Fünf geplante Bände umfaßt die voluminöse "Geschichte des Wohnens" in der Deutschen Verlagsanstalt; ein Vorhaben, das ohne einen großzügigen Geldgeber jeden mittelständischen Betrieb überfordert hätte. Allein das schwere Kunstdruckpapier, den hochwertigen Illustrationen geschuldet, dürfte die Kosten gewaltig in die Höhe treiben, und wer am Ende des Editionszeitraumes alle fünf opulenten Bände sein eigen nennt, hat für einen vergleichsweise günstigen Preis viel Gegenwert im Regal stehen; da sieht er über das Logo der "Wüstenrot-Stiftung" großzügig hinweg. Eine Parteinahme für die Eigenheim-Pioniere ist zumindest im vorliegenden Band nicht zu erkennen und würde Verlag wie Stiftung auch schlecht anstehen. Indes korrigiert der Beitrag "Mythen, Macht und Mängel Der deutsche Wohnungsmarkt im Urbanisierungsprozeß" von Clemens Wischermann gängige Vorurteile in einer Weise, die mißtrauische Leser als parteilich werten könnten. Es gehört zum sozialkritischen Grundinventar des 19. Jahrhunderts, das Elend der Massen mit der Boden- und Immobilienspekulation in Zusammenhang zu bringen. Wischermann sieht das ganz anders und zitiert zustimmend folgende Beschreibung Berliner Verhältnisse: "Das Terraingewerbe als Träger der Stadterweiterung und damit das private Großkapital hat dabei gerade nicht, etwa über ein ‘Bodenmonopol’, das Baulandangebot künstlich verknappt. Im Gegenteil: Die von den Großbanken kontrollierten Terraingesellschaften brachten in Berlin über mehr als ein Jahrzehnt (...) hinweg Bauland in enormem Umfang auf den Markt. (...) Damit finanzierten sie im Rahmen einer historisch frühen Variante des "private-public sponsorship" mit den Gemeinden zu einem erheblichen Teil den Ausbau der städtischen Infrastruktur."
Eine gewöhnungsbedürftige Perspektive, denn Wischermann verschweigt die Nachteile dieser "ungesteuerten" Wohnungswirtschaft durchaus nicht: Pfusch am Bau, Konkurse durch mangelhafte Finanzierung, städtebauliche Monotonie. Dennoch galt bis zu Beginn des Ersten Weltkriegs reiner Wirtschaftsliberalismus als Allheilmittel gegen Wohnungsnot auf der einen, Leerstand wegen unbezahlbarer Mieten auf der anderen Seite. Der frei finanzierte Wohnungsbau bei schwacher Eigenkapitaldecke mißachtete häufig das konjunkturelle Risiko; wo Firmen zusammenbrachen und Massenentlassungen stattfanden, konnten sich die Arbeiter noch weniger als zuvor akzeptablen Wohnraum leisten. Ihre Abhängigkeit von den wirtschaftlichen Zyklen spiegelt sich in der Umzugsstatistik, die bei Fabrikarbeitern innerhalb weniger Jahre ein halbes Dutzend Wohnungswechsel verzeichnet, oft nicht weiter als bis zur nächsten Straßenecke. Mangelnde Wohnungsqualität und finanzielle Engpässe gaben den Ausschlag; das Mobiliar blieb bescheiden, und so sprach man von "steinernen Zelten", in denen die Arbeitsnomaden kurzzeitig hausten.
Wenn man von den Rodungsarbeiten der Terraingesellschaften absieht, die Ackerflächen zu Bauland umwidmeten, konnte sich eine mieterfreundliche Wohnungspolitik nur auf sozialreformerische und mäzenatische Ansätze stützen; der wilhelminische Staat hielt sich von diesem Sektor fern. Dabei besaß einer seiner herausragenden Repräsentanten durchaus persönliche Erfahrungen als Wohnungssuchender. Der junge Fürst Bismarck, eben in der Reichshauptstadt angekommen, fand 1849 durchaus nichts Passendes für sich und seine Gattin. Raumaufteilung oder Heizungsprobleme, das Verhältnis zwischen Repräsentations- und Nutzwert, schließlich auch die Miethöhe ließen ihn immer wieder von einem Angebot Abstand nehmen. Auch damals schon, vor der Expansion des industriellen Mietskasernenbaus, wurden Wohnungen nach seltsamen und durchaus nicht immer praktischen Kriterien zugeschnitten; praktisch zumindest nicht aus Sicht der Bewohner, eher aus Sicht des Bauherren.
Ein altes Dilemma: Die Massenarchitektur hinkt den soziologischen Veränderungen etwa in der Familienstruktur regelmäßig hinterher. Diesem Malus wollten die Reformer entgegentreten, vom anders gearteten Fortschrittsdenken der Sozialhygieniker unterstützt. Während letztere betont repressiv argumentierten ihr Interesse galt vordringlich der Seuchengefahr aus überbelegten und sanierungsfälligen Quartieren , strebten die Vertreter des "Gartenstadt"-Gedankens eine romantische Verquickung von Natur und Industrie an. Nicht zufällig ein Import aus England, wo die Industrialisierung über den Adel lief, der auf landschaftliche Ästhetik mehr Wert legte als die deutschen Finanzierungsgesellschaften. So blieben Projekte wie die Dresdner Gartenstadt Hellerau Vorzeigeobjekte ohne Massenwirkung. Als das Wohnen nach dem Zweiten Weltkrieg endlich zu jenem Stellenwert gefunden hatte, der sich in den Gartenstädten schon fünfzig Jahre zuvor niederschlug, wurden die Weichen in eine andere Richtung gestellt, in Richtung "Wüstenrot"-Eigenheim.
Aber das ist Teil der fünften und letzten Folge der "Geschichte des Wohnens", deren vorliegender dritter Band alles versammelt, was später an Bedeutung gewinnt. In diesem Sinne stellt der behandelte Zeitabschnitt eine Art Laborküche dar, in der oft überhitzt alle Rezepturen möglicher Wohnformen ausprobiert und miteinander kombiniert wurden. Sehr anschaulich schildern die fünf ausgewachsenen Teil-Bücher das Kräftespiel antagonistischer Interessen, Arbeiterschaft und Kapital, Städtebau und Reformbewegung, bei dem nur etappenweise einer den Sieg davontrug. Im Ergebnis scheint Wohngeschichte, so zumindest der Lese-Eindruck, der naturwissenschaftlichen Chaostheorie näher als einem planvoll ablaufenden Zivilisationsprozeß. Da wiegt die Entscheidung schwer, wie man den Stoff aufbereitet. Verlag und Herausgeber haben sich zu einem enzyklopädischen Ansatz entschieden, der keinen Aspekt ausläßt und manchmal zu detailliert ins Statistische abgleitet. Missen möchte man indes auch so randständige Gebiete wie den fünften Abschnitt über die unfreiwillige Unterbringung in Heimen, Gefängnissen und Asylen nicht. Gerade hier, im krassen Gegensatz zur bürgerlichen Behaglichkeit, spiegelt sich der Zeitgeist am deutlichsten wider, und man darf gespannt sein, ob es ein entsprechendes Pendant im Band über zeitgenössisches Wohnen geben wird. Wie die Gesellschaft mit ihren Außenseitern umgeht, verrät viel über ihre innere Verfassung, und die Einblicke in Armenhäuser und Gefängnisarchitekturen lassen manch aufgeputzte Fassade blättern.
Einblicke die schenkt dieser Band tatsächlich. Er ist so hervorragend illustriert, wartet mit derart überraschendem Bildmaterial auf Fotografien und Kupferstichen, Gemälden und Aufrißzeichnungen , daß man die Bildbeschafferin Karin Seidel namentlich erwähnen muß. Allerdings wird die Freude durch einen Wermutstropfen getrübt: Keine der architektonischen Skizzen, Baupläne, Entwürfe enthält eine Legende. Mühevolle Kleinarbeit für den Verlag, gewiß, aber wer im Detail erforschen will, wie die Räumlichkeiten einer Wohnung genutzt wurden, bleibt auf Vermutungen angewiesen. Nur einmal stößt er auf einen selbsterklärenden Entwurf. Die Moabiter Gefängniszelle auf Seite 650 ist folgendermaßen beschriftet: B für Bett, F für Fenster, K für Kanne, L für Lampe, S für Stuhl, T für Tisch und W für Wandregal. Wer Gefängnisse baut, will eben die Übersichtlichkeit bewahren.