anrufen?
Schröder: Das ist ja häufig gefragt worden. Es gibt auf allen Ebenen Gesprächskontakte, und ich denke, dass die Positionen auf beiden Seiten hinreichend bekannt sind. Ich habe mich einem Gespräch nie verweigert, aber ich finde, sich aufzudrängen ist auch falsch.
Burchardt: Kann es nicht sein, dass man in Washington auch mal einen Schritt von Ihnen erwartet?
Schröder: Ja, das würde ja über die Mitarbeiter vereinbart werden. Das sind die üblichen Verfahren. Also ich denke, auch in dieser Frage ist klar und muss klar bleiben: Die Meinungsverschiedenheiten hier werden die Substanz der deutsch-amerikanischen Beziehungen nicht negativ, jedenfalls nicht auf Dauer, beeinträchtigen. Das ist unser beider Position, die ist wiederholt erklärt worden. Es gibt so viele Gemeinsamkeiten in der Kultur, in der Politik, in der Ökonomie vor allen Dingen, dass diese Meinungsverschiedenheit eine zwischen Freunden ist, die auch einmal ausgehalten werden muss. Im Übrigen, ich habe immer wieder gesagt: Die Kritik an Deutschland, die gelegentlich zu hören ist – nicht von der Spitze der amerikanischen Regierung, aber von dem einen oder anderen im Umfeld –, ist nicht berechtigt. Ohne uns liefe in Afghanistan wenig. Wir sind Leadnation mit 2.500 Leuten in Kabul und Umgebung. Auf dem Balkan – jetzt wieder krisenhaft wegen dieses tragischen und mich persönlich sehr berührenden Attentats auf Djindjic – und auch im Rahmen von Enduring Freedom ist Deutschland engagiert. Ich glaube, wenn die Vereinigten Staaten in Amerika, unsere Freunde, dort genau hinschauen, dann werden sie sehr genau gucken, wer sich nur verbal betätigt und wer wirklich was macht. Wir tun was, aber eben nicht im Irak. Das haben wir immer erklärt, und ich glaube, das ist da auch verstanden worden.
Burchardt: Wobei gerade zu diesem Thema jenseits des Atlantiks schon gewisse Irritationen über eine so genannte ‚Achse des Guten’ entstanden ist, nämlich die Achse Paris-Berlin-Moskau-Peking. Das sind ja neue Töne. Gehört das auch zu einer geopolitischen Veränderung, oder ist das eine Augenblickaufnahme?
Schröder: Nein, nein, das als eine Achse zu bezeichnen, so weit wird niemand der Partner gehen, und wir natürlich auch nicht. Zwischen Deutschland und Frankreich, das ist ja bekannt, gibt es besondere, sehr enge Beziehungen. Die beziehen sich auf das bilaterale Verhältnis, wir haben ja gerade 40 Jahre Elysée sehr festlich begangen, und da ist die Substanz dieser französisch-deutschen Beziehung auch noch einmal sehr deutlich geworden. Dass sie sich auch auf Europa beziehen, ist klar. Es läuft wenig in Europa, wenn Deutschland und Frankreich sich nicht zusammentun. Im Übrigen: Gelegentlich werden wir dafür kritisiert, aber wenn wir es nicht tun, dann werden wir von den Partnern noch mehr kritisiert, weil dann Entscheidungen nicht recht vorankommen. Und die Erweiterungsentscheidungen zeigen, dass, wenn Deutschland und Frankreich zusammen sind, das dann auch funktioniert. Das sind die Gründe, aber man soll da nichts überhöhen. Trotzdem, ich freue mich, dass alles Gerede über eine angeblich deutsche Isolierung im Weltsicherheitsrat oder in den Vereinten Nationen natürlich ziemlich weit hergeholte parteipolitische Propaganda ist. Ich fühle mich jedenfalls mit der Position, die wir eingenommen haben, nicht isoliert. Und ich glaube, ich kann das mit guten Gründen sagen.
Burchardt: Sollte es in der kommenden Woche noch eine zweite Resolution geben, wie müsste die aussehen, damit auch Deutschland sie unterschreiben könnte?
Schröder: Wir sollen umgekehrt diskutieren. Wir könnten immer akzeptieren, dass es - am besten übrigens vorgeschlagen von den Inspektoren – klare Zielmarken gibt, Benchmarks sozusagen, die die Inspektoren, die Herr Blix festlegt, mit zeitlichem Rahmen versehen . . .
Burchardt: . . . aber damit sind die Engländer ja schon gescheitert.
Schröder: Das kann ich mir durchaus vorstellen. Dass aber jeder Automatismus verhindert werden muss, jeder Automatismus zum Krieg – einer solchen Resolution könnten wir nicht zustimmen. Auch das habe ich ja vor Monaten klar gemacht, dass wir einer kriegslegitimierenden Resolution nicht zustimmen können. An dieser Position hat sich nichts geändert. Und natürlich – im Moment sieht es so aus, als würde es eine zweite Resolution eher nicht geben. Aber ich kann da keine feststehende und für alle Zeiten geltende Prognose wagen. Die deutsche Position ist klar, die wird sich auch nicht verändern.
Burchardt: Erwarten Sie denn, dass Sie rechtzeitig informiert werden, wie die Amerikaner sich letztendlich verhalten?
Schröder: Wir sind ja Mitglied des Sicherheitsrates, nicht ständiges, aber für die nächsten zwei Jahre Mitglied. Insofern haben wir kein Problem, was Informationen angeht.
Burchardt: Zu dieser Achse, über die ich eben gesprochen habe, gehört Frankreich. Das Verhältnis Deutschland-Frankreich schien ja vor einigen Wochen etwas gestört zu sein. Es scheint jetzt wieder besser auszuschauen. Aber das wirft ja schon mal die Frage auf, inwieweit, Herr Bundeskanzler, in Europa – EU-Europa vor allem – sich die Machtfrage neu stellt. Wir haben ja gesehen, dass insbesondere die Ost erweiternden Staaten sich nun anders verhalten haben, auch mal aufgemuckt haben, wenn man das so sagen darf. Gibt es hier vielleicht noch in Zukunft größere Hindernisse bei dem Aufbau einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik?
Schröder: In Europa stellen sich keine Machtfragen im klassische Sinne mehr. Dass es unterschiedliche Einschätzungen gelegentlich gibt, das ist nichts Neues für Europa. Und was die osteuropäischen Staaten angeht, muss man vielleicht verstehen, dass die Staaten, die seit einem Dutzend Jahren erst ihre Souveränität wiedererlangt haben, was sie vorher nur begrenzt hatten als Teil des damaligen Ostblocks und des Warschauer Paktes, dass die natürlich mehr Schwierigkeiten haben als Deutsche und Franzosen, Souveränitätsrechte an Brüssel abzutreten. Ich glaube, das ist ein Vorgang, den man eigentlich verstehen muss. Ich habe den Brief als unglücklich empfunden, habe das den Kollegen auch gesagt. Insofern ist Übereinstimmung mit dem französischen Präsidenten. Aber ich glaube nicht, dass diese Erfahrung der Integration wirklich im Wege steht. Im Gegenteil, manchmal sind solche Erfahrungen ja auch geeignet, dass deutlich wird: Nächstes Mal machen wir es besser. Insofern glaube ich nicht, dass die Beitrittskandidaten eine Position einnehmen: Wir wollen zwar was von Europa, wollen aber nichts geben. Man gibt immer einen partiellen Verzicht auf die volle nationale Souveränität. Das ist so, wenn man in ein solches Gebilde eintritt. Und man bekommt dafür nicht unerhebliche Hilfen bei der Entwicklung der eigenen Wirtschaft und Gesellschaft. Beides gehört zusammen, das muss ein Geben und Nehmen und nicht nur ein Nehmen sein.
Burchardt: Kann es sein, dass gerade diese sich jetzt wieder verfestigende Freundschaft zwischen Paris und Berlin – politische Freunde, haben Sie mal gesagt, kann es eigentlich gar nicht geben –, dass diese sich neu etablierende festere Beziehung nicht nur die Amerikaner, sondern auch die Europäer irritiert?
Schröder: Politische Freunde kann es schon geben. Ich habe mal gesagt, Freundschaft ist eigentlich etwas sehr seltenes, was viel Zeit zur Pflege braucht – unter Menschen meine ich jetzt –, und die haben Politiker einfach nicht. Aber jenseits dessen gibt es schon eine freundschaftliche Beziehung zwischen dem französischen Präsidenten und mir. Ich will das nicht überhöhen und überzeichnen, aber wir verstehen uns sehr gut. Das ist das eine. Das andere ist: Es gibt gelegentlich Ängste, wenn Deutschland und Frankreich einig sind. Aber ich sage es noch einmal: Wenn wir es nicht sind, gibt es noch mehr Ängste. Und insofern müssen wir immer mit dieser gelegentlich beiläufig gedachten, gelegentlich auch geäußerten Kritik leben. Man muss in der jeweiligen Situation das Richtige tun. Das haben wir in der Landwirtschaftsfrage getan, sonst wäre der Europäische Rat in Kopenhagen, der die Erweiterung beschlossen hat, so nicht abgelaufen. Und das werden wir auch in anderen Fragen tun und werden uns dann der Kritik stellen. Es gibt keinen Machtanspruch Frankreichs und Deutschlands gegen andere. Es gibt die Zusammenarbeit Frankreichs und Deutschlands für Europa, und damit für andere.
Burchardt: Es gab aber auch einmal bei Helmut Schmidt zu seiner Zeit den Begriff des ‚Paymasters’ – oder Margret Thatcher, die mal sagte: I want my money back. Und Sie haben ja auch jetzt am Freitag noch mal darauf hingewiesen, dass Deutschland sehr viel einzahlt in die Euro-Kasse.
Schröder: Ja, wir zahlen netto sieben Milliarden Euro, wir stehen gerade für ein Viertel des europäischen Haushalts. Ich habe aber hinzugefügt: Wir wissen, warum wir das machen, weil – wir sind Teil dieses Europas und nur als solches denkbar, und wir wollen auch nichts anderes. Im Übrigen, das will ich auch klar sagen in diesem Zusammenhang: Wir sind auf diesen Märkten fast überall die Nummer Eins – was den Handel angeht, was die Investitionen angeht. Und deswegen haben wir natürlich auch ein Interesse daran, mitzuhelfen, dass diese Märkte sich entwickeln. Also, die Nettozahlerposition ist keineswegs nur Geben. Da kommt auch mancher Auftrag für die deutsche Industrie zurück.
Burchardt: Herr Bundeskanzler, danke für dieses Gespräch.
Burchardt: Gleichwohl, die ‚Deutschland AG’, wie Sie es ja so oft und so gern bezeichnen, ist ins Schleudern geraten, ins Trudeln vielleicht noch nicht so richtig. Was sagt denn die ‚Ich-AG’ Bundeskanzler Gerhard Schröder zu diesem Status, auch nach den jetzt ja wieder gemischten Reaktionen auf Ihre Rede, die ja im Verhältnis zu dem, was man möglicherweise hätte erwarten können, relativ moderat gewesen ist?
Schröder: Moderat von den Gruppen, von denen wir sonst moderate Reaktionen ja nicht erwarten konnten. Das heißt, auch in den Verbänden der Wirtschaft – von Ausnahmen abgesehen – ist begriffen worden, dass hier weitreichende Reformmaßnahmen in Gang gesetzt worden sind. Ich habe übrigens nie verschwiegen, dass es Reformbedarf gibt in Deutschland, insbesondere auf dem Arbeitsmarkt und bei den sozialen Sicherungssystemen. Das hängt schlicht mit der Tatsache zusammen, dass wir eine älter werdende Gesellschaft sind – mit der Folge natürlich, dass immer weniger Junge für immer mehr Ältere sorgen müssen; das drückt auf das, was man Lohnnebenkosten nennt – und natürlich, dass Globalisierung bis weit in den Mittelstand hinein verschärfte Konkurrenzprobleme aufwirft. Darauf müssen wir reagieren. Das heißt nicht Abbau der sozialen Sicherungssysteme, das heißt ihre Veränderung. Das habe ich am Freitag angekündigt - natürlich nicht ohne Opfer für viele, aber notwendig. Und ich bin ganz sicher, es wird in Deutschland begriffen, dass das notwendig ist, um einen Standard zu erhalten, der Massenwohlstand weiter ermöglicht und für diejenigen, die Schwierigkeiten haben, auch soziale Sicherung weiter ermöglicht.
Burchardt: Ist das Stichwort ‚Massenwohlstand’ nicht inzwischen eine schöne Chimäre, gerade angesichts der augenblicklichen sozialpolitischen Verwerfungen weltweit. Wir haben auch das Risiko eines möglichen Irak-Krieges. Sie haben eine Agenda 2010 vorgestellt am letzten Freitag. Wie viel Mut und wie viel Klarsicht gehört eigentlich dazu, auf die nächsten sieben Jahre wirklich prognostisch klare Daten anzudeuten?
Schröder: Sie haben ein Thema genannt, das deutlich zeigt, dass man Prognosen zurückhaltend machen muss – Irak nämlich. Natürlich – so oder so, je nachdem, ob es uns gelingt, die friedliche Abrüstung des Iraks durchzusetzen, oder ob es Krieg im Irak gibt – wird das Auswirkungen auf die Weltwirtschaft, auch auf die deutsche Wirtschaft haben, keine Frage.
Burchardt: Ist denn Ihre Agenda schon obsolet?
Schröder: Das würde ich so nicht sagen, denn ich habe ja deutlich gemacht, dass für den Fall eines längeren Krieges mit negativen Folgen für die Weltwirtschaft die Europäer gerüstet sein müssen. Das geht auf der Basis des Stabilitätspaktes, insofern ist das einbezogen worden, aber so einbezogen, dass ganz klar geblieben ist, dass wir den Krieg verhindern wollen und nicht mit seinem Stattfinden gleichsam rechnen. Aber natürlich: Jede Prognose – bei der rasanten Veränderung in der wirtschaftlichen Basis unserer Gesellschaft – ist mit Zweifeln verbunden und mit Unsicherheiten. Übrigens, wir stützen ja unsere Prognosen sehr häufig auf die wissenschaftlichen Institute, auf die Forschungsinstitute – die fünf großen, die es gibt –, auf die . . .
Burchardt: . . . die sich regelmäßig irren und korrigieren . . .
Schröder: . . . auf den Sachverständigenrat – die sich irren –, und selbst Journalisten sollen sich gelegentlich irren.
Burchardt: Das glaube ich nicht. Herr Bundeskanzler, wir kommen sicher auf den Irak auch noch zu sprechen. Dennoch haben Sie hier schon ein Stichwort genannt, was natürlich innenpolitische Bedeutung hat, das heißt ‚Stabilitätspakt’. Man hat den Eindruck, dass die Frage, wie weit und wie lange man den Stabilitätspakt noch beibehalten kann, auch davon abhängt, wie lange noch der Frieden zu bewahren ist. Ist es denkbar, dass im Falle eines Krieges der Stabilitätspakt zur Disposition gestellt wird oder auch werden muss?
Schröder: Nein, der Pakt nicht, denn das ist ja das Interessante, das oft übersehen wird, dass der Pakt selber für unvorhergesehene Ereignisse mit tiefgreifenden Folgen Reaktionsmöglichkeiten vorsieht. Das heißt, man kann auf der Basis des Stabilitätspaktes über Ziele und über Zeiträume, die ansonsten eingehalten werden müssten, durchaus diskutieren. Das betrifft Ziele wie Verschuldung ebenso wie die Frage, wann der Konsolidierungsprozess abgeschlossen sein soll. Aber das ist keine aktuelle Debatte. Wir wollen, und das muss ganz klar bleiben, agieren auf der Basis des Stabilitätspaktes, aber nicht mit einer schematischen und statischen Anwendung dieses Paktes, sondern mit den Möglichkeiten, die er selber bietet. Das ist im übrigen abgesprochen mit der Europäischen Kommission, und das wird auch auf der Sitzung der Staats- und Regierungschefs jetzt am 20., also in der nächsten Woche in Brüssel und der Finanzminister im sogenannten Ecofinrat, also im Rat derer, die Währungspolitik auf der finanziellen Seite zu treiben haben – auf der Geldseite macht es ja die selbständige EZB –, da wird das auch besprochen werden. Im Übrigen: Alles, was wir auf der Basis des Paktes machen, muss sinnvollerweise europäisch abgesprochen sein, sonst kann es nicht funktionieren.
Burchardt: Würde es denn sinnvoll sein - wie man in Europa sagt -, ‚die Uhren anzuhalten’ oder möglicherweise Deutschland Sonderkonditionen deshalb einzurichten - Sie haben darauf hingewiesen -, weil ja die Kosten der Einheit nun überproportional sind?
Schröder: Das wäre früher eine Möglichkeit gewesen, ich glaube, heute nicht mehr. Nicht, weil wir die Kosten nicht mehr aufzubringen hätten – ich habe ja davon gesprochen, dass wir wirklich auch mit Freude und aus Überzeugung dieses Leistung erbringen, aber ich sehe keine Chance, sie aus den Berechnungen des Stabilitätspaktes herauszuhalten. Ich sage es noch einmal: Ich glaube, im Interesse der Währung, im Interesse von Stabilität ist dieser Pakt wichtig, aber gelegentlich ist er nur bezogen auf das eine Ziel, nämlich Einhalten der Defizitgrenzen, interpretiert worden. Und so ist er, jedenfalls so weit ich an der Diskussion teilgenommen habe, nie gemeint gewesen. Er heißt ja nicht nur einfach ‚Stabilitätspakt’, sondern es ist ja auch von Wachstum die Rede.
Burchardt: War es so gesehen – nachträglich – ein Fehler von Helmut Kohl, dass er beim Deutschlandgipfel 1990 den europäischen Partnern sagte, wir könnten die Einheit aus der Portokasse bezahlen und keine europäische Verpflichtung eingefordert hat?
Schröder: Das war sicher ein Fehler. Ob eine europäische Verpflichtung einzufordern erfolgreich gewesen wäre, will ich mal dahingestellt sein lassen. Aber man sollte jetzt auch der historischen Fairness wegen sagen: Es ist wohl ein Fehler, den alle gemacht haben. Es haben einzelne darauf hingewiesen, dass diese Leistung sinnvollerweise steuerfinanziert und nicht über die Lohnnebenkosten finanziert werden sollten, aber ich glaube, dass man das nicht einseitig abladen kann. In der Tat, es sind Fehler gemacht worden, weil die deutsche Einheit, statt sie von allen Steuerbürgern finanzieren zu lassen, finanziert worden ist über die Unternehmen auf der einen Seite und die aktiv Beschäftigten auf der anderen Seite. Das hat ja dazu geführt, dass wir jetzt unter enormen Druck gekommen sind. Die Lohnnebenkosten sind von 1992 – da betrugen sie 34 Prozent – bis 98 auf dann 43 Prozent gestiegen. Und wir müssen sie jetzt runterbringen. Verglichen mit damals ist die Forderung von vielen unter 40 ja eher eine bescheidene Forderung, aber eine, die wir durchsetzen müssen.
Burchardt: Sie sind ja auch Parteivorsitzender bei den Sozialdemokraten. Nicht nur in der Fraktion, sondern auch in der Partei gibt es logischerweise Unruhe, weil einige den Eindruck haben, dass durch Ihre Agenda jetzt, die insbesondere natürlich Einschnitte im sozialen Netz mit sich bringen wird, gerade die Schwachen der Gesellschaft auch zur Kasse gebeten werden. Halten Sie das aus, oder wäre es sinnvoll, möglicherweise auch Ihre Ämter zu trennen?
Schröder: Nein, ich glaube nicht, dass das in Rede steht zurzeit. Man kann immer über solch eine Frage diskutieren, aber ich glaube, sowohl die Partei als auch diejenigen, mit denen ich die Regierung zu bilden habe, würden das nicht gut finden, wenn das jetzt geteilt werden würde. Daraus soll man keine Prinzipienfrage machen, aber im Moment steht das nicht zur Debatte. Was die Frage der Belastung angeht, nur soviel: Ich denke, man muss sehen, dass zum Beispiel die Begrenzung der zeitlichen Dauer der Zahlung von Arbeitslosengeld auf jetzt zwölf Monate im Regelfall – für Ältere gibt es ja Ausnahmen -, dass die zu tun hat mit den Veränderungen in der Bundesanstalt für Arbeit und mit den verbesserten Vermittlungsmöglichkeiten, die die Bundesanstalt hat beziehungsweise haben wird. Das muss man im Zusammenhang sehen. Aber klar ist - und das will ich auch nicht zurücknehmen -, wir werden bei den sozialen Leistungen gucken müssen: Was können wir noch bezahlen, auch angesichts der Veränderung im Altersaufbau unserer Gesellschaft? Und wenn wir etwas nicht mehr bezahlen können, dann müssen wir das auch klar sagen. Ich habe sehr deutlich gesagt, und dazu stehe ich, ich will die Substanz von Sozialstaatlichkeit retten. Aber angesichts der veränderten wirtschaftlichen Bedingungen heißt das, es kann nicht alles so bleiben wie es ist, denn sonst wird es schlimmer. Wir müssen verändern, um die Substanz erhalten zu können. Das ist der Zusammenhang, auf den es mir ankommt.
Burchardt: Sie haben eine zeitlang eine Politik der ‚ruhigen’ Hand betrieben, das haben Sie nachträglich doch bedauert. Kommt jetzt die Politik der ‚harten’ oder vielleicht auch der ‚eisernen’ Hand?
Schröder: Das sind immer so Begrifflichkeiten. ‚Ruhig’ hieß damals, in einer Situation, wo alle über wilde Programme diskutierten, zu sagen: Nun lasst uns mal das, was ein Programm bringen kann, auch wie es finanziert ist, genau angucken, damit man Vor- und Nachteile gegeneinander abwägen kann. Ich habe hier ja ein Programm vorgeschlagen, bei dem ich fest davon ausgehe, dass es nützlich ist. Acht Milliarden Euro für Häuslebauer und –besitzer, damit die das Dach in Ordnung bringen können oder die Heizung erneuern können, Wärmedämmung machen können oder was auch immer, zu billigen, runtersubventionierten Zinsen. Das ist keine Verschuldung, sondern wird sauber aus dem Haushalt finanziert und dann von der Kreditanstalt für Wiederaufbau entsprechend begleitet. Das ist verantwortbar, das kann man machen. Das Gleiche gilt für die Kommunen, denen muss man noch etwas mehr unter die Arme greifen, weil sie häufig klamm sind – übrigens nicht alle, auch da gilt es zu differenzieren. Aber das wird geschehen, und insofern denke ich, diese 15 Milliarden Euro sind insbesondere im Bau- und Baunebengewerbe gut angelegtes Geld.
Burchardt: Wobei, Herr Bundeskanzler, gerade dieser Aspekt ja von Ihnen noch vor Monaten anders gesehen wurde. Sie haben damals von ‚Mitnahmeeffekten’ gesprochen und von ’Strohfeuer’, was man ja immer bei diesen sogenannten Konjunkturprogrammen hört. Und es gibt auch in Ihrer Fraktion Leute, die gesagt haben: Warum hat er diese Regierungserklärung nicht schon nach der Wahl gehalten, warum fünf Monate zu spät?
Schröder: Ja, da würde ich mal – ob es zu spät ist, weiß ich nicht, aber manchmal ist es ja so, dass es auch erst eine bestimmte Debatte geben muss, bevor man für eine solche ja durchaus auch prononcierte Position Mehrheiten bilden kann. An der Reaktion der Fraktion, auch der Partei, haben Sie gesehen, dass das entgegen dem, was die Auguren so geflüstert haben, möglich gewesen ist. Da ist es manchmal so, dass man auch auf den richtigen Zeitpunkt setzen muss.
Burchardt: Also, eine neue Vertrauensfrage wird nicht nötig sein?
Schröder: Nein. Davon gehe ich ganz fest aus. Das war auch klar angesichts der Reaktion der Fraktion, der Fraktionsführung. Das wird jetzt umgesetzt, was beschlossen worden ist. Nochmal zurück zu den sogenannten ‚Strohfeuerprogrammen’. Das habe ich immer bezogen auf schuldenfinanzierte, denn das holt uns ein. Das ist nicht verschuldenfinanziert, sondern es ist eines, wo das, was aufgebracht werden muss für die Zinssubventionen der Kreditanstalt für Wiederaufbau, aus dem Bundeshaushalt erstattet wird. Es wird also gerechnet und ist nicht durch zusätzliche Verschuldung zu finanzieren.
Burchardt: Soweit vielleicht zum Mut zur Veränderung. Das zweite Motto war: Mut zum Frieden. Ist ein Irak-Krieg noch vermeidbar?
Schröder: Ich hoffe es, aber ich habe meine Zweifel. Das will ich gerne sagen. Und da unterscheide ich mich ja nicht sehr von der Meinung, die im deutschen Volk verbreitet ist. Wir arbeiten daran mit unseren Partnern - Frankreich insbesondere, aber auch Russland, China, andere. Ob es gelingt, ist eine Frage, die letztlich – glaube ich – vor allen Dingen in den Vereinigten Staaten von Amerika entschieden werden wird und weniger von den Partnern, wie immer sie sich positioniert haben. Ich habe meine Zweifel, aber ich will die Hoffnung und die Arbeit daran nicht aufgeben.
Burchardt: Sie waren in der zu Ende gegangenen Woche bei Tony Blair. Haben Sie bei Blair eine mögliche Meinungsänderung oder Tendenzen zur Nachdenklichkeit gesehen, denn er hat ja doch ziemlich klar zunächst sich an die Seite von George Bush gestellt?
Schröder: Wir haben unter vier Augen gesprochen. Deswegen verbietet sich detaillierte Auskunft. Aber so viel kann ich sagen, ich glaube, ohne irgendjemandem zu nahe zu treten: Die Reise hatte nicht den Sinn, dass der eine den anderen überzeugt, sondern wir wussten voneinander, dass wir unterschiedliche Position in dieser Frage haben. Der Anlass war ja, gemeinsam eine Kunstausstellung ‚Dresdner Meisterwerke’ zu eröffnen. Das Gespräch, das natürlich dann stattgefunden hat, drehte sich vor allen Dingen um europäische Fragen und sollte auch deutlich machen, dass – unabhängig von den Meinungsverschiedenheiten in der Irak-Frage – Großbritannien und Deutschland so viel miteinander gemeinsam haben, so viele Aufgaben miteinander haben - auch und gerade in Europa -, dass diese Meinungsverschiedenheit das andere nicht überlagern darf. Das gilt im Übrigen auch für die persönliche Freundschaft zwischen Herrn Blair und mir.
Burchardt: George Bush wirkt im Augenblick, zumindest was die Kritiker seines Kurses angeht, demgegenüber ziemlich beratungsresistent. Halten Sie noch einen Zeitpunkt für denkbar, wo Sie mal zum Telefon greifen und George Bush anrufen?
Schröder: Das ist ja häufig gefragt worden. Es gibt auf allen Ebenen Gesprächskontakte, und ich denke, dass die Positionen auf beiden Seiten hinreichend bekannt sind. Ich habe mich einem Gespräch nie verweigert, aber ich finde, sich aufzudrängen ist auch falsch.
Burchardt: Kann es nicht sein, dass man in Washington auch mal einen Schritt von Ihnen erwartet?
Schröder: Ja, das würde ja über die Mitarbeiter vereinbart werden. Das sind die üblichen Verfahren. Also ich denke, auch in dieser Frage ist klar und muss klar bleiben: Die Meinungsverschiedenheiten hier werden die Substanz der deutsch-amerikanischen Beziehungen nicht negativ, jedenfalls nicht auf Dauer, beeinträchtigen. Das ist unser beider Position, die ist wiederholt erklärt worden. Es gibt so viele Gemeinsamkeiten in der Kultur, in der Politik, in der Ökonomie vor allen Dingen, dass diese Meinungsverschiedenheit eine zwischen Freunden ist, die auch einmal ausgehalten werden muss. Im Übrigen, ich habe immer wieder gesagt: Die Kritik an Deutschland, die gelegentlich zu hören ist – nicht von der Spitze der amerikanischen Regierung, aber von dem einen oder anderen im Umfeld –, ist nicht berechtigt. Ohne uns liefe in Afghanistan wenig. Wir sind Leadnation mit 2.500 Leuten in Kabul und Umgebung. Auf dem Balkan – jetzt wieder krisenhaft wegen dieses tragischen und mich persönlich sehr berührenden Attentats auf Djindjic – und auch im Rahmen von Enduring Freedom ist Deutschland engagiert. Ich glaube, wenn die Vereinigten Staaten in Amerika, unsere Freunde, dort genau hinschauen, dann werden sie sehr genau gucken, wer sich nur verbal betätigt und wer wirklich was macht. Wir tun was, aber eben nicht im Irak. Das haben wir immer erklärt, und ich glaube, das ist da auch verstanden worden.
Burchardt: Wobei gerade zu diesem Thema jenseits des Atlantiks schon gewisse Irritationen über eine so genannte ‚Achse des Guten’ entstanden ist, nämlich die Achse Paris-Berlin-Moskau-Peking. Das sind ja neue Töne. Gehört das auch zu einer geopolitischen Veränderung, oder ist das eine Augenblickaufnahme?
Schröder: Nein, nein, das als eine Achse zu bezeichnen, so weit wird niemand der Partner gehen, und wir natürlich auch nicht. Zwischen Deutschland und Frankreich, das ist ja bekannt, gibt es besondere, sehr enge Beziehungen. Die beziehen sich auf das bilaterale Verhältnis, wir haben ja gerade 40 Jahre Elysée sehr festlich begangen, und da ist die Substanz dieser französisch-deutschen Beziehung auch noch einmal sehr deutlich geworden. Dass sie sich auch auf Europa beziehen, ist klar. Es läuft wenig in Europa, wenn Deutschland und Frankreich sich nicht zusammentun. Im Übrigen: Gelegentlich werden wir dafür kritisiert, aber wenn wir es nicht tun, dann werden wir von den Partnern noch mehr kritisiert, weil dann Entscheidungen nicht recht vorankommen. Und die Erweiterungsentscheidungen zeigen, dass, wenn Deutschland und Frankreich zusammen sind, das dann auch funktioniert. Das sind die Gründe, aber man soll da nichts überhöhen. Trotzdem, ich freue mich, dass alles Gerede über eine angeblich deutsche Isolierung im Weltsicherheitsrat oder in den Vereinten Nationen natürlich ziemlich weit hergeholte parteipolitische Propaganda ist. Ich fühle mich jedenfalls mit der Position, die wir eingenommen haben, nicht isoliert. Und ich glaube, ich kann das mit guten Gründen sagen.
Burchardt: Sollte es in der kommenden Woche noch eine zweite Resolution geben, wie müsste die aussehen, damit auch Deutschland sie unterschreiben könnte?
Schröder: Wir sollen umgekehrt diskutieren. Wir könnten immer akzeptieren, dass es - am besten übrigens vorgeschlagen von den Inspektoren – klare Zielmarken gibt, Benchmarks sozusagen, die die Inspektoren, die Herr Blix festlegt, mit zeitlichem Rahmen versehen . . .
Burchardt: . . . aber damit sind die Engländer ja schon gescheitert.
Schröder: Das kann ich mir durchaus vorstellen. Dass aber jeder Automatismus verhindert werden muss, jeder Automatismus zum Krieg – einer solchen Resolution könnten wir nicht zustimmen. Auch das habe ich ja vor Monaten klar gemacht, dass wir einer kriegslegitimierenden Resolution nicht zustimmen können. An dieser Position hat sich nichts geändert. Und natürlich – im Moment sieht es so aus, als würde es eine zweite Resolution eher nicht geben. Aber ich kann da keine feststehende und für alle Zeiten geltende Prognose wagen. Die deutsche Position ist klar, die wird sich auch nicht verändern.
Burchardt: Erwarten Sie denn, dass Sie rechtzeitig informiert werden, wie die Amerikaner sich letztendlich verhalten?
Schröder: Wir sind ja Mitglied des Sicherheitsrates, nicht ständiges, aber für die nächsten zwei Jahre Mitglied. Insofern haben wir kein Problem, was Informationen angeht.
Burchardt: Zu dieser Achse, über die ich eben gesprochen habe, gehört Frankreich. Das Verhältnis Deutschland-Frankreich schien ja vor einigen Wochen etwas gestört zu sein. Es scheint jetzt wieder besser auszuschauen. Aber das wirft ja schon mal die Frage auf, inwieweit, Herr Bundeskanzler, in Europa – EU-Europa vor allem – sich die Machtfrage neu stellt. Wir haben ja gesehen, dass insbesondere die Ost erweiternden Staaten sich nun anders verhalten haben, auch mal aufgemuckt haben, wenn man das so sagen darf. Gibt es hier vielleicht noch in Zukunft größere Hindernisse bei dem Aufbau einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik?
Schröder: In Europa stellen sich keine Machtfragen im klassische Sinne mehr. Dass es unterschiedliche Einschätzungen gelegentlich gibt, das ist nichts Neues für Europa. Und was die osteuropäischen Staaten angeht, muss man vielleicht verstehen, dass die Staaten, die seit einem Dutzend Jahren erst ihre Souveränität wiedererlangt haben, was sie vorher nur begrenzt hatten als Teil des damaligen Ostblocks und des Warschauer Paktes, dass die natürlich mehr Schwierigkeiten haben als Deutsche und Franzosen, Souveränitätsrechte an Brüssel abzutreten. Ich glaube, das ist ein Vorgang, den man eigentlich verstehen muss. Ich habe den Brief als unglücklich empfunden, habe das den Kollegen auch gesagt. Insofern ist Übereinstimmung mit dem französischen Präsidenten. Aber ich glaube nicht, dass diese Erfahrung der Integration wirklich im Wege steht. Im Gegenteil, manchmal sind solche Erfahrungen ja auch geeignet, dass deutlich wird: Nächstes Mal machen wir es besser. Insofern glaube ich nicht, dass die Beitrittskandidaten eine Position einnehmen: Wir wollen zwar was von Europa, wollen aber nichts geben. Man gibt immer einen partiellen Verzicht auf die volle nationale Souveränität. Das ist so, wenn man in ein solches Gebilde eintritt. Und man bekommt dafür nicht unerhebliche Hilfen bei der Entwicklung der eigenen Wirtschaft und Gesellschaft. Beides gehört zusammen, das muss ein Geben und Nehmen und nicht nur ein Nehmen sein.
Burchardt: Kann es sein, dass gerade diese sich jetzt wieder verfestigende Freundschaft zwischen Paris und Berlin – politische Freunde, haben Sie mal gesagt, kann es eigentlich gar nicht geben –, dass diese sich neu etablierende festere Beziehung nicht nur die Amerikaner, sondern auch die Europäer irritiert?
Schröder: Politische Freunde kann es schon geben. Ich habe mal gesagt, Freundschaft ist eigentlich etwas sehr seltenes, was viel Zeit zur Pflege braucht – unter Menschen meine ich jetzt –, und die haben Politiker einfach nicht. Aber jenseits dessen gibt es schon eine freundschaftliche Beziehung zwischen dem französischen Präsidenten und mir. Ich will das nicht überhöhen und überzeichnen, aber wir verstehen uns sehr gut. Das ist das eine. Das andere ist: Es gibt gelegentlich Ängste, wenn Deutschland und Frankreich einig sind. Aber ich sage es noch einmal: Wenn wir es nicht sind, gibt es noch mehr Ängste. Und insofern müssen wir immer mit dieser gelegentlich beiläufig gedachten, gelegentlich auch geäußerten Kritik leben. Man muss in der jeweiligen Situation das Richtige tun. Das haben wir in der Landwirtschaftsfrage getan, sonst wäre der Europäische Rat in Kopenhagen, der die Erweiterung beschlossen hat, so nicht abgelaufen. Und das werden wir auch in anderen Fragen tun und werden uns dann der Kritik stellen. Es gibt keinen Machtanspruch Frankreichs und Deutschlands gegen andere. Es gibt die Zusammenarbeit Frankreichs und Deutschlands für Europa, und damit für andere.
Burchardt: Es gab aber auch einmal bei Helmut Schmidt zu seiner Zeit den Begriff des ‚Paymasters’ – oder Margret Thatcher, die mal sagte: I want my money back. Und Sie haben ja auch jetzt am Freitag noch mal darauf hingewiesen, dass Deutschland sehr viel einzahlt in die Euro-Kasse.
Schröder: Ja, wir zahlen netto sieben Milliarden Euro, wir stehen gerade für ein Viertel des europäischen Haushalts. Ich habe aber hinzugefügt: Wir wissen, warum wir das machen, weil – wir sind Teil dieses Europas und nur als solches denkbar, und wir wollen auch nichts anderes. Im Übrigen, das will ich auch klar sagen in diesem Zusammenhang: Wir sind auf diesen Märkten fast überall die Nummer Eins – was den Handel angeht, was die Investitionen angeht. Und deswegen haben wir natürlich auch ein Interesse daran, mitzuhelfen, dass diese Märkte sich entwickeln. Also, die Nettozahlerposition ist keineswegs nur Geben. Da kommt auch mancher Auftrag für die deutsche Industrie zurück.
Burchardt: Herr Bundeskanzler, danke für dieses Gespräch.