Archiv


Geschichte eines Wiener Milieus

Egon Friedell war Literat, Schauspieler, leidenschaftlicher Plauderer - und bei alledem vor allem eines: ein menschliches Original. "Der geniale Dilettant" nennt Autor Bernard Viel die Biografie, in der er das Phänomen Friedell greifbar machen will - insgesamt eine dankbare Lektüre.

Von Martin Ebel |
    Egon Friedell um 1935. Sein Lebenswerk ist die dreibändige "Kulturgeschichte der Neuzeit".
    Egon Friedell um 1935. Sein Lebenswerk ist die dreibändige "Kulturgeschichte der Neuzeit". (picture alliance / imagno /Austrian Archives)
    Egon Friedell gibt es mindestens dreimal. Da ist zum einen der begnadete Causeur, die Wiener Kaffeehausexistenz, der mit Kollegen wie Peter Altenberg, Alfred Polgar oder Felix Salten die Nachmittage und Abende durchplauderte. Da ist zum zweiten der Schauspieler, und zwar ein ernst zu nehmender Schauspieler, der unter Max Reinhardt auftrat, in Stücken von Shaw, Schiller und Shakespeare - und beileibe nicht nur in Sketchen wie jenem berühmten Einakter, in dem Goethe für einen gequälten Gymnasiasten in die Abiturprüfung geht, über sein eigenes Werk geprüft wird und selbstverständlich durchfällt. Da ist zum dritten und wichtigsten natürlich der Autor Egon Friedell, dessen "Kulturgeschichte der Neuzeit" im Schrank jedes gebildeten Abendländers steht - oder wenigstens stehen sollte, denn niemals davor oder danach ist dermaßen originell, intelligent und amüsant über eben dies, das Abendland, geschrieben worden.

    Klar, dass diese drei Friedells zusammen hängen - und das ist auch eine Leitplanke, an der entlang Bernhard Viels neue Biografie fährt. Der Autor der Kulturgeschichte entwickelte seine Gedanken gern im Gespräch - oder probierte sie, einmal entwickelt, an kritischen Geistern im Kaffeehaus aus. Sein großes Werk (zu dem später noch eine unvollendete" Kulturgeschichte der Alten Welt" kam) ist szenisch aufgebaut, Friedell führt seine großen Erfinder, Künstler, Staatslenker wie Theaterfiguren. Und - damit ist der Kreis geschlossen - in jeder Rolle spielt er immer sich selbst.

    Auch zwischen Werk und Leben zieht der Biograf einen kurzen Schluss. So wie Egon Friedell die gesamte Neuzeit aus einem gesamteuropäischen Trauma entwickelt - der Schwarzen Pest von 1348 -, so deutet Bernhard Viel Friedells Psyche aus dem Trauma des verlassenen Kindes. Als der 1878 geborene Friedell drei Jahre alt war, brannte seine Mutter mit einem Geliebten durch. Mit 13 verlor er dann seinen Vater, den jüdischen Tuchfabrikanten Moritz Friedmann (das Pseudonym Friedell nahm er 1904 an). An die Stelle der Mutter tritt das heißgeliebte Kindermädchen Marie Gabriel, an die Stelle des Vaters treten nacheinander weniger geliebte Vormünder. Friedells Schulkarriere ist berüchtigt und ein Trost für jeden schlechten Schüler. Erst im vierten Anlauf bestand er das Abitur, da war er schon 21 und bald promoviert - in Philosophie.

    Seine eigentlichen Lehrer waren ohnehin die großen Autoren, die er las - und die geistreichen Gesprächspartner im "Griensteidl" oder im "Central". Sein Leben lang hat Friedell gegen Systemdenken polemisiert und für den Dilettantismus plädiert, was seiner "Kulturgeschichte" außerordentlich zu gute kommt. Ohnehin waren für ihn alle Dichter Philosophen und alle großen Männer, sogar Jesus, Künstler.

    Bernhard Viels Biografie ist sorgfältig und genau, Fehler findet man nur mit der Lupe (so heißt der französische Lyriker Mallarmé nicht Prosper mit Vornamen, sondern Stéphane). Da ihm auch das ergiebige Material zu Friedells Leben allein nicht genug für ein eigenes Buch herzugeben schien, weitet der Biograf seine Betrachtungen auf Zeitgeschehen und Zeitkolorit aus, zitiert dazu ausführlich aus den Erinnerungen etwa von Stefan Zweig und Carl Zuckmayr. So kann man dieses Buch auch als Geschichte eines bestimmten Wiener Milieus lesen, vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1938, zum Anschluss, als alles, was Friedell lieb und teuer war, unterging - weshalb er sich, als zwei SA-Männer an seiner Tür klingelten und nach dem "Jud Friedell" verlangten, aus dem Fenster stürzte.

    Die Anekdote, hat Egon Friedell einmal geschrieben, sei die einzig berechtigte Kunstform der Kulturgeschichtsschreibung. So wimmelt es in seinem Hauptwerk auch davon, und keine ist beliebig. Friedells eigenes Leben scheint manchmal regelrecht geführt, um in Anekdoten zu münden, und natürlich erzählt sein Biograf jede Menge davon. Etwa das Improvisationsduell mit dem berühmten Schauspieler Max Pallenberg, der es liebte, seine Mitspieler zu verunsichern, indem er vom Text abwich. Dies versuchte er auch in einer Aufführung des "Eingebildeten Kranken" von Molière mit Friedell, in dem er aber bald seinen Meister fand: Denn der war von Kaffeehaus und Kabarettbühne in der schnellen, witzigen Replik geübt; nach einigem Hin und Her brachte er Pallenberg vollends aus dem Konzept, als er Latein und Griechisch zu parlieren begann. Der Gegner geriet ins Stottern und gab auf.

    Einmal stand Friedell im Kaffeehaus auf, ging ans Telefon, wählte eine fiktive Nummer und improvisierte ein Gespräch mit Sigmund Freud, den er mit den Worten herbestellte: "Es ist sehr dringend, Herr Professor, ich habe soeben etwas verdrängt." Die Zahl der Pointen und Bonmots, die ihm zuflogen, den Augenblick bereicherten und die unwiederbringlich verloren sind, dürfte enorm sein. Immerhin haben viele Eingang in die "Kulturgeschichte", andere in Memoiren und einige auch in diese Biografie gefunden. Sie sind, wie das bei Pointen oft so ist, nicht dazu angetan, jedermann zu gefallen. Etwa diese: "Die Frauen sind keine Menschen. Das macht sie so anziehend." Oder diese: "Ich verstehe nicht, wie man homosexuell sein kann. Das Normale ist doch schon unangenehm genug."

    Nein, homosexuell war Friedell nicht, aber ein erfülltes Geschlechtsleben, wie man das damals nannte, hatte er auch nicht. Bindungsscheu, unterhielt er jahrzehntelang ein platonisches Verhältnis mit Lina Loos, der Muse vieler berühmter Männer und kurz Gattin des Architekten Adolf Loos. In seiner Wohnung in der Gentzgasse 7 lebte seine Haushälterin Hermine Schimann, deren Tochter Herma mit ihrem Mann und zwei Kindern. Eine eigentümliche Wohngemeinschaft, aber für Friedell der ideale Ort zum Arbeiten. Das tat er nämlich nicht im Kaffeehaus, sondern auf seinem Diwan. Seine echte Mutter tauchte übrigens später wieder auf und klagte ihren Sohn, der sich weigerte, sie zu sehen und nur "Frau Tritsch" nannte, auf Alimente ein, bekam sogar eine kleine Summe zugesprochen.

    Bernhard Viel hat versucht, sich vom geistvollen Plauderstil Friedells inspirieren zu lassen. Das gelingt manchmal, an anderen Stellen wirkt es etwas bemüht. Insgesamt ist seine Biografie eine dankbare Lektüre. Wer die "Kulturgeschichte" liebt, erfährt hier Erschöpfendes über ihren Schöpfer - und noch manches mehr über seine Welt.

    Bernhard Viel: Egon Friedell. Der geniale Dilettant. Ein Biografie.
    Verlag C. H. Beck, München 2013. 350 Seiten, 24.95 Euro.