Koczian: Mannesmann-Prozess und Selbstbedienung bei den Gehältern in den Führungsetagen haben laute Klagen über unethisches Verhalten ausgelöst. Ist dies eine artifizielle Debatte, weil der Gegenstand ja so schön plakativ ist und vielleicht auch Neid mitspielt? Eine Debatte die verdeckt, dass der moralische Verfall der Gesellschaft längst im Gange ist?
Maier: Man muss ja beide Seiten sehen. Zunächst einmal ist ganz klar, dass jemand der in einer besonderen Verantwortung steht, dann auch entsprechend bezahlt werden muss, aber nach unseren Informationen sind im Augenblick die Verdienste dermaßen nach oben gegangen, dass sich in der Tat die Frage stellt, wie weit hier die Moral noch zu ihrem Recht kommt.
Koczian: Gesetzliche Regelungen, so sie denn getroffen werden - sie sind ja gefordert worden - fördern nicht unbedingt die Moral. Es fehlt schlicht an Anstand, aber woher diesen nehmen? Unsere Schulen sind doch nicht schlechter und die Eltern keineswegs liebloser geworden - welche Institutionen versagen da?
Maier: Ich denke, dass die gesamte Gesellschaft hier in der Pflicht steht und dass man die Schuld jetzt nicht einseitig auf eine bestimmte Institution, etwa auf die Schule schieben kann, sondern uns allen sind die Maßstäbe ein Stück weit verloren gegangen. Ich denke, dass die ganze Gesellschaft wieder zu dem zurückfinden muss, dass sie sich auch auf ein bescheideneres Lebensniveau einstellt. Das werden die nächsten Jahre von uns allen verlangen. Aber wenn alle in der Pflicht sind, dann ist klar, dass natürlich auch die Gehälter der Topverdiener dementsprechend sich in einem Rahmen bewegen müssen.
Koczian: Zugleich werden ja bei namhaften Firmen Arbeitszeitverlängerungen vereinbart, das heißt die Privilegierten, die Arbeitsplatzbesitzer sichern sich diese Arbeitsplätze und die Mehrarbeit wird eben nicht auf die Schultern von derzeit Arbeitslosen gelegt. Ist dies nicht der eigentliche Klassenkampf, der zwischen Arbeitsplatzinhabern und Arbeitslosen?
Maier: Dass sich diese Situation jetzt zuspitzt, ist in der Tat schwierig. Also ich denke, dass man da auch in der Zukunft entsprechend gestalten muss und dass alle verschiedenen Gruppen in gleicher Weise zu beteiligen sind. Insgesamt aber wird man schon sagen müssen, dass diejenigen, die sich noch an einem Arbeitsplatz befinden, natürlich mehr zu übernehmen haben als solche Leute, die überhaupt nicht mehr in der Arbeit stehen.
Koczian: Nun sagt man ja, dass der Mammon das Zusammenleben regiert einerseits. Andererseits engagieren sich immer mehr Menschen in der Zivilgesellschaft, haben humanitäre Ziele. Haben Sie eine Erklärung, warum diese Gesellschaft bisweilen wie Dr. Jekyll and Hyde wirkt, also ambivalent aussieht?
Maier: Ja, ich denke schon. Diese Gesellschaft hat natürlich auch so etwas wie ein kollektives schlechtes Gewissen und das bedeutet nun für viele den Antrieb, sich humanitär zu engagieren. Auf der anderen Seite steht natürlich auch bei uns der gewohnte deutsche Idealismus, der sich schon immer gerne humanitär betätigt hat. Aber wahrscheinlich stehen die beiden Dinge schon in einem gewissen inneren Zusammenhang und man müsste sehen, dass man das humanitäre Engagement aufrecht erhält und auf der anderen Seite aber dennoch auch für die Einhaltung bestimmter Maßstäbe sorgt.
Koczian: Kann das auch damit zu tun haben, dass wir eben nicht mehr den biblischen Zehnten errichten, sondern der Staat mit Steuern und Sozialabgaben nahezu die Hälfte des Einkommens okkupiert und damit wirklich als Leviathan empfunden wird?
Maier: Ich denke, dass das schon damit zu tun hat, dass bei uns auch die biblischen Impulse nicht mehr so stark wirken wie in den vorausgegangenen Generationen. Wir haben eine Entfremdung von der Bibel erlebt und das bedeutet nun natürlich auch, dass die Menschen in ihrer Verantwortung vor Gott nicht mehr so ansprechbar sind, wie sie das früher waren. Also ich denke, dass manche Missstände nicht entstanden wären, wenn man auch noch eine Verantwortung vor Gott miteinbezogen hätte.
Koczian: Um da nachzufragen: Entlastet der Sozialstaat das Vertrauen, er wird es schon wirken, vielleicht scheinbar oder vielleicht auch fälschlich von privater Verantwortung?
Maier: Also der Sozialstaat wirkt ja nicht an sich, sondern er beruht darauf, dass wir uns alle daran beteiligen und jeder auch das in seiner Verantwortung macht. Der Sozialstaat als Automatismus funktioniert nicht, sondern dazu gehört eben auch das Gewissen der Menschen, die daran beteiligt sind.
Koczian: Und dieses Gewissen ist uns doch weit verloren gegangen.
Maier: Diese Gewissen ist uns ein Stück weit verloren gegangen, das würde ich auch sehr nüchtern so sagen, ohne gewissermaßen jetzt als Kirchenmann gleich auf das loszugehen. Aber die Beobachtung der Umwelt zeigt, dass wir viel zu vordergründig materialistisch eingestellt waren über lange Jahre hinweg, und dass dieser Materialismus jetzt noch nachwirkt auch in der Vergötzung des Mammon.
Koczian: Sozusagen ein wissenschaftlicher Bestseller wurden Max Webers Darstellungen der protestantischen Ethik. Darin hat Erfolg auch etwas mit Gnade zu tun. Ist diese Darstellung letztlich nicht doch gefährlich?
Maier: Ich glaube nicht, dass man das auf die protestantische Ethik abschieben sollte. Also da bin ich persönlich einer anderen Meinung. Ich glaube, dass die alte protestantische Einstellung, die eben auf das Gewissen aufgebaut war, einen Schutz gegen solche Verhaltensweisen geboten hat. Ich glaube nicht, dass es stimmt wenn man sagt, der Protestant wollte dadurch, dass er viel verdiente beweisen, dass Gottes Segen auf ihm liegt, sondern der Protestant in seiner echten Prägung wollte eigentlich mit dem, was er verdiente auch Gutes tun und dann auch der Barmherzigkeit Gottes einen Raum geben. Ich denke nicht, dass er das in der Sicht eines Verdienstes tat, weil ja gerade die protestantische Lehre sich sehr gegen den Verdienstgedanken wehrt.
Koczian: Nun gab es ja gerade im Südwesten eine bestimmte Unternehmerkultur. Robert Bosch wollte den Gewinn zum Beispiel nicht, der aus der Verwendung von Batterien und Zündkerzen in Panzern resultierte und brachte die Gelder in eine Stiftung ein. Sind solche Persönlichkeiten eine aussterbende Spezies?
Maier: Ich denke, dass jedenfalls diese Spezies zurückgegangen ist. Ich habe selber erlebt, wie Unternehmer beispielsweise sich in Kirchengemeinden engagiert haben bis hinein in die Mitwirkung bei den Bauhütten, bis hinein in den Unterhalt von Kirchen. Und ich denke, dass das früher eher an der Tagesordnung war, den Verdienst auch Gott und der Kirche zugute kommen zu lassen. Diese Antriebskräfte sind heute natürlich zurückgegangen. Irgendwie haben die Menschen sich anders orientiert und all das, was man früher sozusagen um Gottes Willen tat - jetzt im echten Sinne des Wortes genommen - das spielt heute nicht mehr diese Rolle.
Koczian: Liegt es vielleicht auch an der Anonymität? Shareholder haben ja kein Gesicht und selbst Traditionsbetriebe verlieren das persönliche Profil, also das zum Beispiel im Namen Bosch steht.
Maier: Ja, ich denke das wirkt auch mit. Bei uns wurde vieles anonymisiert. Früher hatte man einen ganz bestimmten Bereich, in dem man wohnte, für den man sich einsetzte, man kannte die Menschen. Und diese alten Unternehmer sind ja oft durch ihre Firmen gegangen, um auch mit den einzelnen zu sprechen. Heute wird alles sozusagen anonym abgewickelt und auch dadurch, dass der Familienbetrieb nicht mehr so existiert wie früher und alles über AG läuft und anonyme Verhältnisse, ist natürlich das Verantwortungsgefühl zurückgegangen.
Koczian: Das heißt wir müssten übern den Begriff "Industriekultur" doch noch einmal von vorne nachdenken.
Maier: Über die Industriekultur müsste man nachdenken und überhaupt über unsere ganze Verantwortungskultur, wie der Mensch gefordert ist in dieser Gesellschaft. Und ich denke wichtig ist auch, jetzt nun Gott nicht außen vor zu lassen, sondern ganz bewusst auch wieder von Gott zu reden.
Koczian: Nun ist es ja einfach mit dem Finger zu zeigen. Wäre nicht auch vor einem neuen Feindbild zu warnen. Ganz anders als zu Beginn des Fernsehens ist heute ja in der Regel bei TV-Produktionen ein Industrieller immer der Gangster.
Maier: Auf jeden Fall steht es uns nicht zu, auf irgendjemand mit dem Finger zu deuten. Der moralische Zeigefinger ist hier nicht angebracht. Ich denke die Heilung muss tiefer ansetzen in der ganzen Einstellung des Menschen, der einfach wieder verstehen muss, dass er sich und sein Leben nicht sich selber verdankt.
Koczian: In den Informationen am Morgen hörten Sie den württembergischen evangelischen Landesbischof, Professor Gerhard Maier. Danke Ihnen nach Stuttgart!