Sonntag, 28. April 2024

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Gerhardt: EU darf Türkei-Verhandlungen nicht "vor die Wand fahren"

Der FDP-Politiker Wolfgang Gerhardt hat die Europäische Union vor einem Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei gewarnt. "Jetzt sozusagen hinzuwerfen und aufzuhören, das wäre ein Fehler", sagte der außenpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion. Die EU habe von Anfang an gewusst, dass die Türkei mit der Zypernfrage Schwierigkeiten habe.

Moderation: Jochen Spengler | 29.11.2006
    Jochen Spengler: Ob er es wirklich wörtlich gesagt hat, das wissen wir nicht, aber der türkische Ministerpräsident Erdogan hat Papst Benedikt XVI. jedenfalls so verstanden, und das hat er auch der Öffentlichkeit bekannt gegeben, nämlich dass der Papst für einen EU-Beitritt der Türkei plädiere. Wie auch immer: Rückendeckung in der Beitrittsfrage kann das Land am Bosporus derzeit gut brauchen, denn die Beitrittsgespräche drohen, in wenigen Tagen auf Eis gelegt zu werden, und das hängt vor allem mit Zypern zusammen. Die Türkei weigert sich, ihre Flug- und Seehäfen zu öffnen für Flugzeuge und Schiffe aus dem EU-Mitgliedsland Zypern. Das ist der griechische Südteil der Mittelmeerinsel. Das muss man dazu sagen. Dazu hatte sich die Türkei im so genannten Ankara-Protokoll verpflichtet. Aber Ankara weigert sich, solange die EU nicht ihr Versprechen einlöst, dem zyprisch-türkischen Nordteil der Insel wirtschaftlich zu helfen und seine Isolierung zu beenden.

    Am Telefon begrüße ich Wolfgang Gerhardt, den außenpolitischen Experten der FDP-Bundestagsfraktion. Guten Morgen, Herr Gerhardt!

    Wolfgang Gerhardt: Hallo, guten Morgen!

    Spengler: Der Papst ist angeblich für den EU-Beitritt der Türkei. Sie auch?

    Gerhardt: Ja. Ich glaube, dass, wenn die Türkei alle Bedingungen erfüllt, wobei Bedingungen nicht repressiv gemeint ist, sondern eigentlich die Möglichkeiten ausschöpft, die sie hat, wird das in acht bis zehn Jahren der Fall sein, nicht heute.

    Spengler: Wie kommt man denn heraus aus der momentan verfahrenen Situation? Soll die EU hart bleiben und die Beitrittsverhandlungen abbrechen, was ja manche fordern?

    Gerhardt: Die EU wusste von Anfang an, dass die Türkei mit diesem Thema Schwierigkeiten hat. Dann hätte man das entweder vor Beginn der Verhandlungen behandeln müssen, was meine Auffassung war, Verhandlungen erst beginnen, wenn auch das klar ist. Man kann die Türkei aus dieser Frage nicht entlassen. Aber jetzt sozusagen hinzuwerfen und aufzuhören, das wäre ein Fehler. Die Türkei muss über diese eigene Tabuschwelle hinweg. Da gibt es gar keine Frage. Das muss auch innerhalb der nächsten Monate klar sein. Man soll nicht ewig zuwarten. Aber ich bin dagegen, dass man das immer so abrupt vor die Wand fährt und dann sagt, man kann jetzt nicht mehr weiterverhandeln.

    Spengler: Sie haben ja gerade schon die Mitverantwortung der EU angesprochen. Ursprünglich wollte die EU - das war feste Verabredung - nur ein wiedervereinigtes Zypern aufnehmen. Die Wiedervereinigung haben aber die griechischen Zyprer niedergestimmt, und Griechenland hat dann den Beitritt des nichtvereinigten Zypern erpresst. So muss man das sagen. Wieso sollte die Türkei dieses Zypern anerkennen?

    Gerhardt: Weil die Türkei die Lage nehmen muss, wie sie ist. Man kann sich nicht die Welt schöner malen und backen, wie sie tatsächlich ist. Wir müssen die Realitäten sehen. Die Zyprioten - und zwar beide Teile - haben eben so abgestimmt, wie sie abgestimmt haben. Darauf konnte sich die Türkei auch schon länger einstellen. Wir haben in Deutschland auch manches überwinden müssen in der alten Deutschland-Politik, was geradezu ein nationales Tabu war. Wenn ich mal daran erinnern darf, eine viel größere Frage. Wir haben dann schließlich die Oder-Neiße-Linie anerkannt. Die Debatten, an die will ich gar nicht mehr zurückdenken, mit welchem Vokabular die geführt worden sind. Nein, die EU und die Türkei müssen sich der tatsächlichen Lage stellen. Wenn die Türkei Mitglied der EU werden will, muss sie auch mit dieser Realität, wie sie die Menschen geschaffen haben, zurecht kommen.

    Spengler: Welche Zugeständnisse gibt es denn von Seiten Zyperns an die Türkei?

    Gerhardt: Ich glaube, dass die Menschen auf Zypern und auch der griechische Teil wirklich wissen müssen, dass im Grunde es ein Anachronismus ist, in der heutigen Zeit, in diesem begonnenen neuen Jahrtausend eine derartige Lage auf der Insel herbeizuführen, die nicht zur Vereinigung fähig ist. Das ist klar. Aber nun haben wir es nicht in der Hand. Man soll der Türkei jetzt nicht mit Abbruch der Verhandlungen drohen. Man könnte einige Kapitel aussetzen, um etwas mehr Tempo in die Verhandlungen zu bringen. Das kann man bereden. Aber ich glaube, dass innerhalb der deutschen Präsidentschaft im Frühjahr des nächsten Jahres ein Einvernehmen herbeigeführt werden muss.

    Spengler: Stimmen Sie der Analyse zu, dass das eigentliche Problem tatsächlich die Betonköpfe, die griechischen Betonköpfe in Nikosia sind und dass man eigentlich …

    Gerhardt!: Das waren auch jahrelang andere Betonköpfe. Zuletzt nach dem von mir begrüßten Vorschlag von Kofi Annan war es leider die griechische Seite mit sehr engstirnigen Entscheidungen, die die Möglichkeiten blockiert hat. Aber ich glaube, man kann auf beiden Seiten in der Geschichte Zyperns im letzten Jahrzehnt jeweils Persönlichkeiten ausmachen, die sehr engstirnig waren.

    Spengler: Das ist wohl wahr, aber in den letzten fünf Jahren muss man der Türkei oder, sagen wir, mal den türkischen Zyprioten eigentlich zubilligen, dass sie jede Menge Zugeständnisse gemacht haben. Sie haben zum Beispiel Herrn Denktasch in die Wüste geschickt. Sie haben für die Wiedervereinigung gestimmt. Welche Garantie hat denn die Türkei eigentlich, dass die EU ihre zahllosen Versprechungen einhält, die sie bislang nicht eingehalten hat? Also zum Beispiel weg mit der Isolierung des Nordteils Zyperns.

    Gerhardt: Ich glaube, dass die Türkei allen Grund hat, auch von der EU Fairness zu verlangen im Hinblick auf die Verabredungen, die man getroffen hat. Das wird die EU dann auch leisten müssen. Aber aus der Lage kommen wir nun nicht heraus, wenn die Türkei sagt, sie öffnet auf keinen Fall ihre Häfen und ihre Flughäfen.

    Spengler: Also Sie meinen, die Türkei, erster Schritt, muss die Häfen und Flughäfen öffnen und dann – ja, was dann? - kann die EU den Nordteil Zyperns tatsächlich wirtschaftlich unterstützen?

    Gerhardt: Es ist ganz einfach. Die Türkei hat ein Protokoll unterschrieben. Der Türkei ist nun auch schon seit längerer Zeit klar, wie die Lage auf Zypern ist. Und sie weiß, dass in den Verhandlungen sie diesen Sprung machen muss. Wenn sie dazu jetzt nicht in der Lage ist, muss sie wissen, sie muss innerhalb der nächsten Monate dazu in der Lage sein. Es kann keine unendliche Geschichte werden. Ich drücke es mal zwischen Menschen aus, so leid mir das tut. Die Lage ist, wie sie ist und wenn die Türkei Mitglied der Europäischen Union werden will, kann sie sich nicht anders verhalten.

    Spengler: Die EU als Vermittler scheidet aus, weil: Sie ist inzwischen Teil des Problems oder?

    Gerhardt: Ich glaube, dass die EU als Vermittler dieser Art vielleicht ausscheidet, aber auch die Mitgliedsstaaten. Deshalb habe ich in unserem Gespräch ja auch so begonnen. Auch die EU muss wissen, dass sie einen besseren Verhandlungsablauf gestalten muss. Als die Gespräche mit der Türkei begannen, hätte man das Thema lösen müssen.

    Spengler: Alle Verhandlungskapitel, die man bislang sich vorgenommen hat, werden blockiert durch Zypern?

    Gerhardt: Ja. Wenn man das so sehen will, könnte man jetzt in eine Warteschleife kommen, die dem ganzen keinen Gefallen tut. Ich will es mal sehr offensiv ausdrücken: Ich glaube, dass die Türkei vielleicht wegen der Führungsfrage gegenüber der eigenen Bevölkerung - und das muss die politische Elite der Türkei leisten - gegenwärtig in dieser Frage hakt. Aber politische Führung fordert auch manchmal zu unbequemen Entscheidungen heraus, und darum kommt die türkische Regierung nicht herum.

    Spengler: Das war Wolfgang Gerhardt, der außenpolitische Experte der Bundestagsfraktion der FDP. Danke, Herr Gerhardt für das Gespräch.

    Gerhardt: Danke Ihnen auch.