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Geschichte der Pop-Provokationen
70 kontroverse „Hits“ der vergangenen 100 Jahre

Provokationen im Pop führen nicht selten zu Skandalen. Die Motive der Künstler sind jedoch unterschiedlich, meint Buchautor Michael Behrendt. Allerdings gebe es heute kaum noch positiv gemeinte Provokationen wie etwa zu Hippie-Zeiten. Behrendts: "Die Grenzen des Akzeptablen verschieben sich immer weiter."

Michael Behrendt im Corsogespräch mit Fabian Elsäßer | 16.03.2019
Buchautor Michael Behrendt mit Megaphon
Eine Erkenntnis der Recherche von Michael Behrendt ist, dass die Songs, die für Aufregung gesorgt haben dann zwar nicht im Radio gespielt wurden, aber deswegen umso mehr verkauft. (Ernst Stratmann)
Fabian Elsäßer: Die Geschichte der Popmusik ist nicht nur, aber auch eine Ansammlung von Skandalen und Provokationen. Oft sind es Texte, die Anstoß erregen, wie bis heute im Rap und Hip Hop. Provozierend wirkten aber auch künstlerische Richtungswechsel wie Bob Dylans Abkehr vom reinen Folk hin zur elektrischen Gitarre oder die akustische Sexualisierung von Pop-Hits wie etwa Donna Summers "Love to love you". Der Popkulturexperte, Autor und Blogger Michael Behrendt hat die Geschichte der Pop-Provokationen niedergeschrieben und auch eine Typologie von Skandal-Songs aufgestellt. Ein bisschen war ich überrascht am Anfang, denn es gibt erst einmal einen chronologischen Teil, in dem Sie eine ganze Reihe von Songs von den 30er Jahren bis in die Gegenwart vorstellen. Da findet sich auch Love me do von den Beatles, deren erste Hitsingle. Wo bitteschön ist denn da die Provokation?
Michael Behrendt: Die Provokation liegt eigentlich nicht im Song selbst oder im Inhalt, der ist nämlich ziemlich banal, sondern in der Art der Präsentation. Das war damals total neu: diese Pilzkopf-Frisuren, dieses Ungestüme, Wilde. Die ganze Ausstrahlung dieser Band hat alles gesprengt, was damals an Konventionen so herrschte. Sie haben außerdem die Jugend verrückt gemacht, die Leute sind reihenweise in Ohnmacht gefallen. Man dachte, dass jetzt die Apokalypse droht. Und im Grunde ist es eher das Gesamtphänomen mit der Inszenierung, dem Selbstbewusstsein und der Jugendlichkeit, was dann einfach die weiße Erwachsenenwelt völlig aus den Angeln gehoben hat.
The Beatles: Paul McCartney, John Lennon, Ringo Starr und George Harrison bei einem Luftsprung auf der Bühne des Prince of Wales Theatre in London.
The Beatles: Paul McCartney, John Lennon, Ringo Starr und George Harrison bei einem Luftsprung auf der Bühne des Prince of Wales Theatre in London. (dpa / PA Photos Limited)
Verprellung des Stammpublikums
Elsäßer: Ich glaube, wenn man Provokation oder Skandale im Zusammenhang mit Musik sieht, dann denkt man sehr schnell erst einmal an Texte oder an Inhalte und vergisst, weil wir heute kaum noch Konventionen haben, die so gebrochen werden können wie damals, dass es auch einmal anders war. Wie war das zum Beispiel bei - wenige Jahre später - Like a rolling stone von Bob Dylan. War es da nur der musikalische Bruch, dass er zur E-Gitarre gegriffen hat oder auch eine textliche Provokation in diesem Fall?
Behrendt: Ich denke schon, dass es auch eine textliche war, denn er war ja ein bisschen gefesselt und eingezwängt im Folk- und Protestsong-Kontext, und man hat eigentlich von ihm erwartet, dass er weiter mit der Akustikgitarre rumschrammelt und für eine bessere Welt singt. Er hat dann einfach mal gesagt, ich mach jetzt was anderes. Er wollte sich auch lösen und hat dann eben auch komplexere Texte gemacht. "Like a rolling stone" ist schon ansatzweise allegorisch, was er dann später noch viel verstärkter gemacht hat. Und im Grunde hat er da schon nicht nur musikalisch, sondern auch auf der inhaltlichen Ebene seine Fans vor allem provoziert. Also er beschreibt eine Person, die sich früher über andere erhoben hat und jetzt selber unten ist und im Grunde wie ein rollender Stein in der Gosse landet. Das kann Idy Satchwick sein von Andy Warhol, aus diesem Umfeld so ein Szene-Girl. Es kann aber auch überhaupt die Boheme sein, von der er sich dann lossagt in dem Text. Möglicherweise ist es sogar eine Selbstkasteiung, und das ist das, was die Leute damals verschreckt hat und was eben nicht ihren Erwartungen entsprochen hat.
Elsäßer: Bleiben wir beim Text. In den Liedtexten identifizieren sie verschiedene Ichs. Also erstmal Show-Ich, Song-Ich, biographisches Ich, und das Song-Ich wird dann noch mal diversifiziert in Genre-Ichs, Fertigbau-Ichs und Rollen-Ichs. Welches Ich eignet sich denn besonders gut für die Provokation?
Sex geht immer
Behrendt: Naja, eigentlich das Genre-Ich, das einfach eine Manifest-artige Botschaft von sich gibt. "My Generation" von The Who oder auch "Neue Männer braucht das Land". Das sind ja eigentlich Phrasen, Parolen, die da gedroschen werden, da kann man jetzt nicht unbedingt sagen, dass da einer tiefsinnige Gedanken äußert oder meditiert....
Elsäßer: Oder eine biographische Erfahrung, wobei - vielleicht schon auch, oder?
Behrendt: Ja, kann schon sein, bloß: provokant ist eigentlich das, was laut, kurz, schnell ist und da nimmt man eigentlich griffige Formeln.
Die britische Schauspielerin und Sängerin Jane Birkin posiert auf einer Wiese. Aufnahme vom 15.05.1970.
Die britische Schauspielerin und Sängerin Jane Birkin posiert auf einer Wiese. Aufnahme vom 15.05.1970. (picture alliance / Lothar Parschauer)
Elsäßer: Was ist die bizarrste Kontroverse um einen Song, die Ihnen bei Ihrer Recherche aufgefallen ist?
Behrendt: Also mir fällt jetzt "Je t'aime" ein von Gainsbourg und Birkin, weil sich alle auf das Stöhnen gestürzt haben aber überhaupt nicht geguckt haben, was da vielleicht an philosophischen Fragen vielleicht auch drin steckt. Eine andere ist, dass man bei Donna Summer - "Love to love you Baby" - anfängt, die Zahl der Orgasmen im Song zu zählen und dann zu verschiedenen Ergebnissen kommt. Das finde ich völlig absurd und grotesk.
Elsäßer: Das bringt uns aber auch schon zum nächsten Punkt. Kann man sagen: Sex geht immer für einen Skandal, für eine Kontroverse?
Behrendt: Ja, das kann man sagen. Man hat das ja zum Beispiel auch bei Katie Perry gesehen. "I kissed a girl" war ja auch ein Aufreger. t.A.T.u. haben auf der Lesbenschiene praktisch gespielt und kokettiert. Und auch die Gangster-Rapper heute sind natürlich gerade mit sexistischen Provokationen ganz vorne dran, aber eben im negativen Sinne.
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t.A.T.u. haben auf der Lesbenschiene praktisch gespielt und kokettiert (imago stock&people)
Verbote nutzen dem Umsatz
Elsäßer: Inwiefern ist das Vorsatz? Sie nennen, ich weiß gar nicht mehr welchen Song genau, einen von den Fantastischen Vier eine "zeitlos genüßliche Reißbrett-Provokation". Kann man sagen, die meisten dieser sexualisierten Texte oder Songs haben den Skandal schon von ihren Urhebern mitgedacht bekommen?
Behrendt: Bei Hip Hoppern ist es oft so. Die reißen sich ja geradezu darum, indiziert zu werden, das ist für sie ne Auszeichnung, und insofern müssen sie ordentlich auf die Kacke hauen, sage ich mal, um auch indiziert zu werden. Die Fantastischen Vier haben sich mit "Frohes Fest" eher einen Spaß daraus gemacht. Die wollten so ein bisschen "Last Christmas" wiederholen von Wham, aber natürlich auf ihre Art und haben eben darauf abgezielt zu werden und haben die Indizierung auch als Auszeichnung genommen. Und natürlich legen es viele darauf an, aber oft ist es auch so, dass sie einfach ein Anliegen haben und gar nicht wussten, dass sie so damit anstoßen würden.
Elsäßer: Es heißt ja gerne, Boykott bewirkt gerne das Gegenteil bei Filmen, Büchern, Musik, nämlich, dass sie anschließend erst recht Aufmerksamkeit erhalten, sich gut verkaufen. Also stimmt das oder stimmt das nur in Maßen?
Behrendt: Nein ich würde sagen, das stimmt absolut. Gerade die Songs, die für Aufregung gesorgt haben, die diskutiert wurden, die wurden zwar nicht im Radio gespielt, aber gerade deswegen umso mehr verkauft. Das ist eigentlich auch eine Erkenntnis aus dem Buch. Wenn man was verbietet, dann sucht es sich einen anderen Weg, und eigentlich nutzt dieses Verbot gar nichts. Man sollte eher darüber sprechen und damit umgehen.
Geschickte Bewegung am Rand des Erlaubten
Elsäßer: Gab es da nicht auch Beispiele, wo Sie sich schwer getan haben, die zu beschreiben, die Ihnen fast schon zu unappetitlich waren, obwohl sie dann trotzdem auftauchen. Also Frei.Wild oder Böhse Onkelz zum Beispiel.....
Behrendt: Ja, also das hat nicht besonders großen Spaß gemacht, sich damit zu beschäftigen. Weil die Künstler eben auch ein perfides Spiel spielen. Sie sagen immer, "ist doch überhaupt nicht schlimm", und wenn man ihnen dann doch näher und auf die Spur kommt, sagen sie "hab ich doch überhaupt nicht so gemeint, ist doch nur ein rhetorisches Spiel". Das ist auf Dauer ziemlich nervig. Noch so ein Ding war "I wanna make love to Steffi Graf". Das ist eigentlich eine richtig üble Beleidigung, und die Künstler sind bis heute noch dabei zu betonen, dass das doch alles Satire sei und superlustig. Das war damals zumindest in den Medien, aber hat eben auch nicht so richtig gezündet.
Die Böhsen Onkelz sehen tatsächlich böse aus - aber sind sie auch rechts?
Die Böhsen Onkelz sehen tatsächlich böse aus - aber sind sie auch rechts? (picture alliance / dpa / Alex Laljak / BO2014)
Elsäßer: Wohingegen man dann sagen muss: Frei.Wild und Böhse Onkelz, da ist ein Potential.
Behrendt: Na absolut, weil die mit diesen nationalistischen und auch sektiererischen Inhalten kokettieren und dadurch unheimlich viele Leute, ähnlich wie AFD und Pegida, anziehen, die irgendeinen Brass auf das System oder die Elite haben. Und das schaffen die ganz geschickt, immer am Rande des Erlaubten sich zu bewegen und damit auch Leute einzufangen.
Rückschritt ins Mittelalter
Elsäßer: Sie schreiben: Die Grenzen des noch Akzeptablen und Erlaubten verschieben sich kontinuierlich weiter. Sie haben im zweiten Teil des Buches so eine Rubrik "Frequently asked questions", also Grundsätzlichkeiten der musikalischen oder künstlerischen Provokation. Man muss vielleicht sogar sagen: es gab früher auch positiv gemeinte Provokationen. Also wenn man sich die gerade Hippie-Zeit anschaut, kann man sagen, die Zeit der positiven Provokationen ist vorbei. Es gibt nur noch negative.
Behrendt: Na ja, nur noch würde ich nicht sagen. Aber es ist schon ganz klar so, dass man damals eigentlich eher in Richtung Freiheit, Bewusstseinserweiterung, Gesellschaftsveränderung wollte. Der Impuls war für eine freiere Gesellschaft. Heute kommt der Backlash. Die Leute, die damals provoziert haben, sind heute selber Mainstream, und sie kriegen's jetzt von rechts und von Rappern mit Migrationshintergrund. Und das ist dann ziemlich gegen die Freiheit, gegen die politische Korrektheit, sondern es ist eigentlich ein Rückschritt ins Mittelalter, und das ist heute leider dominant.
Elsäßer: Gibt es einen Lieblings-Provokations-Song von Michael Behrendt, den wir vielleicht auch anschließend noch hören sollten?
Behrendt: Also ich fand besonders beeindruckend Jennifer Rostock mit "Hengstin", weil sie es geschafft hat, sowohl Neonazis, Rechte, als auch Rapper mit Migrationshintergrund gegen sich aufzubringen. Und sie hat ja dafür gesorgt, dass Bass Sultan Hengst einen Antwort-Song gemacht hat, in dem er sich genau als der Macho entlarvt, der da kritisiert wird. Und ich finde, das ist schon 'ne Leistung.
Jennifer Weist von der Band "Jennifer Rostock" bei einem Konzert im Sommer 2017.
Elsäßer: Herzlichen Dank für das Gespräch, Herr Behrendt.
Behrendt: Danke Ihnen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Michael Behrendt: "Provokation! Songs, die für Zündstoff sorg(t)en "
wbg Theiss, 2019. 296 Seiten, 20 Euro.