Dienstag, 16. April 2024

Archiv

Gero Neugebauer zur GroKo
"Man hat Leuchttürme erwartet und sieht Teelichter"

Die SPD-Mitglieder haben einer Großen Koalition mehrheitlich zugestimmt. Doch nun müsse die Parteiführung auch mit einem echten Reformprogramm überzeugen, sagte Politikwissenschaftler Gero Neugebauer im Dlf. Und mit einem klaren politischen Profil - im Koalitionsvertrag stehe wenig Konkretes und die Themen würden nur rhetorisch angeschnitten.

Gero Neugebauer im Gespräch mit Christoph Heinemann | 04.03.2018
    Politologe Gero Neugebauer
    Die Wahl zur Kanzlerin am 14. März ist nach Einschätzung des Politikwissenschaftlers Gero Neugebauer nicht gefährdet - er rechne nur mit der ein oder anderen Gegenstimme (picture alliance / dpa / Freie Universität Berlin)
    Beim SPD Mitgliedervotum haben 66 Prozent für eine Fortführung der Großen Koalition gestimmt. Mit 78 Prozent war die Beteiligung höher als vor vier Jahren. Politikwissenschaftler Gero Negebauer wertet das Ergebnis als positiv im Sinne der Parteiführung: Es liege über dem, was vorher prognostiziert worden sei - doch es zeige sich auch, dass die hohe Zahl der Gegenstimmen nicht nur aus den Reihen der Jusos stammten, sagte er im Dlf.
    Die Parteiführung solle mit dem Ergebnis umgehen, "als ob sie einen Igel anfasst - also vorsichtig". Die SPD habe bisher in der GroKo versäumt, ein alternatives Politikangebot zu machen - das müsste sie nun nachholen. Die Vertreter der No-GroKo-Bewegung von Kevin Kühnert wirkten dabei als Kontrollinstanz. Sie wollten eine zukunftsfähige Partei, der die Wähler vertrauten und die perspektivisch selbst wieder die Führung übernehmen könne.

    Das Interview in voller Länge:
    Heinemann: Gero Neugebauer hat als Politikwissenschaftler am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin gearbeitet, ist uns von dort jetzt zugeschaltet, guten Morgen.
    Neugebauer: Guten Morgen, Herr Heinemann.
    Heinemann: Herr Neugebauer, 66, ist das viel oder wenig?
    Neugebauer: Ich habe mich geärgert, dass ich nicht gewettet hatte. Das ist Punktladung bei meinen Voraussagungen gewesen – zwei Drittel, ein Drittel.
    Heinemann: Glückwunsch.
    "Mehr gegen die GroKo als vorher prognostiziert"
    Neugebauer: Ja, danke. Und es ist viel, weil das, was prognostiziert worden ist, eigentlich immer da drunter lag. "Knapp, knapp, knapp", hieß es. Und es zeigt sich aber auch, die Menge der Gegenstimmen, dass es mehr als die 70.000 Juso, wenn sie denn alle wählen gegangen wären, gebracht hätten und vielleicht auch noch die 1.000 von der Demokratischen Linke 21. Das heißt, es sind mehr Mitglieder gegen die Große Koalition, als die, die vor allen Dingen in den Medien vorab prognostiziert worden sind.
    Heinemann: Genau. Das ist ein Drittel. Am 14. März, das heißt in zehn Tagen, soll die Kanzlerin im Deutschen Bundestag gewählt werden. Was bedeuten diese Nein-Stimmen in der SPD jetzt für diese Wahl? Ist die gefährdet?
    Neugebauer: Nein, sie ist nicht gefährdet. Wir haben ja in der Vorausdiskussion schon immer feststellen können, dass die Stimmen für die Fortsetzung der Großen Koalition im Wesentlichen aus dem Bereich der Sozialdemokratie kamen, wo die Funktionsträger oder die Mandatsträger saßen. Die, die Abgeordnete waren, die, die zum Teil Neuwahlen gefürchtet haben oder die, die gesagt haben: Na ja, wir sind ja sowieso Regierungspartei, also sollen wir uns dieser Aufgabe nicht entziehen und die dann eben weniger auf diesen Punkt Erneuerung geschaut haben, sondern gesagt haben: Nein, Fortsetzung der Regierung ist für uns das Günstigste. Also, insofern, denke ich, da wird es vielleicht die eine oder andere Gegenstimme geben, aber die Wahl ist nicht gefährdet.
    Heinemann: Es gibt aber eben auch unter den Abgeordneten Nein-Sager, zum Beispiel Hilde Mattheis.
    Neugebauer: Ja.
    Heinemann: Es gibt auch wenig Begeisterte in der CDU. Christean Wagner, der hessische CDU-Politiker hat uns gesagt, bei uns im Deutschlandfunk im Interview, er und viele andere hätten nur zu 51 Prozent dem Koalitionsvertrag zugestimmt. 49 Prozent wären dagegen gewesen. Könnten Sie sich vorstellen, dass insgesamt 44 Abgeordnete von SPD und Union gegen Frau Merkel stimmen werden?
    Neugebauer: Vorstellen kann ich mir vieles, aber die Tatsache, dass die CDU die Macht verlieren könnte, dass angesichts der Diskussion in der Union, Minderheitsregierung, ja, doch, ist ein bisschen mehr … und Neuwahlen, na ja, vielleicht, doch auch. Dass aber das Risiko, Macht zu verlieren, sehr viel größer gewertet wird und damit die CDU einen wesentlichen Teil ihrer Identität aufgeben würde, das verbietet mir zu sagen, diese 44 kommen zustande.
    Merkel wäre beschädigt, wenn sie nicht im ersten Wahlgang gewählt würde
    Heinemann: Wir sind immer noch beim "Hätte" und dem "Wäre".
    Neugebauer: Ja.
    Heinemann: Wäre Frau Merkel und die Schwarz-Rote-Koalition beschädigt, wenn es nicht im ersten Wahlgang klappen würde?
    Neugebauer: Ja, sie wäre beschädigt. Alleine schon deshalb, weil das erst mal der Aufhänger werden würde, nicht nur für die Meldung, sondern auch für die Diskussion in der Union. Wenn sie jetzt nach dieser schweren Situation nicht mal alle Stimmen bekommt, wie kann sie sich dann durchsetzen? Aber wir wissen auch aus dem Jahre 2012, als Frau Merkel Stimmen aus der Union gegen ihre Europa-, vor allen Dingen Griechenland-Politik hatte, also da ist ja die Sozialdemokratie und die Grünen sind beide ihr zur Seite gekommen. Und ich denke schon, dass auch das das wieder ausbügeln wird. Und es kommt im Wesentlichen darauf an, wie sie dann auch die Geschäfte erledigt.
    Heinemann: Schauen wir auf die SPD. Wie sollte die Parteiführung jetzt mit diesem Ergebnis umgehen?
    Neugebauer: Fast hätte ich gesagt, als ob sie einen Igel anfasst – vorsichtig. Wenn ein Drittel der Stimmen gegen diese Vereinbarung sind und diese Stimmen zum Teil sich aus denen rekrutieren in der Partei, die da sagen: "Mir sind die Ergebnisse eigentlich egal, ob nun sozialdemokratische Handschrift oder nicht, sondern für mich ist relevant, dass die SPD in der Großen Koalition es versäumt hat, ein alternatives Politikangebot zu machen, alternatives Personalangebot zu machen, dass sie nicht gelernt hat, wie sie ihre Stammwähler pflegen soll, dass sie vergessen hat, nach einer anderen Machtperspektive zu gucken." Das müsste sie jetzt alles machen. Das kann nicht heißen "Opposition in der Regierung", sondern das kann heißen: Frau Nahles muss – sofern sie Parteivorsitzende wird – darauf achten, dass ein Reformprogramm zur Erneuerung durchgezogen wird, das mehr ist als nur sozusagen das, was man schon vor neun Jahren mal beschlossen hatte – Pardon, vor acht Jahren, im Januar. Da gab es auch schon mal "12 Thesen zur Erneuerung". Also, wirklich ein Programm, das dazu führt, dass die SPD eine Perspektive hat, die dazu führen kann, dass sie selbst wieder mal die Regierung anführt.
    Heinemann: Ihr sitzt aber jetzt Kevin Kühnert und ihr sitzen die Jusos von jetzt an im Nacken.
    Neugebauer: Ja, zumindest als eine Kontrollinstant und als eine Kontrollinstanz, die ja auch für sich sagen kann: Wir sind die, die es in Zukunft mit der Partei zu tun haben. Selbst Andrea Nahles weiß … gut, sie ist in einem Alter, wo sie noch mehrere Jahrzehnte vielleicht arbeiten könnte in der Parteiführung oder vielleicht auch als Kanzlerin noch mal, aber die nachfolgenden Generationen sagen: Wir brauchen eine Partei, die zukunftsfähig ist und zukunftsfähig heißt: Wie ist die SPD als Volkspartei zukunftsfähig? Wie ist die SPD als Programmpartei zukunftsfähig? Kann sie den Wählern, den Anhängern ein politisches Programm anbieten, das diese in die Lage versetzt, der Politik der SPD zu vertrauen, nämlich in Zukunft ein sicheres Leben führen zu können, auch ein Leben, wo möglicherweise noch sozialer Aufstieg möglich ist, wo Schutz ist vor Gefährdung durch Globalisierung in unterschiedlichen Formen? Und das wird erwartet von der SPD und das muss sie leisten.
    "Das sind keine langfristigen Orientierungen"
    Heinemann: Aber da sagt sie doch, sie habe es schon geleistet – mit Baukindergeld, mit der Soli-Senkung, mit der Rückkehr von Teilzeit in Vollzeit, mit einer Rente – bis 2025 – auf dem Niveau 48 Prozent, einer Grundrente zehn Prozent über der Grundsicherheit, dann die Beitragsparität Arbeitgeber/Arbeitnehmer. Das sagt doch die SPD, also dieser Koalitionsvertrag sei sozialdemokratisch.
    Neugebauer: Man hat Leuchttürme erwartet und sieht Teelichter. Sie haben eben eine Menge von diesen Teelichtern aufgezählt. Das sind keine langfristigen Orientierungen. Das sind Nachweise dafür, dass man eine solide Regierungsarbeit macht, aber das ist nicht einmal Nachweis dafür, dass in diesen Programmen langfristige Entwicklungen vorausgesehen werden, auf die die Politik zu reagieren hat. Was ist denn zum Beispiel mit der Frage: Zunahme oder Zementierung der sozialen Spaltung in der deutschen Gesellschaft, gegebenenfalls Zunahme. Welche Entwicklungen sind durch die Globalisierung für den Arbeitsmarkt zu erwarten, wenn wir jetzt hören: Airbus streicht Stellen, Stahlstellen sind nicht sicher. Dort dringen Investoren aus dem Ausland rein, die möglicherweise dann dazu Entscheidungen treffen werden, die dazu führen, dass Arbeitsplätze verlagert werden. Das sind Fragen, die beantwortet werden müssen.
    Und dann die Frage: Wie verteilen wir eigentlich die Lasten der Integration von Flüchtlingen? Welche Anstrengung unternehmen wir, um Fragen, die auf der nationalen Ebene, weil wir dort keine Kompetenzen mehr haben, wie nationale Finanzpolitik, nationale Wirtschaftspolitik, auf der europäischen Ebene so gelöst werden, dass sie nicht nur die wirtschafts- und finanzpolitischen Interessen bedienen, sondern auch beispielsweise soziale Interessen – fortschreitende Integration Europas, zumindest der Europäischen Union. Da sind doch sehr viele Forderungen, die bisher, ja, vielleicht mal rhetorisch angeschnitten werden, aber die man nicht findet. Und, wenn Sie reingucken in manche Arbeiten, die gemacht worden sind: Europa, ja – nein. Also, da vermisse ich sehr viel. Und da vermisse ich eben auch vieles in diesem Programm, was über den Kirchturm hinausgeht.
    "Kramp-Karrenbauer ist in der CDU integriert"
    Heinemann: Herr Neugebauer, schauen wir auf die CDU. 99 Prozent für die neue Generalsekretärin. Ist Annegret Kramp-Karrenbauer das "Schulz-Erlebnis" der CDU?
    Neugebauer: Nein. Also, ich bin mal jetzt ein bisschen grob und sage: Martin Schulz ist eine Art "nützlicher Idiot" für Sigmar Gabriel gewesen, als dieser erkannt hat, dass er die Wahl nicht gewinnen wird und aber die Schuld oder die Verantwortung nicht auf sich nehmen wollte und dann Martin Schulz, der sehr interessiert war an dieser Kandidatur bewegen konnte, das zu machen. Kramp-Karrenbauer ist eine Frau, die in der CDU integriert ist, die die Partei kennt, die genau weiß, wo die Fallstricke liegen, aber auch, wo die Chancen liegen und sie ist von ihrem politischen Profil her jemand, der flügelübergreifend ist. Bei Martin Schulz war das nicht so klar, wenn er überhaupt einem Flügel zugeordnet werden konnte. Und Kramp-Karrenbauer ist auch jemand, die sagt: "Programmatische Erneuerung muss sein. Wir können uns nicht nur erneuern, indem wir die Gesichter auswechseln." Und sie ist von ihrem Profil her eher ein Symbol dafür, dass die CDU nicht bereit sein wird, die Mitte aufzugeben und damit auch einen Teil der Wähler behalten will, auf die die Sozialdemokratie eigentlich scharf ist.
    Heinemann: Die Sozialdemokratie hadert mit dem Koalitionsvertrag, obwohl sie ja einiges hat durchsetzen können, die CDU nicht so viel, obwohl man eben Christdemokratisches ja in diesem Vertrag mit der Lupe suchen muss. Verstehen Sie das?
    Neugebauer: Koalitionsverträge sind nicht einklagbar. Wir haben aus der letzten Koalition erleben können, dass manche Dinge zu 100, einige dann nur zu 80, viele zu 50 und manche auch gar nicht erledigt worden sind. Wenn in diesem Koalitionsvertrag die Formel eingebaut wurde, nach zwei Jahren machen wir mal eine Bilanz-Presse-Konferenz – so eine Art – und sagen, was haben wir geleistet, was haben wir nicht, gibt es einen gewissen Druck, aber auch jetzt ist überhaupt nicht sicher, dass das, was alles drinsteht, geleistet werden kann. Nicht deshalb, weil da viele Kommissionen beauftragt worden sind, Prüfungsaufträge vergeben worden sind oder nur Andeutungen gemacht werden, sondern weil es schon darauf ankommt, dass ja jetzt mit dieser Regierungsbildung dann bereits die Zeit für den neuen Wahlkampf beginnt. Vor der Wahl ist nach der Wahl und nach der Wahl ist vor der Wahl. Und das heißt, hier wird dann bei der Union vor allen Dingen das Problem anfangen, darüber zu reden: Wie leiten wir jetzt die Zeit nach Merkel ein? Wer wird sich in welche Position begeben? Und die Personalentscheidungen der Union heißen ja nur erst einmal: Aha, jetzt wissen die, die ihre Netzwerke knüpfen müssen, mit wem sie es als Gegner zu tun haben. Das ist ja auch noch keine Entscheidung über die künftige Kanzlerkandidatin.
    Heinemann: Eine neue Generalsekretärin – bleiben wir noch mal bei den Personen – neue, junge Gesichter unter den designierten Ministerinnen und Ministern. Hat Angela Merkel die CDU jetzt innerhalb einer Woche runderneuert?
    Neugebauer: Nein. Sie hat sie nicht runderneuert. Wenn man mal bei diesem Begriff bleibt, runderneuern heißt ja, von vorn bis hinten alles neu machen. Nicht nur waschen und nicht nur Zierrat putzen, sondern eben auch sagen: Wir haben hier neue Personen, wir haben hier neue Ziele. Und das ist nicht passiert. Was gemacht worden ist, ist: Die Optik wurde verändert. Es wurden einige der Forderungen erfüllt, dass man neue Gesichter haben wollte, aber wir haben immer noch in der CDU die Stimmen, die sagen, trotz neuer Gesichter ist zu wenig konservativ. Wir müssen dem einen oder anderen die Chance geben, sich erst einmal als konservativer Politiker oder Politikerin darzustellen. Wir müssen sehen, wie die Mehrheitsverhältnisse sich wandeln. Wir müssen sehen, ob diese Erneuerung der CDU – mit gesprochenen Anführungszeichen – dazu führt, dass wir wieder in den nächsten Landtagswahlkämpfen besser abschneiden. Wir haben jetzt die Landtagswahlen in Hessen, aber vor allen Dingen in Bayern. Da ist noch ein bisschen Zeit, bis man dann sagen kann, da tut sich was bei der Union und da ist auch so ein Erneuerungsprozess in Gang gekommen.
    Heinemann: Das heißt, wenn ich Sie richtig verstanden habe, ein Minister Spahn reicht nicht zur Linderung konservativer Phantomschmerzen?
    Neugebauer: Denen, die sich damit zufriedengeben, dass sie nun jemanden haben, von dem sie erwarten, dass er da tätig werden könnte, denen wird das reichen. Aber denen, die da sagen, die Herausforderungen für die CDU sind viel größer als da nur jemanden mit einer konservativen Rhetorik zu implantieren, die dann sagen, wir haben die Fähigkeit verloren, nach rechts in die Wählerschaft hinein zu integrieren, wir müssen sehen, dass wir aber auch nicht Wähler in der Mitte verlieren, denen kann das gar nicht reichen.
    "Parteien sind immer noch in einem Findungsprozess"
    Heinemann: Der Antrag beim Parteitag, beim CDU-Parteitag, für ein neues Grundsatzprogramm war folgendermaßen überschrieben: "Unser Auftrag – soziale Marktwirtschaft im 21. Jahrhundert erneuern, stärken und zukunftsfest gestalten" – Zitatende. Wenn sich Kernwählerinnen und -wähler vor Überfremdung und Islamisierung fürchten – Kernwähler der CDU meine ich jetzt –, muss man dann nicht sagen, Thema verfehlt?
    Neugebauer: Ja, man muss das sagen. Vor allen Dingen, das ist das Thema umformuliert, was wir schon 2005 gehört haben, als Frau Merkel von der "neuen sozialen Marktwirtschaft" gesprochen hat. Und wir können eben aber auch der SPD sagen, wenn sie im Januar 2010 "12 Thesen zur Erneuerung" gemacht und dann zwar ein bisschen gearbeitet, aber nichts vollzogen hat oder nichts Relevantes, das ihren Absturz verhindert hat, dann muss man sagen, die Parteien sind immer noch in einem Findungsprozess. Und es ist die Frage, ob nur die SPD in der Krise ist und nicht die CDU auch.
    Heinemann: Herr Neugebauer, haben die vergangenen Monate gezeigt, dass die politische Ordnung der Bundesrepublik Deutschland weniger stabil ist als viele im In- und Ausland das bisher dachten?
    Neugebauer: Ja. Und es hat sich gezeigt, dass sie deshalb weniger stabil geworden ist, weil manches von dem, was Stabilität in der Vergangenheit garantiert hat, fortgefallen ist. Beispielsweise Rechtspopulismus, Fremdenfeindlichkeit. Die Erinnerung an den Nationalsozialismus wirkt lange nicht mehr so stark wie sie vor einigen Jahren noch gewirkt hat. Die Fähigkeit der Bundesregierung oder auch der großen Parteien zu sagen, wir haben hier Bedürfnisse in der Bevölkerung, auf die wir reagieren müssen – und nicht nur eben mit den von Ihnen vorhin aufgezählten Sachen –, die sicherlich ihre Relevanz haben für die Betroffenen, das will ich gar nicht bestreiten, aber die Gesamtgesellschaft nicht so wirksam sind, dass man sagen kann, wir haben in der Bevölkerung ein Bewusstsein erzeugt, das sie geneigter macht, über Dinge zu diskutieren, über gesellschaftliche Veränderungen über Herausforderungen, die in der Vergangenheit nicht diskutiert worden sind. Und wir haben im Parteiensystem auch eine Entwicklung, seit mindestens 2013 wandern die Stimmen zunehmend nach rechts. Und wir haben aus der CSU die Forderung nach einer konservativen Revolution. Da gibt es eine Polarisierung im Parteiensystem. Das ist die Chance für die Parteien, sich zu profilieren, die SPD vielleicht wieder etwas links zu werden, die Union zu sehen, welche Position sie finden. Aber die Herausforderungen sind da und da kann man nicht nur mit klein-klein reagieren.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.