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Gesellschaftskritik von Gabriele Tergit
Aufmerksame Beobachterin ihrer Zeit

Mit "Käsebier erobert den Kurfürstendamm" veröffentlichte die Schriftstellerin Gabriele Tergit im Jahre 1931 eine bitterböse Gesellschaftsposse, die heute so aktuell ist wie damals. Detailliert schildert sie die Sensationsgier und Boulevardisierung der Medien ihrer Zeit, die lieber auf Promi-Tratsch statt auf intellektuelle Analysen setzen.

Von Gisa Funck |
    Zwei Frauen tanzen im Berlin der 1920er-Jahre miteinander.
    "Geist, wer will schon Geist?! Die Leute wollen eine Sensation", heißt es in Gabriele Tergits Roman von 1931. (dpa / picture alliance / Soeren Stache)
    Dann kam die Hauptnummer. Er, er, Georg Käsebier erschien auf der Bühne, und sang! Zuerst etwas Neues: "Wer mit mir will, der komme mit, wer mich nicht will, der jeht alleene." Dann: "Mensch, ist Liebe schön!" (...) Und zuletzt: (...) "Fuchs, du hast die Gans gestohlen", "Iich waiß nich, was soll es bedeu-eu-euten". Käsebier grölte falsch, frech und verwegen. Zu dick und zu blond, Schnauze, fast Fresse schon, war er Trost von Vater, Mutter und Kind. Blut vom Blut dieser Stadt. (...) Danach gab es kein Halten mehr. Fritz Grönemann schrieb ausführlich in der Weltschau und verglich den Sänger mit der besten Pariser Tradition. Gräfin Bloomsiek (...) schrieb, dass hier ein ursprünglich deutsches Talent sich zeige. Und die Zentrumszeitung meinte: "Käsebier gestaltet Figuren aus der Welt des Volkes mit außerordentlicher Distanz."
    Deutschland sucht den Superstar: Diesmal allerdings nicht in einer Fernsehshow 2016, sondern im Berlin des Wirtschaftskrisenjahres 1929. Georg Käsebier heißt der dickliche und mäßig talentierte Varieté-Sänger, den Berliner Journalisten quasi über Nacht zum Musikgenie hochschreiben. Um ihn dann, nur wenige Monate später, genauso plötzlich wieder in den Orkus der Namenlosigkeit zurückzustoßen. 1931 hat Gabriele Tergit ihre Mediensatire unter dem etwas unglücklichen Titel "Käsebier erobert den Kurfürstendamm" veröffentlicht. Eine bitterböse Gesellschaftsposse, die 85 Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung aktueller wirkt denn je. Das meint auch Nicole Henneberg, die das Buch neu herausgegeben hat:
    "Ja, auf jeden Fall! Vor allem auch, was diese Beschreibung der Zeitungskrise angeht. Also, es gibt im Roman eine Stelle, da heißt es: "Geist, wer will schon Geist?! Die Leute wollen eine Sensation – und möglichst jeden Tag eine neue." Und das muss alles schneller berichtet werden. Es muss alles sensationsheischender sein in der Aufmachung. Es muss eine Modeseite geben. Es muss Fotos aus den Klatschspalten geben von den gesellschaftlich relevanten Ereignissen. Und all‘ solche Dinge. Also mein Gott, ist das aktuell!"
    Weniger Intellektuelles, mehr Promi-Tratsch
    Zentraler Handlungsort von Tergits Käsebier-Roman ist die Feuilleton-Redaktion der fiktiven Berliner Rundschau. Eine Tageszeitung, die die Journalistin erkennbar dem Berliner Tageblatt, ihrer Hauszeitung, nachempfunden hatte. So wie viele Printmedien heute steckt die Berliner Rundschau 1929 in der Absatzkrise. Um die Auflage zu steigern, verfolgt Tergits Zeitungssanierer Willy Frächter eine neue Devise, die man heute "Boulevardisierung" nennen würde. Statt auf intellektuelle und potentiell schwer verdauliche Analyse und Reflexion setzt Frächter lieber quotenträchtig auf Sex-and-Crime und Promi-Tratsch. Der Rummel um den Schlagersänger Käsebier kommt ihm da gerade recht, zumal die Stimmung am Vorabend der Weltwirtschaftskrise immer aggressiver wird – und der opportunistische Frächter es sich politisch mit niemandem verscherzen will:
    "Tergit fand, dass diese Propaganda und Werbegeschichten eine ganz verheerende Wirkung haben können. Der größte dieser Werbeverführer war für sie Goebbels. Das war für sie sozusagen der Gipfel dieser ganzen Geschichte. Sie hat da eine bruchlose Linie durchgezogen und die Verführung der Menschen eigentlich festgestellt. Und Käsebier selber, also der Titelheld, der ist ja sozusagen nur ein unschuldiges Opfer. Dem geht es am schlechtesten mit alldem."
    Tatsächlich treibt der Käsebier-Hype in Tergits Roman schon bald bizarre Marketing-Blüten. Nicht genug, dass jedes Radio fast nur noch Käsebier-Hits trällert. Es gibt auch Käsebier-Puppen, Käsebier-Schuhe, Käsebier-Zigaretten und sogar einen Käsebier-Füller zu kaufen. Und spätestens, als ein windiger Bankier, ein windiger Baulöwe und ein windiger Architekt dann auch noch auf die Idee kommen, in Rekordgeschwindigkeit ein Käsebier-Theater am Kurfürstendamm zu errichten, ahnt man als Leser, dass so viel heiße Luft ungut verpuffen muss.
    Schwarzhumorige Parabel
    In nur sechs Wochen hat Gabriele Tergit die Rohfassung ihrer schwarzhumorigen Parabel geschrieben. Sie, die 1894 unter dem Namen Elise Hirschmann als Tochter eines jüdischen Fabrikanten geboren wurde, trieb die blanke Wut. Schließlich erlebte die hauptberufliche Gerichtsreporterin Tergit täglich, wie blind die Weimarer Justiz auf dem rechten Auge war. Und wie oft Nazi-Täter mit milden Strafen davonkamen. Dennoch nahm Tergit, wie viele deutsch-jüdische Intellektuelle damals, die Warnzeichen eines nahenden Faschismus lange nicht wirklich ernst. Nicole Henneberg:
    "Sie war eine sehr aufmerksame Beobachterin ihrer Zeit. Sie war auch sehr hellhörig für neue Wörter. Aber sie hat sich nicht bedroht gefühlt, sondern sie hat sich geärgert. Sie hatte ja zum Beispiel auch Kontakt zu Ossietzky, sie hat für die "Weltbühne" geschrieben. Und in ihrer Autobiografie beschreibt sie einen Besuch 1932 bei Ossietzky, wo die beiden sich überlegen: Soll man gehen oder soll man bleiben. Und sie sind sich einig: Ach, wir wollen der Geschichte zuschauen! Und so etwas sagt man eigentlich nicht, wenn man ahnt, wie schlimm das wird. Sie hat dann selbst gesagt: Hätte ich ihm nur gesagt: "Nichts wie weg hier!", denn nur ein Jahr später wurde er dann verhaftet und im KZ interniert."
    Fundgrube für geistreiche Sentenzen
    Tergits schnell geschriebener, erster Roman Käsebier erobert den Kurfürstendamm wurde der literarische Überraschungserfolg des Jahres 1932. Man verglich ihn mit Kästners zeitgleich erschienenem Fabian und Falladas Kleiner Mann, was nun? Das lag sicherlich auch am frechen Witz von Tergits Dialogen, die nicht nur treffsicher verschiedene Milieus ausleuchten, sondern auch eine wahre Fundgrube für geistreiche Sentenzen sind. So, wie zum Beispiel:
    "Der Beischlaf gehört zu den überschätztesten Angelegenheiten, trotzdem kann man ihm immer noch eine große Zukunft voraussagen."
    Oder:
    "Das Schlimme ist, das diejenigen die Macht haben, die die Macht suchen."
    Oder auch:
    "Der Erfolg ist eine Sache der Suggestion, nicht der Leistung."
    Emanzipierte und schlagfertige Frauen
    Sätze wie diese haben bis heute nichts von ihrer Lebensklugheit verloren. Ein weiterer Grund für den zeitlosen Charme von Tergits Käsebier dürfte sein, dass hier gleich mehrere auffallend selbstbewusste, emanzipierte und schlagfertige Frauen auftreten. Derart mondäne Großstädterinnen, die Kurzhaarfrisur tragen, ihren Unterhalt selbst verdienen – und Männer zwar liebenswürdig, aber bestimmt in die Schranken weisen, waren aufregend neu und provokant. Umso irritierender mutet es da an, dass ausgerechnet deren Schöpferin, also Tergit selbst, dem Kampf für die Gleichberechtigung der Geschlechter skeptisch gegenüberstand:
    Sie hat sich in Interviews oft dagegen ausgesprochen und hat die Emanzipation für einen Irrtum gehalten, weil sie sagte: Das geht doch gar nicht! Das Sonderbare ist: Sie hat genau das gemacht, von dem sie behauptete, das geht gar nicht. Sie hat ein Kind gehabt, sie hat einen Ehemann gehabt, ein Zuhause, und sie hat trotzdem unglaublich konsequent gearbeitet. Also, sie ist selber der Gegenbeweis. Und sie hat sich ihre Bildung ertrotzt gegen den Widerstand ihres Vaters, der gar nicht wollte, dass sie Abitur macht. Und als sie dann auch noch anfing zu schreiben, das war eine richtige Katastrophe. Da gab’s also richtig Ärger.
    Käsebier erobert den Kurfürstendamm blieb für Tergit ein One-Hit-Wonder. 1933 musste die jüdische Journalistin mit ihrer Familie vor den Nazis fliehen. Erst nach Palästina, dann 1938 weiter nach London. Mit dem wuchtigen Familienroman "Effingers" versuchte die Emigrantin 1951 dann ein literarisches Comeback, jedoch ohne durchschlagenden Erfolg. Danach geriet Gabriele Tergit in Vergessenheit. Bis der Kölner Rundfunkjournalist Frank Grützbach ihr satirisches Meisterwerk Käsebier Mitte der 70er Jahre in einem Antiquariat wiederentdeckte und darüber ein vielbeachtetes Radiofeature machte. So konnte die Autorin mit über achtzig noch einen zweiten, späten Ruhm feiern. Doch vermutlich hat auch Tergit selbst, die 1992 in London starb, nicht geahnt, wie ungemein hellsichtig sich ihre Posse vom Supertalent Georg Käsebier nun gerade heute, im Ranking-verrückten Internetzeitalter liest: In unserer Medienrepublik 2.0., in der bekanntlich quasi minütlich immer neue Supertalente erkoren, zum Konsumprodukt degradiert und schließlich aussortiert werden.
    Gabriele Tergit: "Käsebier erobert den Kurfürstendamm"
    herausgegeben und mit einem Nachwort von Nicole Henneberg
    Verlag Schöffling & Co, 392 Seiten, 24.95 Euro