Freitag, 19. April 2024

Archiv

Sabine Scholl: "Lebendiges Erinnern. Wie Geschichte in Literatur verwandelt wird"
Geschichte schreiben mit Fiktionen

Sabine Scholl nimmt in „Lebendiges Erinnern. Wie Geschichte in Literatur verwandelt wird“ das historische Erzählen neu in den Blick. Ihre praxisnahe Recherche zeigt: Komplexer und kritischer als je zuvor arbeiten sich zeitgenössische Romane an Erinnerung ab.

Von Oliver Jungen | 18.11.2021
Sabine Scholl: „Lebendiges Erinnern"
Sabine Scholl schreibt in ihrem neuen Roman „Lebendiges Erinnern. Wie Geschichte in Literatur verwandelt wird“ über historisches Erzählen. (Foto: Uta Tochtermann, Buchcover: Sonderzahl Verlag)
Dass Dichtung und Wahrheit unzertrennlich sind, eines der Schatten des anderen, dürfte Schriftstellern immer schon bewusst gewesen sein. Historiker mussten erst lernen, dass jede Geschichtsdarstellung fiktionale Elemente besitzt, auch wenn schon Napoleon gesagt haben soll, Geschichte sei die Lüge, auf die man sich geeinigt habe.
Umgekehrt wurde der Zugriff der Literatur auf die Historie in den letzten Jahrzehnten immer wissenschaftlicher. Eine fiktive Handlung mit einem akkuraten Epochenporträt zu verbinden, ist heute gängig. Die Grundlage dafür bilden Forschungsliteratur, Archivmaterial und persönliche Zeugnisse. Von der Recherche bis zur Oral History-Methode, die Aussagen von Zeitzeugen auswertet, ähneln die Zugänge zum Stoff also oft denen der Historiker. Die österreichische Essayistin Sabine Scholl interessiert in diesem Kontext eine literarische Strömung, die sie mit der amerikanischen Literaturtheoretikerin Marianne Hirsch „Postmemory“ nennt:
„Autorinnen der Nachfolgegeneration bewegen sich frei durchs Material, verfügen darüber wie ein Regisseur, ohne selbst von Krieg und Verfolgung belastet zu sein. Die Nach-Erinnerung bedeutet keine leibhaftige Verbindung zur Vergangenheit, sondern wird mittels Imagination, Projektion und Kreation hergestellt. Somit ist die Postmemory ein geerbtes, übertragenes und stark affektiv geprägtes Gedächtnis an etwas, woran man sich nicht erinnern kann.“

Literatur lässt Archivmaterial sprechen

Sabine Scholl, und das macht diesen Band so interessant, nähert sich ihrem Gegenstand ganz aus der Praxis heraus. Die genaue Lektüre von vierzehn Postmemory-Texten, in denen zumeist marginalisierten Opfern geschichtlicher Umwälzungen eine Stimme verliehen wird, zeigt zunächst, wie effektiv Literatur nach wie vor darin ist, Archive zum Leben zu erwecken. Für die Autorin ist freilich wichtiger, wie neuere Romane über die althergebrachte Vergegenwärtigung durch Einfühlung hinausgehen. Dabei zeigt sich, dass das Erinnern in der Literatur heute so komplex behandelt wird wie nie zuvor.
So finden sich oft Sprünge, Brüche und Wiederholungen statt einer linearen Narration. Dokumente werden in die Romane eingebunden und teils dichterisch verfremdet. Das wiederum kann der Kritik an Tätersprachen dienen. Mehrere der Autoren denken theoretisch über Zeit nach. Mitunter wird auch die Recherche selbst zum Formprinzip, so bei der ukrainischstämmigen Autorin Natascha Wodin, die in „Sie kam aus Mariupol“ das Schicksal ihrer in der Sowjetunion als Adelige verfolgten und in Deutschland zur Zwangsarbeit gezwungenen Mutter aufgearbeitet hat. Inger-Maria Mahlke wiederum erzählt ihren multiperspektivischen Roman über die dunkle Geschichte Teneriffas mit dem Titel „Archipel“ konsequent rückwärts. Das simuliert den Vorgang einer Ausgrabung und macht eindrücklich deutlich, welche Aspekte aus der Überlieferung herausgefallen sind.

Problematisierung des Erinnerungsprozesses

Die wichtigste Erkenntnis: Fast alle der behandelten Romane sind hochgradig selbstreflexiv. Widersprüchliches muss dabei nicht aufgelöst werden. Die Allmacht der Erzählerstimme wird in der Regel unterlaufen und manche Texte setzen immer wieder neu an. So problematisiert das neue historische Erzählen die Kohärenz des Erinnerungsprozesses an sich. Die Einsicht, dass Geschichte immer auch eine Erzählung ist, die napoleonische Lüge also, wird manchmal sogar raffiniert auf die Handlungsebene selbst übertragen. Dafür steht laut Scholl etwa die kroatische Schriftstellerin Ivana Sajko, die in ihrem Buch namens „Familienroman“ Erinnerungen, Dokumente, Erfindungen und Kommentare poetisch miteinander verbunden hat:
„Bevor sie überhaupt zu erzählen beginnt, erklärt sie ihre Vorgehensweise, mit der sie u.a. Auslassungen in gängigen Geschichtserzählungen kritisiert. Aussagen dazu legt sie später ihrer Protagonistin, einer Lehrerin, in den Mund. Diese muss im kommunistisch geprägten Jugoslawien ideologisch genehme Versionen von Historie vermitteln, welche sich jedoch immer wieder ändern.“
Sabine Scholl kann mit ihren klugen Analysen also zeigen, dass es den vorgestellten Romanen gelingt, wieder sichtbar zu machen, was im Geschichtsprozess getilgt wurde, und uns zugleich dafür zu sensibilisieren, dass jede Erinnerung immer so viel Dichtung wie Wahrheit enthält. Wir sehen dank dieser Untersuchung nun klarer, was das postmemoriale Erzählen im Kern ausmacht: Der Glaube an die eine Geschichte ist dem Bewusstsein von deren Brüchigkeit gewichen. Es ist ein Erzählen jenseits der Naivität.

Sabine Scholl: „Lebendiges Erinnern“. Wie Geschichte in Literatur verwandelt wird.
Sonderzahl Verlag, Wien.
230 Seiten, 20 Euro.