Donnerstag, 25. April 2024

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Gerüchte als Phänomen
"Das Internet ist das Hörensagen im digitalen Zustand"

Ist ein Gerücht erstmal in der Welt, werde zu einer Macht, sagte der Literaturwissenschaftler Hans-Joachim Neubauer im DLF. Es bekomme dadurch eine politische oder soziale Wahrheit. Doch viele Gerüchte seien "erstunken und erlogen", wie derzeit auch immer wieder auffalle. Die Medien seien dazu angehalten, Orientierungshilfe zu leisten.

Hans-Joachim Neubauer im Gespräch mit Dina Netz | 15.02.2017
    Ein Anschluss für ein DSL-Kabel aus dem Telefon-Festnetz an einem DSL-Router.
    Internet und Social-Media-Kanäle erleichtern die Verbreitung von Gerüchten. (picture alliance / dpa / Frank Rumpenhorst)
    Dina Netz: Man hat im Moment den Eindruck, Fake News seien das aktuelle politische Mittel der Stunde. Kaum ist ein Thema gesetzt oder ein Kandidat für ein Amt nominiert, schlägt die Stunde der Fake News. Aktuelles Beispiel: Die Gegner des parteiunabhängigen französischen Präsidentschaftskandidaten Emmanuel Macron, die er selbst übrigens in Russland vermutet, streuen im Moment allerlei Gerüchte, zum Beispiel dass er neben seiner Ehefrau einen weiteren festen Partner habe, den Chef von Radio France. Oder, kaum war Martin Schulz als Kanzlerkandidat der SPD nominiert, waren auch schon allerlei Gerüchte über ihn in der Welt. Bevor klar ist, wobei es sich um harte Fakten und wobei bloß um perfide Anschuldigungen handelt, ist der Ruf meist schon ein wenig ruiniert. Und Internet und Social Media erleichtern die Verbreitung natürlich ungemein. Der Literaturwissenschaftler Hans-Joachim Neubauer von der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf hat ein ganzes Buch über das Phänomen geschrieben: "Fama: Eine Geschichte des Gerüchts", erschienen bei Matthes & Seitz Berlin. Herr Neubauer, das erste, was ich aus Ihrem Buch gelernt habe, ist, dass das Gerücht als politisches Instrument so alt ist wie Politik selbst.
    Hans-Joachim Neubauer: Ja, das stimmt, das kann man – soweit man es belegen kann überhaupt – schon aus den ersten schriftlichen Quellen, sagen wir mal, unserer Kultur auch belegen. Also der erste Bericht, den wir haben, ist eigentlich die "Ilias" – schon da gibt es Gerüchte, die am Strand, also am Ort des Krieges sozusagen kursieren, und die Leute zusammenrufen, und das geht dann eigentlich lückenlos durch bis in die Gegenwart, von der Sie gerade gesprochen haben.
    "Informationen und Propaganda sind ja nun nahe dran am Gerücht"
    Netz: Das Heikle an einem Gerücht ist ja, dass nicht klar ist, wie viel Wahrheit und wie viel Lüge es enthält, aber sobald es in der Welt ist, wird es erst einmal zur Wahrheit, es hat also große Macht.
    Neubauer: Ja, es wird zu einer Macht, und dadurch hat es eine politische oder soziologische, soziale Wahrheit. Ob es nun die Aussage des Gerüchtes betrifft, das würde ich bezweifeln. Also viele Gerüchte sind falsch, viele sind, wie wir jetzt im Moment auch immer wieder merken können, erstunken und erlogen eben. Deshalb: Informationen und Propaganda sind ja nun nahe dran am Gerücht und bedienen sich immer wieder solcher Phänomene wie des Gerüchts.
    Netz: Genau, aber sobald die Information in der Welt ist, wird sie ja erst einmal als wahr wahrgenommen, und damit hat sie eine große Macht. Können Sie vielleicht Beispiele aus der Geschichte nennen, wo Gerüchte Politik gemacht haben?
    Neubauer: Oh, da gibt es sehr viele. Ein schönes Beispiel ist vielleicht der römische Sklave Clemens, der nach dem Tod seines Chefs, seines Eigentümers Agrippa sich als Agrippa ausgab und dann immer nur abends irgendwo hingereist ist, und dann hat man ihn erwartet, er kam dann sozusagen gleichzeitig mit der Fama, seiner Gegenwart, also der agrippinischen Gegenwart, dann an und ist auch rechtzeitig wieder abgereist, sodass niemand das überprüfen konnte, aber alle waren ganz geblendet von seiner tollen Gestalt, und, na ja, im Jahre 16 hat dann der vermutliche Mörder des Agrippa, also Tiberius, sein Nachfolger auch, den Sklaven Clemens dann im Palast auch erledigen lassen. Das ist ein klassisches großes Gerücht. Man kann bis ins 20. Jahrhundert springen und schlicht Adornos Wort aus der "Minima Moralia" zitieren: Der Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden. Zwischen diesen beiden Gerüchten haben Sie jetzt die absolute Spannbreite.
    "Eine neue Phase der Fama"
    Netz: Ja, und man kann es sogar noch weiter in die Gegenwart ziehen: Sie schreiben, dass mit Nine Eleven und den Gerüchten, die darüber sofort in der Welt waren, auch ein Wendepunkt erreicht war, also dass sich da noch mal eine Zuspitzung ereignet hat. Inwiefern?
    Neubauer: Durch das Internet. Also man kann sagen, dass wir mit dem Internet und gerade mit den neuen kommunikativen Strategien, die damit verbunden sind, eine neue Phase der Fama eigentlich erleben. Das Internet, kann man sagen, ist das Hörensagen im digitalen Zustand, und die Nachrichten sind immer schneller als die Möglichkeit, sie zu überprüfen, und wir nehmen, wenn wir an einem Gerücht teilnehmen, daran Teil mit der Lust daran, uns sozusagen die Hand an dieser heißen Kartoffel zu wärmen und sie schnell weiterzugeben, die Kartoffel, und den Lustgewinn zu haben, dass wir die Geschichte weitergegeben haben an den nächsten. Das ist ein Plus, das ist etwas, was sich gut anfühlt, darum machen wir das alle sehr gerne, und diese Medien sind so schnell, dass dann eine Kontrolle immer zu spät kommt natürlich.
    Netz: Kommt da Journalismus eine ganz neue Funktion zu?
    Neubauer: Ja, gerade der Journalismus hat vielleicht noch die Möglichkeit, aber auf jeden Fall in Zukunft die Aufgabe, da Dinge zu kontrollieren und vertrauenswürdige Instanzen aufzubauen, gewissermaßen eine Filterinstanz, an die sich die Leute wenden können, um dann zu sehen, was ist denn eigentlich wahr oder was nicht. Es wurde jetzt diskutiert im Zusammenhang von Facebook, da solche Agencys einzubauen, die dann sagen, was ein Gerücht ist und was nicht – das ist natürlich relativ hilflos so ein Versuch. Das erinnert an die Rumour Clinic aus dem 20. Jahrhundert, als man versuchte, durch mediale Strategien kriegsrelevante Gerüchte zu dekontaminieren. Das geht in der Regel nicht sowas, weil wer weiß, wer diese Check-Instanz dann wiederum gefaked hat.
    "Wir sind alle aufgerufen, etwas genauer hinzuschauen"
    Netz: Aber wer könnte es, also könnte Orientierung liefern in einer immer unübersichtlicher werdenden Informationswelt?
    Neubauer: Ja, gut, die Medien sind angehalten, das zu tun. Man kann nur hoffen, dass sie nicht weiter daran behindert werden. Was in den USA gerade geschieht, geht ja in dieser Richtung – eine Behinderung der Medien. Man könnte jetzt so sagen, wir sind alle aufgerufen, etwas genauer hinzuschauen, vielleicht auch etwas langsamer hinzuschauen und uns auch dann an verlässliche Quellen zu halten. Ich glaube, dass das dem Feuer eines Gerüchts ein bisschen an Hitze nehmen würde, wenn die Leute sich ein bisschen Zeit ließen und nicht so vorschnell eben das weiterverbreiten würden.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.