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Geschichte der Zukunft
Joachim Radkau vergleicht Erwartungen und Realität

Hinterher ist man immer klüger. Der Historiker Joachim Radkau hat untersucht, wie sich Menschen seit 1945 ihre Zukunft vorgestellt haben, was diese Visionen beeinflusst hat und wie sich all das zur Realität verhält. Sein Fazit: Zur Zukunftsgeschichte ist noch viel zu schreiben.

Von Stefan Maas | 30.01.2017
    Ein Fernglas
    Ein Fernglas (picture alliance / dpa / Foto: Friso Gentsch)
    Die Beschäftigung mit der Zukunft bietet gleich aus zwei Richtungen grundlegende Schwierigkeiten. Formuliert man Prognosen, muss man damit leben, so überzeugt man von seiner Voraussage auch ist, dass alles ganz anders kommen könnte. Blickt man als Historiker zurück auf das, was einst Zukunft war, weiß man, dass viele dieser Prognosen sich als falsch erwiesen haben. Um jedoch eine möglichst umfassende und sachliche Geschichte der Zukunftserwartungen in Deutschland nach 1945 zu schreiben, muss man es als Autor schaffen, der Versuchung zu widerstehen, "sich in einer hämischen Besserwisserei der Retrospektive zu ergehen", sagt Joachim Radkau.
    Das ist dem Autor, der früher als Professor für Neuere Geschichte an der Universität Bielefeld lehrte durchaus gelungen. Radkau nimmt die Leser seines Buches "Geschichte der Zukunft" mit auf eine detailreiche Reise von den Anfängen der Bundesrepublik bis in die Gegenwart. Und gleicht Fakten und Entwicklungen ab mit den Prognosen und Fiktionen der jeweiligen Zeit. "Es ist vielleicht kein Zufall, dass sich die Zukunfts-Literatur von früher verramscht wird für einen Cent plus Porto. Die hat oft gar nicht so sehr Geschichte gemacht."
    Es ist nötig, mehrere mögliche Zukunftsszenarien zu entwerfen
    Auffällig im Rückblick: Viele Bücher, die zu ihrer Zeit prominent und einflussreich waren, suggerierten ihren Lesern, die von ihren Autoren skizzierte Zukunft sei unausweichlich - oder das, was in der Realität noch Zukunftsmusik war, sei längst Fakt. Gleiches gilt für viele Prognosen, auf denen wirtschaftliche und politische Entscheidungen basierten. "Man muss daraus folgern, dass es nötig ist, mehrere mögliche Zukunftsszenarien zu entwerfen. Und die sollten nun wieder dazu führen, auch die Gegenwart noch schärfer, noch vielseitiger zu beobachten, ob da nicht auch so ganz unterschiedliche Potenziale drin enthalten sind."
    Wie sehr die Realität von den Erwartungen abweichen kann, zeigt Radkau etwa mit Blick auf die Nachkriegsjahrzehnte. Im Rückblick oft als zuversichtliche Wirtschaftswunder-Ära verklärt, zeichnen die Umfrage-Ergebnisse des Allensbach-Institutes ein ganz anderes Bild der 50er Jahre.
    "Nie wieder hat in der Nachkriegszeit das soziale Misstrauen den Grad erreicht, der Anfang der fünfziger Jahre gemessen wurde. Erst Mitte der sechziger Jahre war diese Periode sozialer Kälte zu Ende."
    Die Kriegsgeneration sah die Zukunft eher pessimistisch
    Auch die Zukunftserwartungen vor allem der Kriegsgeneration waren in der Nachkriegszeit düster. Karl Schiller, 1947 Wirtschaftssenator in Hamburg, veranschlagte damals für den Wiederaufbau 80 Jahre. Umfragen des Allensbach Instituts aus dieser Zeit zeigen allerdings auch, dass vor allem Schüler und Studenten die Zukunft des Landes nicht "grau in grau sahen, sondern überwiegend zuversichtlich." Zu Recht, wie sich zeigen sollte.
    "Der deprimierende Schein trog, in Wahrheit war weit mehr an Ressourcen – menschlichen wie materiellen – erhalten geblieben, als selbst Ökonomen wahrnahmen."
    Wie schwer vorhersehbar Entwicklungen sein können, auch weil externe Ereignisse eine wegweisende Rolle spielen können, verdeutlicht Radkau sehr ausführlich am Thema Atomkraft. Gibt die Ölkrise in den 70er Jahren den Atomstrombefürwortern nach einigen Jahren abnehmender Begeisterung neuen Auftrieb, folgt mit dem Gau in Tschernobyl ein gravierender Rückschlag, der zu einem weiteren Erstarken der Anti-Atomkraft-Bewegung führt. Da selbst viele in der Umweltbewegung skeptisch sind, ob sich grüner Strom wirklich bezahlbar erzeugen lässt, etwa weil die Produktion von Solarzellen noch mit enormen Kosten verbunden ist, scheint auf einmal Kohle wieder die bessere Alternative zur Energiegewinnung zu sein. Allerdings, so Radkau: "Genau im Tschernobyljahr 1986 ertönte zum ersten Mal der schrille Klima-Alarm." Und gibt der Entwicklung wieder eine neue Richtung.
    Schreckensszenarien schaffen manchmal erst die Probleme
    Nicht zuletzt an diesem Beispiel verdeutlicht der Autor eine maßgebliche Schwäche vieler vermeintlich alternativloser Szenarien. Während ihre Autoren und Anhänger wie mit Scheuklappen nur auf einen eng abgesteckten Aspekt starrten, bringt er parallel verlaufende Entwicklungen - seien sie technisch, politisch oder gesellschaftlich – miteinander in Verbindung. Und zeigt, wie sie einander beeinflussen können.
    An anderer Stelle arbeitet er heraus, dass manchmal auch der Versuch, eine vermeintlich drohende Katastrophe zu verhindern, wenngleich auch unbeabsichtigt, ein Problem erst entstehen lässt. Um das zu demonstrieren, hat sich der Autor das Thema "Deutsche Bildungskatastrophe" näher angesehen. 1964 veröffentlicht der Philosoph und Pädagoge Georg Picht eine Artikelserie, in der er eine düstere Zukunft für Deutschlands wirtschaftliche Entwicklung malt. Da das Potential eines Landes von seinem Bildungsstand abhänge, brauche es eine "riesige Vermehrung auf den höheren Bildungsstufen".
    "Picht ist ganz auf die Abiturienten fixiert, und zwar auf die bloße Quantität, nicht auf die Qualität der Gymnasialbildung."
    Das setzt, sagt Radkau, mit steigender Abiturienten- und folglich Studentenzahl eine wenig zielgerichtete und letztlich problematische Entwicklung in Gang. Einerseits hätte es für die Wirtschaft mehr Studenten in naturwissenschaftlichen und Wirtschaftsfächern gebraucht statt Geisteswissenschaftler. Der Autor: "Was er auch nicht vorhergesehen hat, den Pillenknick ab 1970, dass die Zahl der Schüler dann auf die Dauer doch drastisch zurückging, und der Lehrerbedarf damit schrumpfte, so dass es später ein Standardwitz war, die wirkliche Bildungskatastrophe, die Massenarbeitslosigkeit von Lehramtsanwärtern ist ganz wesentlich durch Pichts Katastrophenalarm ausgelöst worden."
    Dieses Buch ist nicht das letzte zur Zukunftsgeschichte
    Eines zeigen alle Beispiele im Buch, sei es die Automation in Betrieben oder der Wandel Deutschlands von kranken Mann Europas zum Exportweltmeister: trotz aller Prognosen, eine gerade Linie, den großen Masterplan, der einhundertprozentig umgesetzt wurde, hat es nie gegeben. Und so sind auch bei den beiden Themen in Radkaus Buch, die noch nicht abgeschlossen sind, sondern bei denen der Autor sogar einen vorsichtigen Blick in die Zukunft wagt - Arbeit 4.0 und Umweltbewegung – verschiedene Entwicklungen denkbar.
    Gerade diese Erkenntnis macht Radkaus Buch zu einer interessanten Lektüre. Plötzlich entdeckt der Leser überraschende Wendungen bei altbekannten Themen, die die Geschichte der Bundesrepublik noch einmal in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen. Weil der Autor sehr detailgenau arbeitet und viele Aspekte und Bezüge in verschiedenen Kapiteln immer wieder auftauchen, was für den Komplettleser durchaus anstrengend sein kann, ist es auch möglich, nur in einzelne Kapitel hineinzuschauen, ohne wichtige Informationen zu verpassen. Radkau selbst ist überzeugt, sein Buch werde nicht das letzte zur Zukunftsgeschichte sein, denn die Beschwörung verschiedenster Zukunftsszenarien hat seiner Ansicht nach wieder Konjunktur. Mit dieser Prognose könnte er durchaus Recht haben.
    Joachim Radkau: "Geschichte der Zukunft. Prognosen, Visionen, Irrungen in Deutschland von 1945 bis heute"
    Hanser Verlag, 544 Seiten, 28 Euro.