Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Germanist zu rassistischen Begriffen
„Von absoluten Wortverboten halte ich nichts“

Rassistische Äußerungen von Politikern sorgen immer wieder für Skandale. Über den Umgang mit den diskriminierenden Begriffen herrscht oft Unsicherheit. Dürfen sie in der Öffentlichkeit wiederholt werden? Ja, so der Linguist Thomas Niehr im Dlf. Um sie zu zitieren und metasprachlich auszuwerten.

Thomas Niehr im Gespräch mit Michael Köhler | 13.05.2021
Kundgebung auf dem Tübinger Marktplatz gegen Oberbürgermeister Boris Palmer (Die Grünen)
Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer steht nach rassistischen Äußerungen auf Facebook in der Kritik (IMAGO / ULMER Pressebildagentur)
Nutzen Politiker und Prominente in sozialen Medien oder bei Auftritten rassistische Begriffe, wird in der Öffentlichkeit kontrovers über den Umgang damit diskutiert. Wiederholt man diese Begriffe, weil es die Pflicht ist, sie zu dokumentieren? Oder gilt es, diese Wörter zu vermeiden, um sie nicht zu wiederholen? Stattdessen könnten Vermeidungsbegriffe, wie etwa das N-Wort, genutzt werden.
Das Spezialgebiet des Germanisten Thomas Niehr ist Politolinguistik. Er sagte im Deutschlandfunk, "absolute Verbote, ein Wort zu verwenden, die darf es nicht geben, denn in einer offenen Gesellschaft müssen die Karten auf den Tisch." Eine Gesellschaft, die bestimmte Begriffe nicht mehr hören wolle, müsse diese Wörter aussprechen dürfen.
Bilder einer Demonstration gegen das N-Wort in Hamburg
Medien und Grenzüberschreitungen - Boris Palmer und das N-Wort
Die Grünen wollen Boris Palmer aus der Partei ausschließen. Hintergrund sind Äußerungen des Tübinger Oberbürgermeisters auf Facebook. Aber was genau hat er dort eigentlich geschrieben? Der Fall zeigt, wie kompliziert die Berichterstattung ist.
Durch das Verbot eines bestimmten Wortes, sei das beleidigende, diskriminierende Denken ja nicht weg, so Niehr. Trotzdem müsse sich eine Gesellschaft diskursiv darüber verständigen, was sie in der Öffentlichkeit zulassen wolle.
Immer wieder nutzen Personen des öffentlichen Lebens Worte, die Skandale auslösen und die Gesellschaft irritieren. Beispielsweise beleidigte der AfD-Abgeordnete Jens Maier den Sohn des Ex-Tennisstars Boris Becker, Noah Becker, Anfang 2018 rassistisch auf Twitter. "Wenn Jens Maier von einem kleinen Neger spricht, dem zu viel Aufmerksamkeit geschenkt worden sei – und ich habe es jetzt zitiert und auch ausgesprochen – dann kann man natürlich davon ausgehen, dass die Intention ist, zu provozieren und eine Person zu verletzen", so Niehr.
Jens Maier, Richter am Landgericht Dresden und Bundestagskandidat der AfD, spricht auf dem AfD-Landesparteitag in Klipphausen (Sachsen) zu den Delegierten.
Radikale Sprache - Die AfD nimmt kein Blatt mehr vor den Mund
Beim AfD-Parteitag haben die Delegierten den Entwurf für ihr Wahlprogramm verschärft und damit radikale Botschaften ausgegeben. Wie die Partei das genau macht, das hat der Journalist Michael Kraske in seinem Buch "Tatworte" ausgeführt.
In Deutschland gibt es, gerade durch die Zeit der NS-Diktatur, historisch belastete Begriffe wie Endlösung oder Sonderbehandlung. Letzterer sei ein "zynischer Euphemismus für die Tötung von Juden", so der Germanist. Das Bewusstsein dafür gehe aber verloren. Im Internet werde der Begriff zunehmend unbedacht benutzt. "Wir müssen anerkennen, dass Sprache sich wandelt und dass möglicherweise auch Worte wie ‚Endlösung‘ in ganz anderen Kontexten benutzt werden."
Jim Knopf auf der Lokomotive Emma, Lukas der Lokomotivführer in der Lokomotive und der Postbote daneben.
Kinderbuchklassiker - Wie umgehen mit dem N-Wort in "Jim Knopf"?
Kinderbücher wie "Jim Knopf" aus dem Lesekanon zu streichen, weil darin das N-Wort vorkommt, "wäre schon eine extreme Zensur", sagte Heike Gfrereis vom Deutschen Literaturarchiv in Marbach im Dlf.
Auch in der Literatur wurden früher Begriffe verwendet, die aus heutiger Sicht problematisch sind, etwa die "Negerprinzessin" aus Astrid Lindgrens Kinderbuchklassiker Pippi Langstrumpf. Von nachträglichen Korrekturen hält der Linguist Thomas Niehr nichts.
"Das sind historische Texte und die zeigen uns ja einfach, dass Sprache sich ändert und Mentalitäten sich auch ändern, dass sich auch das Sprachbewusstsein einer Gesellschaft ändert und insofern sollte man die Texte so lassen, wie sie sind. Bei Kinderbüchern, die vielleicht noch vorgelesen werden, wäre es dann sicherlich gut, da eine Anmerkung anzubringen und zu sagen, heute wird dieses Wort nur noch diskriminierend verwendet. Das müssten die Vorlesenden ihren Kindern möglicherweise erklären. Aber solche Begriffe zu tilgen, halte ich für Unsinn."