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"Gesetzentwurf ist in sich widersprüchlich"

Beschneidungen sollen in Zukunft straffrei bleiben, wenn sie "nach den Regeln der ärztlichen Kunst" durchgeführt werden. Doch bei Säuglingen in einem Alter von bis zu sechs Monaten darf auch ein Laie die Beschneidung durchführen. Wolfram Hartman, Präsident des Verbandes der Kinder- und Jugendärzte, kritisiert diese Regelung.

Wolfram Hartmann im Gespräch mit Peter Kapern | 11.10.2012
    Tobias Armbrüster: Die Bundesregierung hat gestern ihren Entwurf für ein Beschneidungsgesetz fertiggestellt und vorgestellt. In den kommenden Wochen wird sich nun der Bundestag damit befassen. Unter anderem schreibt dieses geplante Gesetz vor, dass eine Beschneidung von Jungen grundsätzlich zulässig ist, wenn sie nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfolgt und wenn sie das Kindeswohl nicht gefährdet. Der Beschluss stieß gestern bei Juden und auch bei Muslimen überwiegend auf Zustimmung, aber es gibt auch kritische Stimmen. Mein Kollege Peter Kapern hat darüber gestern Abend mit Wolfram Hartmann gesprochen, dem Präsidenten des Verbandes der Kinder- und Jugendärzte, und er hat ihn zunächst gefragt, wie er diesen Gesetzentwurf bewertet.

    Wolfram Hartmann: Ich finde den Gesetzentwurf absolut nicht in Ordnung. Er ist in sich widersprüchlich und er regelt erneut einen Tabubruch in Deutschland, dass nämlich Kinderrechte drittrangig sind gegenüber Elternrechten und gegenüber der Religionsfreiheit. Widersprüchlich ist für mich, dass im ersten Absatz des Gesetzentwurfes steht, dass eine Beschneidung, aus welchem Grund auch immer, straffrei bleibt, wenn sie nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfolgt. Im zweiten Absatz steht aber, dass bei Kindern bis zum Alter von sechs Monaten ein Nicht-Arzt, der von einer Religionsgemeinschaft beauftragt ist, Beschneidungen an Säuglingen vornehmen darf, und das ist ein Widerspruch. Nach den Regeln der ärztlichen Kunst heißt, das muss in einem Raum stattfinden, der für chirurgische Eingriffe vorgesehen ist, es muss von einem Arzt durchgeführt werden und es muss eine Anästhesie beziehungsweise eine Narkose erfolgen. Beschneidung bei Kindern bis zum sechsten Lebensmonat durch Nicht-Ärzte erfolgt in der Regel zum Beispiel in einer Synagoge, also nicht in einem, für operative Eingriffe vorgesehenen Raum, sie erfolgt mit einer Schmerzlinderung durch Zäpfchen und durch Creme. Das ist aber keine ausreichende Schmerzlinderung bei einem Säugling.

    Peter Kapern: Warum ist das keine ausreichende Schmerzlinderung?

    Hartmann: …, weil der Säugling – das wissen wir – erhebliche Schmerzen empfindet und das Minimum wäre eine Leitungsanästhesie. Aber unsere Schmerzspezialisten in Deutschland sagen, eine Vollnarkose bei Säuglingen wäre unverzichtbar.

    Kapern: Sie haben es angesprochen: dieser Gesetzentwurf sieht vor, dass auch ärztlich geschulte Laien diese Beschneidung innerhalb der ersten sechs Monate vornehmen können. Nun ist ja so eine Beschneidung nicht zu vergleichen beispielsweise mit einer Operation am offenen Herzen. Kann man so etwas denn einem Laien nicht beibringen?

    Hartmann: Man muss dazu wissen: Bei einem Kind von acht Tagen wissen wir nicht, ob Gegenanzeigen gegen einen operativen Eingriff vorliegen. Wir wissen zum Beispiel in der Regel nicht, ob dieses Kind ein Bluter ist oder nicht. Und deshalb kann ein Laie diesen Eingriff nicht vornehmen, weil ein Laie nicht in der Lage ist, bei einer massiven Blutung eine Blutstillung vorzunehmen.

    Kapern: Und darauf kann man ihn dann auch nicht vorbereiten?

    Hartmann: Darauf kann man ihn nicht vorbereiten. Das muss unter entsprechenden Kautelen in einem Raum geschehen, der auch für operative Eingriffe zugelassen ist.

    Kapern: Nun sagten Sie auch, dass in diesem Gesetzentwurf wieder einmal Kinderrechte nachrangig hinter den Rechten der Eltern behandelt würden. Was meinen Sie damit genau?

    Hartmann: Nun, im Grundgesetz steht die Menschenwürde an erster Stelle. Das Kind ist ein Subjekt und kein Objekt seiner Eltern. Wenn aber jetzt der Gesetzgeber erlaubt, dass bei einem minderjährigen Kind ein medizinisch nicht erforderlicher Eingriff auf Wunsch der Eltern vorgenommen werden kann, wird das Kind in die Verfügungsgewalt der Eltern gegeben, etwas, was wir in den vergangenen Jahren nicht gestattet haben. Eltern haben zum Beispiel kein Züchtigungsrecht in Deutschland. Eltern haben nicht das Recht, ihr Kind selbst zu beschulen. Warum jetzt die Möglichkeit eingeräumt wird, dass Eltern die intakte Körperoberfläche ihres Kindes verletzen lassen können und unwiderruflich ein Stück Haut entfernen lassen können, das ist mir schleierhaft. Das ist wirklich ein Eingriff in das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit und für uns nicht tragbar. Wir haben früher auch schon gegen entsprechende Eingriffe gesprochen, das ist also nichts Neues. Wir haben uns dagegen gewandt, dass Kinder gepierct werden, wir haben uns dagegen gewandt, dass Kinder tätowiert werden, dass Ohrlöcher gestochen werden. Alles das sind Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit eines Kindes, und deshalb haben wir uns dagegen gewandt.

    Kapern: Der stellvertretende Vorsitzende des Ethikrats, Peter Dabrock, sagt, das Gesetz sei sehr stark am Kindeswohl ausgerichtet. Das haben Sie ja eben bestritten. Wie kommt es, dass dieser Begriff so sehr Interpretationen zugänglich ist?

    Hartmann: Nun, der Gesetzgeber hat in seinem Gesetzentwurf das Kindeswohl überhaupt nicht definiert. Wenn man wirklich der Meinung ist, dass die Entfernung der Vorhaut zum Leben einer Religion unbedingt dazugehört, dann soll man warten, bis der Jugendliche in einem Alter ist, in dem er religionsmündig ist. Das ist in Deutschland das vollendete 14. Lebensjahr. Und dann soll man ihn befragen, willst du deine Vorhaut entfernt haben, damit du vollwertiges Mitglied unserer Glaubensgemeinschaft sein kannst.

    Armbrüster: Soweit Wolfram Hartmann, der Präsident des Verbandes der Kinder- und Jugendärzte, im Gespräch mit meinem Kollegen Peter Kapern.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.