Mittwoch, 24. April 2024

Archiv

Julia Deck: „Nationaldenkmal“
Gesellschaftstheater in Klein-Versailles

„Nationaldenkmal“ ist ein perfekt konstruierter Krimi und eine ätzend-komische Gesellschaftsfarce, die den Alltag selbstverliebter „Celebrities“ und die Verehrung nationaler Ikonen ins Visier nimmt.

Von Sigrid Brinkmann | 08.09.2022
Julia Deck: "Nationaldenkmal"
Zu sehen sind die Autorin und das Buchcover
Julia Deck: "Nationaldenkmal" (Buchcover: Wagenbach Verlag / Foto: Hélène Bamberger)
Julia Deck nimmt das Genre des Kriminalromans nicht ernst. Sie liebt es, obskure Komplotte zu erfinden und Mördern und Totschlägern die Gefängnisstrafe zu ersparen. Auch in ihrem neuen Roman kommen aufgrund einer grotesken Verkettung von Umständen zwei Menschen zu Tode, aber die brillant in Szene gesetzte Mechanik des Verbrechens ist nur das Beiwerk für eine Farce, die den Alltag selbstverliebter „Celebrities“ ätzend-komisch vorführt. Im Zentrum steht der altersmüde, einstige Filmstar Serge Langlois. Er bekommt keine Rollen mehr, beschwört aber beim täglichen Apéritif im Kreis von Familie und Hausangestellten, die verlässlich an den richtigen Stellen lachen, anekdotenreich seine ruhmvollen Tage als Haudegen – wohl wissend, dass er in einem Land lebt, das ihm den einmal verliehenen Ehrentitel „Nationaldenkmal“ niemals entziehen würde. Was so alles im Haus der Schauspielikone geschieht, berichtet eines der Adoptivkinder. Für die Gestaltung der Erzählstimme konnte Julia Deck auf eigene Erfahrungen zurückgreifen.

Fasziniert vom Rollenspiel der Erwachsenen

Ich habe das Gefühl, in meinem Leben viel spioniert zu haben. Wie meine Erzählerin bin ich in einer Welt von Erwachsenen groß geworden. Ich war mehr damit beschäftigt, zu beobachten, was so geschieht, als mich – so wie die meisten Kinder das tun - in etwas hineinziehen zu lassen und mitzumachen. Ich war fasziniert von den Rollenspielen der Erwachsenen. Es bereitet mir immer noch mehr Vergnügen, diesem Gesellschaftstheater zuzuschauen als direkt mitzuspielen.“
Die ehemalige Privatresidenz von König Ludwig XVI. in Rambouillet ist der Ort, an dem Julia Decks Gesellschaftstheater aufgeführt wird. Die prächtigen Räume des Anwesens sind ihr Labor. Nach und nach lässt die Autorin die Welt der Pariser Vorstädte, der schwarzen Hiphopper, der alleinerziehenden Verkäuferinnen und der Gelbwesten-Unterstützer in das Schloss einsickern. Julia Deck hat sich den Spaß erlaubt, jeder Erzählfigur einen spezifischen Charakter zu verleihen – ganz so wie das in der Literatur des 19. Jahrhunderts üblich war. Der ausgebufften Supermarktkassiererin Cendrine fällt die Rolle zu, das Ableben des von Julia Deck so wunderbar karikierten Schauspielers zu beschleunigen. Dass die Geburtstagsfeier zu Ehren des Nationaldenkmals zum Fiasko gerät, geht auf ihr Konto. Unter den Gästen: die Macrons.

Die Welt hinter dem Vorhang

„Sie waren noch kleiner und schlanker als im Fernsehen. (…) Man hatte darauf geachtet, die Vorhänge im Esszimmer zu schließen. Aber im Vorbeigehen wollte Brigitte den türkisfarbenen Samt anfassen und enthüllte dabei das Chaos auf der hinteren Wiese. Die Präsidentengattin zeigte Verständnis. Ein so großes Schwimmbecken instand zu halten sei eine leidige Angelegenheit. Der Pool in „La Lanterne“ bedürfe der ständigen Pflege dreier Beamter, klagte sie.“
Der Präsident freut sich über die Gelegenheit, einem Gelbwesten-Sprecher, den die Strippenzieherin Cendrine auf die Gästeliste gesetzt hatte, die Mitarbeit in einer Regierungskommission anzubieten.
„Mathias hatte sich auf der Vortreppe wiedergefunden, wo er mit dem Präsidenten posierte wie ein Reh im Scheinwerferlicht.“

Meisterlich lakonisch

Der Gelbwesten-Bewegung entgeht selbstverständlich nicht, was die Klatschpresse über das Fest für das Nationaldenkmal druckte. Mit dem überrumpelten Matthias wird bald keiner mehr reden. Das lakonische Erzählen beherrscht Julia Deck einfach meisterlich. Kühl schildert sie die ambivalente Beziehung zwischen den so genannten kleinen Leuten und der Elite aus Kultur und Politik. Beide Schichten verharren in geschlossenen Kreisen. Nach Serges Langlois‘ Tod stirbt auch die kriminelle Drahtzieherin gewaltsam, aber niemand weint. Ein Kind muss den Kopf für die Tat hinhalten, denn mit Kindern haben Richter und die Nation Mitleid. Das Volk räsoniert in Julia Decks maliziösem Epos gern über die moralische Verkommenheit von öffentlichen Personen, aber es merkt nicht, dass ihm stets nur die Rolle des ausgesperrten Zaungastes zugewiesen wird. In Julia Decks Roman ziehen Menschen zum Schloss des Nationaldenkmals, weil sie Orte brauchen, die Fantasien beflügeln und die Sehnsucht nach dem Besonderen steigern. Die vom Renommee des Nationaldenkmals zehrende, hinterbliebene Familie weiß das. Julia Deck kennt kein Mitleid. Sie zeigt, wie unfrei das Volk und Leute sind, die es gewählt haben, im Schatten einer Legende zu leben.
Julia Deck: „Nationaldenkmal“
Aus dem Französischen von Sina de Malafosse
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin. 168 Seiten, 24 Euro.