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Gershon Scholem: "Poetica"
Zurück zur Sprache der Bibel

Gershom Scholems "Poetica – Schriften zur Literatur, Übersetzungen, Gedichte" enthält 44 bisher nicht publizierte Texte. Sie zeigen die andere Seite des jüdischen Denkers, der sich hier dem Verlust der der jüdischen Traditionen in der Moderne widersetzt.

Von Hans-Martin Schönherr-Mann | 24.03.2019
Buchcover: Gershom Scholem: „Poetica - Schriften zur Literatur, Übersetzungen und Gedichte“
Gershom Scholems Auseinandersetzung mit der jüdischen Literatur in seinen "Poetica" (Buchcover: Suhrkamp Verlag, Foto: imago stock&people / Winfried Rothermel)
Ein Freund, Gegner und Weggefährte von Gershom Scholem war der knapp 20 Jahre ältere aus Wien stammende Martin Buber. Beide zählen zu den wichtigsten Vertretern jüdischen Denkens im 20. Jahrhundert. Nicht durch Zufall sterben beide in Jerusalem, Buber bereits 1965. Scholem wandert angesichts des grassierenden Antisemitismus 1923 nach Palästina aus, während Buber 1938 den Nazis gerade noch dorthin entkommt.
Die erloschene jüdisch-deutsche Beziehung
Zusammen mit Franz Rosenzweig, einem weiteren wichtigen jüdischen Denker, beginnt Buber Mitte der zwanziger Jahre eine neue deutsche Übersetzung des Tanach, der hebräischen Bibel, deren Bücher das Christentum etwas anders anordnet und als Altes Testament kanonisiert. Die Arbeiten enden 1938 und werden von Buber 1954 wieder aufgenommen. Zur Fertigstellung 1962 fragt Scholem:
"Für wen wird diese Übersetzung nun bestimmt sein, in welchem Medium wird sie wirken? Historisch gesehen ist sie nicht mehr ein Gastgeschenk der Juden an die Deutschen, sondern – und es fällt mir nicht leicht, das zu sagen – das Grabmal einer in unsagbarem Grauen erloschen Beziehung."
Noch Mitte der sechziger Jahre kritisiert Scholem die damaligen Versuche einer deutsch-jüdischen Aussöhnung und spricht vom Mythos des deutsch-jüdischen Gesprächs. 1965 antwortet er der Schriftstellerin Eva Ehrenberg in Gedichtform:
"Sehr verehrte gnädige Frau! / Leider weiß ich sehr genau, / was sich einst in Deutschland tat, / weiß auch: manchen, den’s betrifft, / scheint die bittre Wahrheit Gift. (...) Ehre Ihren Illusionen, / die im leeren Raume wohnen! / doch bekenne ich sehr gern: meinem Sinn liegt gänzlich fern, / trauriger Wahrheit mich zu schämen, / sie mit Pathos zu verbrämen."
Zumindest im Nebenberuf war Scholem Dichter, was der vorliegende Band der Poetica, der den literarischen Scholem präsentiert, mit 52 Gedichten dokumentiert. Doch Gedichte hatten für ihn keine erhabene ästhetische Dimension, sondern dienten ihm im Alltag als Form der Kommunikation.
Der Zionismus und der Niedergang religiöser Orientierungen
Scholem engagiert sich in jungen Jahren für den Zionismus, der seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert einen jüdischen Staat in Palästina gründen will. Auch Buber hatte sich 1900 dem Zionismus angeschlossen. Doch Buber vertrat im ersten Weltkrieg die Seite von Deutschland und Österreich, was Scholem als Verrat am Zionismus kritisiert. So dichtet Scholem gegen Buber:
"Bis aus dem fremden Lager / das Höhnen Dich vertreibt / Und Dir, dem – Wahrheitssager, / Nur die Verachtung bleibt."
Scholem ist dagegen ein scharfer Gegner des Krieges und entzieht sich dem Kriegsdienst dadurch, dass er eine Geisteskrankheit vortäuscht. Damals steht er der Sozialdemokratie nahe, hat aber ein viel größeres Interesse am jüdischen Erbe. So studiert er orientalische Sprachen in Bern und promoviert in München 1922 über jüdische Mystik.
In Palästina enttäuscht ihn der Zionismus, nicht nur weil dieser keine Rücksicht auf die dort einheimische arabische Bevölkerung nimmt. Vielmehr vernachlässigt der Zionismus das religiöse Erbe, das dieser wie die hebräische Sprache säkularisiert. Für Scholem darf die Sprache aus der religiösen Tradition aber nicht gelöst werden. So kritisiert er:
"die neuen 'Ignoranten', für die die Bibel kein heiliges Buch mehr ist, sondern eine nationale Saga, und für die die rabbinische und mittelalterliche Literatur ein Buch mit sieben Siegeln sind, (...)."
So durchzieht die Poetica das Bewusstsein des Niedergangs religiöser Orientierungen, der sich in der Verweltlichung des Hebräischen ausdrückt. Wie kann man sich dem widersetzen? Scholems Antwort lautet: Nur durch den genauen Rückgriff auf die Traditionen des Hebräischen.
Ab 1925 lehrt er an der Hebräischen Universität Jerusalem. Er erlebt den Krieg, der am 14. Mai 1948 zur Gründung des Staates Israel führt. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte wird er zu einem der führenden Gelehrten Israels.
Das Hebräische als Leitthema der Poetica
1933 wird Scholem auf den Lehrstuhl für jüdische Mystik berufen. Um an der Tradition festzuhalten, geht es ihm um eine philologisch genaue Interpretation der religiösen Texte, die er gegen Modernisierer verteidigt. So bemerken die Herausgeber des Bandes:
"Die Philologie war ihm eine Art Lebenselixier für die Quellen der Überlieferung, (...)."
Natürlich beschäftigen ihn dabei primär Fragen des Übersetzens. In einem Brief an Rosenzweig betrachtet er 1921 "die Möglichkeit von Übersetzung überhaupt als eines der großen Wunder selbst."
Der Band versammelt auch eigene Übersetzungen Scholems primär von religiösen Texten vor allem aus der hebräischen Bibel, beispielsweise das Buch Jona. Dazu urteilt die Mitherausgeberin der Poetica Sigrid Weigel bereits in Jahr 2000:
"Seine Übersetzungen religiöser Texte können als seine eigentliche Dichtung angesehen werden"
Aber die Poetica birgt auch Scholems Übersetzungen von zeitgenössischer neuhebräischer Literatur, nämlich der beiden jüdischen Dichter Chaim Nachman Bialik und Samuel Josef Agnon, die Scholem besonders schätzt. Agnon stammt aus dem ukrainischen Butschatsch und schreibt bis zu seiner Übersiedelung nach Palästina 1907 noch auf Jidisch, danach auf Hebräisch. So urteilt Scholem über Agnon, um den sich viele Texte der Poetica drehen:
"Man darf wohl sagen, dass die Schriften Agnons das schönste Hebräisch darstellen, das seit Jahrhunderten geschrieben worden ist."
Die Literaturkritiken in der Poetica beschäftigen sich aber unter anderen auch mit Mörike, Rilke, Kafka. Alle Texte stammen aus der Zeit seit dem ersten Weltkrieg bis kurz vor seinem Tod. Viele wurden bisher nicht publiziert. Der Band wird von den Herausgebern reichhaltig kommentiert. Alle Texte sind mit einem Glossar versehen. Ohne diese Erklärungen blieben viele der Texte demjenigen weitgehend verschlossen, der sich im Werk Scholems wenig auskennt.
Die Sprache der Kabbala
Auch in der Poetica spielt die jüdische Mystik eine wichtige Rolle. Unter dem Namen Kabbala, was man mit 'Überlieferung' übersetzen kann, entsteht sie im 12. Jahrhundert in Frankreich und erlebt danach ihre Blüte in Spanien.
Als Scholems Lebensleistung gilt es gezeigt zu haben, wie sich die häretische Kabbala seit dem 16. Jahrhundert radikalisiert und dabei durchaus große Verwirrung stiftet. Denn die Kabbalisten erkannten keineswegs die Dimensionen ihrer magischen Bemühungen. Scholem schreibt 1921:
"Das Erbe unserer Väter ist gefährlich. Es ist in die geistige Welt der westlichen Judenheit eingebettet, zu tief, als dass es den Trägern nicht unbewusst bliebe, zu substanziell, als dass es die Mutigen nicht an sich zöge, zu drohend, als dass es nicht die Abenteurer reizte."
Dabei hat die Verwirrung zu Lebzeiten Scholems gerade nicht aufgehört, wird vielmehr noch befeuert nicht zuletzt durch Übersetzer, die ihr Original nicht mal richtig verstehen, wie er 1920 eine neue Übersetzung des Sohar kritisiert, der gegen Ende des 13. Jahrhunderts entstand und als eines der wichtigsten Werke der Kabbala gilt. Er enthält Interpretationen der Tora, dem Gesetzesteil des Tanach, Berichte von jüdischen Mystikern und diverse mystische Zahlenspekulationen. Scholem kritisiert alle Bemühungen die sich nicht um eine genaue Übersetzung bemühen und stattdessen sich in vermeintlich mystischen Verdunkelungen ergehen:
"Die Worte und die mystischen Dinge haben keinen 'Duft', es sei denn, dass sie einer vergewaltige, und nicht die Nase des Ästheten, den die Dämonen narren, sondern die harte und strenge Arbeit der Erkenntnis ist allein das Medium, durch das hindurch die Trümmer unseres heiligen Besitzes zu neuem Leben erweckt und umgestaltet werden können."
Auch in seinen religionswissenschaftlichen Studien der Kabbala zeigt sich Scholems Bemühung, die religiösen Traditionen nicht durch Verklärung, sondern durch genaue sprachliche Analysen zu bewahren.
Die religiöse Verwurzelung des Hebräischen
Denn während Scholems Hauptaugenmerk auf die jüdische Tradition gerichtet ist, muss er, noch bevor Israel gegründet wurde, einen Bedeutungsverlust des Hebräischen diagnostizieren, der sich vor allem in der Rezeption der religiösen Texte spiegelt, wenn diese nicht mehr am Original orientiert gelesen werden, ja nicht mehr gelesen werden können, weil die Mehrheit der weniger gebildeten Juden des Hebräischen kaum noch mächtig ist.
So beschränkt sich das Hebräische Jahrhunderte lang primär auf eine religiöse Sprache, während sich Juden entweder an die in ihren jeweiligen Ländern gesprochene Sprache anpassen oder eine eigene Sprache wie das Jidische sprechen, das sich in Ost- und Mitteleuropa seit dem Mittelalter entwickelt. Im Chassidismus, einer besonders frommen Variante des Judentum, der seit dem 18. Jahrhundert vor allem in Osteuropa eine neue Blüte erlebte, haben sich indes die religiösen hebräischen Begriffe erhalten. Bereits der junge Scholem schreibt 1917:
"Es ist nichts weniger als Zufall oder oberflächliche Bequemlichkeit, wenn das Jidische den religiösen Wortschatz des Hebräischen ohne Übersetzung in sich aufgenommen hat, ja dass Neubildungen der religiösen Sprache, wie sie beispielsweise im Gefolge des Chassidismus auftreten, stets dem Hebräischen entnommen werden. Der Volksgeist wusste, dass die geistigen Ordnungen des Judentums, von deren Letztgültigkeit er überzeugt war, nicht anders beschrieben und ausgedrückt werden können als durch sich selber und in ihrer ureigensten Sprache, dem Hebräischen."
Für Scholem ist das Hebräische originär mit dem Tanach, besonders mit der Tora verbunden und es erhält dadurch seine eigene Würde, was das Hebräische schwer übersetzbar macht. Ein nicht religiöses Hebräisch ist für Scholem ein Unding, kann es ein säkulares Hebräisch eigentlich nicht geben.
Allerdings reduziert sich das Hebräische des Tanach auf eine Sprache der Eliten, wenn sie sich mit religiösen Fragen beschäftigen. So wurde das Hebräische auch nur von Männern gesprochen, waren Frauen von einer aktiven religiösen Praxis bzw. von Auslegungsfragen weitgehend ausgeschlossen. Das erkennt Scholem durchaus als Mangel an:
"Freilich fehlte hier der Funke jener besonderen Vitalität, der der Sprache von den Frauen her zufließt, und dieser Mangel macht sich in der Tat sehr fühlbar."
Der Verlust religiöser Wurzeln durch das Neuhebräische
In der Alltagssprache spielte das Hebräische dagegen kaum noch eine Rolle, noch dazu wenn es in diese entweder nicht übersetzt werden kann oder soll. Dazu gesellt sich eine Entwicklung, die bereits der junge Scholem miterlebt und die er sehr skeptisch beäugt. Denn es entstand bereits im 18. Jahrhundert ein neues säkularisiertes Hebräisch, das durch den Zionismus seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert befördert wird und das sich schließlich als Neuhebräisch in Israel zur Alltagssprache verdichten sollte. Scholem zählt Agnon dabei zu den Verteidigern der Tradition:
"Agnon, mit seinem hochentwickelten Sinn für Form, war offensichtlich von dieser Aussicht auf ein Hebräisch, das aus den Ketten der Tradition sich frei gemacht haben würde, alarmiert. Auch er erstrebte die Renaissance des Hebräischen, aber er arbeitete an ihr in den Steinbrüchen der Überlieferung und durch das Potential großer Formen, das in ihr angelegt war."
Parallel dazu entstand auch eine neuhebräische Literatur, die sich um religiöse Gehalte entweder gar nicht mehr kümmert, oder die sich womöglich sogar des religiösen Charakters des Hebräischen bedient, um damit säkulare Zwecke zu verfolgen. Scholem betrachtet das als eine apokalyptische Gefahr, weil dadurch das religiöse Fundament aufgeweicht wird. Denn so bemerkt er Ende der 20er Jahre:
"Bei der Wanderung der Sprache vom Buch ins Leben ist die 'Seele' verloren gegangen. Das, dessen wir uns so rühmen, ist keineswegs rühmenswert, denn wir haben das Hebräische nicht wiederbelebt, sondern nur einen Golem davon, ein Esperanto, d.h. wir haben gerade etwas Negatives geleistet."
Scholem kritisiert den Schriftsteller Josef Chaim Brenner, einen Vordenker der zweiten Alija, der zweiten Einwanderung nach Palästina Anfang des 20. Jahrhunderts, der 1921 in seinem Haus bei Tel Aviv während arabischer Pogrome umgebracht wird. Brenner hält nämlich die Halacha für schematisch, während sie für Scholem das Fundament des Judentums darstellt. Denn die Halacha legt die Tora, d.h. die rechtlichen Zusammenhänge aus und enthält die 613 Gebote des Judentums. So fragt Scholem ironisch:
"warum sollte man nicht, wenn Religion ein Priesterbetrug (...), die höchsten Zusammenhänge des religiösen Lebens (...) für schematisch halten? . . . Es hätte wenig Sinn, hier Beispiele anzuführen, um den traurigen Zustand der heutigen hebräischen Dichtung zu verdeutlichen, (...)."
Der Verlust der Keuschheit
Dramatisch verkommt das göttlich inspirierte Hebräisch gerade dort, wo in der neuhebräischen Literatur mit dem Verlust der göttlichen Gehalte auch die Keuschheit endet und sich die Erotik in der Literatur breitmacht. Oder wenn man dem Hohen Lied Salomons gar unterstellt, es würde Erotisches enthalten. Scholem will im Alter von 18 Jahren Das Hohe Lied sicherlich in keuscher Weise übersetzen. Die Poetica enthält auch diese Übersetzung, in der es heißt:
"O tränke mich mit deines Mundes Küssen, / Denn kostbarer als Traubensaft ist deine Liebe / Und deiner Salben Duft süßer als Balsam! / Dein Name gleicht dem wohlriechenden Öl, / Darum lieben die Jungfrau’n dich! / Zieh‘ mich dir nach; o laß uns eilen! / Du bringst mich einem König gleich in dein Gemach. / Wir wollen freuen uns / Und jubeln über dich, / Wir wollen eher deiner Liebe denken / Denn des Weins!"
Für Scholem birgt Das Hohe Lied eine tiefe Ehrfurcht vor der göttlichen Schöpfung und ihrer Ordnungen auf der geistigen Ebene. Seine Metaphorik beherbergt für ihn keinerlei erotische Dimension, vielmehr eine Metaphorik vollkommener Reinheit, die sich denn auch gar nicht anders deuten lässt oder gar beschmutzen. Dergleichen weist er brüsk zurück:
"Jede Auffassung des Hohen Liedes, die es in irgendeiner Hinsicht nicht vollkommen ernst und rein nimmt, richtet sich selbst. Schweinen ist es gelungen, auch im Hohen Liede Zoten zu entdecken. Die Hebräische Sprache, wie jede Sprache in der Epoche ihrer Würde – die das Hebräische niemals verlassen hat –, kann keine Gemeinheiten ausdrücken. D.h.: Sie kann nichts unter einem hämisch verschobenen Gesichtswinkel sehen."
Das Hebräische besitzt eine göttliche Reinheit. Es muss davon entfremdet werden, um es zu missbrauchen. Das, so Scholem, sei Philip Roth gelungen, vielfach ausgezeichneter US-Schriftsteller jüdischer Herkunft. Seinen Roman Portnoys Beschwerden aus dem Jahr 1969 bezeichnet Scholem als ekelhaft, wenn es dem Helden nur darum geht, "an die Vagina von Schicksen heranzukommen"
Die doppelte apokalyptische Drohung
Nicht nur dass Scholem die neuhebräische Literatur als blankes Geschwätz oder als phrasenhaft erscheint. Sie gebraucht die Sprache als blankes Mittel und nicht als Ausdruck von Gottes Schöpfung und somit als göttliche Gabe. Für Scholem verlangt das Hebräische dagegen Strenge und Zucht. So bleibt ihm 1926 nichts anderes als die Drohung:
"Dies Land ist ein Vulkan. Es beherbergt die Sprache. Man spricht hier von vielen Dingen, an denen wir scheitern können, man spricht heute mehr denn je von den Arabern. Aber unheimlicher als das arabische Volk steht eine andere Drohung vor uns, die das zionistische Unterfangen mit Notwendigkeit heraufbeschworen hat: Was ist es mit der ‚Aktualisierung‘ des Hebräischen? Muss nicht dieser Abgrund einer heiligen Sprache, die in unsere Kinder gesenkt wird, wieder aufbrechen? Freilich, man weiß hier nicht, was man tut. Man glaubt die Sprache verweltlicht zu haben, ihr den apokalyptischen Stachel ausgezogen zu haben. Aber das ist ja nicht wahr, die Verweltlichung der Sprache ist ja nur eine Facon de parler, eine Phrase. Es ist schlechthin unmöglich, die zum Bersten erfüllten Worte zu entleeren, es sei denn um den Preis der Sprache selbst."
In der Tradition der jüdischen Apokalypse, wenn der Messias kommt und die Welt ordnet, beschwört Scholem den Eingriff Gottes, ja die Revolution, bei der man die Stimme Gottes hören wird. Daran denken 1926 die Zionisten in Palästina nicht. Aber dadurch, dass man das Hebräische wiederbelebt, droht aus dessen ursprünglicher Heiligkeit heraus das göttliche Gericht. Das göttlich fundierte Hebräisch wird das säkularisierte Neuhebräisch sprengen: das ist die hoffnungsfrohe Seite von Scholems Drohung.
Doch es gibt auch eine fatale Drohung, dass nämlich die Sprache endet und damit das Judentum. Agnon, der 1966 den Nobelpreis erhalten wird, drückt diese Drohung in seinem Roman Nur wie ein Gast zur Nacht aus dem Jahr 1939 aus. Darin schildert er den Niedergang des jüdischen Lebens in seiner galizischen Heimat wie eine Vorahnung des Holocaust. Scholem schreibt:
"So entfaltet sich vor uns, mit Liebe, aber zugleich mit völliger Aufrichtigkeit geschrieben, ein Gemälde des polnischen Judentums am Vorabend seiner Katastrophe."
Fatale Konsequenzen
Aber auch danach ist für Scholem die Gefahr für das Judentum keineswegs vorüber. Und jüdische Literaten wie Philip Roth mit seinem für Scholem ekelhaften Roman tragen zum Zerfall der religiösen Tradition bei. Das hat für Scholem fatale Konsequenzen. Denn die Erotik in der Literatur jüdischer Provenienz befeuert nach Scholem den Antisemitismus, womit er einen nicht nur ob seiner Prüderie mehr als fragwürdigen Bezug zu jeder Form der Judenfeindschaft herstellt und zumindest indirekt auch zum Holocaust, der ansonsten in der Poetica erstaunlich selten vorkommt. Denn Scholem schreibt über Roths Roman Portnoys Beschwerden:
"Das ist das Buch, das alle Antisemiten sehnsüchtig erwartet haben, und ich wage zu behaupten, dass dieses Buch uns allen vorgehalten werden wird, wenn sich die Zeiten einmal ändern sollten, was kaum mehr lange dauern dürfte, und wir werden es sein, die dafür grade stehen müssen, nicht der Autor mit seinen unflätigen pornographischen Worten."
Man muss ähnlichen traditionalistischen Perspektiven nicht folgen, die längst nicht nur in jüdisch konservativen Kreisen vertreten werden. Daraus ergibt sich eine doch zu einseitige Erklärung des Antisemitismus mit einer geradezu falsch verteilten Schuldzuweisung.
Jedenfalls erlaubt der Band einen guten Einblick in das Werk von Gershom Scholem und die jüdischen Traditionen. Weil man darüber in Deutschland gemeinhin erstaunlich wenig weiß, eröffnet die Poetica eine andere Seite der Aufarbeitung des Holocaust, nämlich nicht nur Einblick in das Geschehene, sondern in das jüdische Leben und Denken, das zerstört oder vertrieben wurde, in das, was daher jetzt in diesem Lande fehlt.
Gershom Scholem: "Poetica - Schriften zur Literatur, Übersetzungen und Gedichte"
Herausgegeben und kommentiert von Herbert Kopp-Oberstebrink, Hannah Markus, Martin Treml und Sigrid Weigel
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin. 780 Seiten, 58 Euro.