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Gespenster aus der Bilderwelt

Ihren Ausstellungsbesuchern muten Thomas Zipp und Marc Quinn einiges zu: Selbstporträt-Büsten aus tiefgefrorenem Eigenblut oder Exkrementen, Skulpturen, die an Folteropfer erinnern. Der Betrachter erlebt ein Psychokabinett – nichts für schwache Nerven.

Von Carsten Probst |
    "Er verschluckt seinen Stolz und spitzt seine Lippen / und zeigt mir die ledern gegürteten Lenden. / Meine Knie werden weich, meine Wangen war'n heiß. / Er sagt: Du wirst niemals mehr Götter sehn!"

    So heißt es in David Bowies frühem Siebziger-Jahre-Hit "Width of a Circle", einem von Nietzsches "Zarathustra" und eigenen Drogenerfahrungen inspirierten Delirium. Gleich zu Beginn von Thomas Zipps begehbarem Environment in einer Etage des Palazzo Rossini in Venedig stößt man auf einen Raum, der zugleich Direktoren- und Musikzimmer zu sein scheint. Hinter einem klobigen Schreibtisch steht eine Heimorgel mit Mikrofon und Schlagzeug, die an einen großen Gitarrenverstärker angeschlossen ist, und der Besucher wird ermuntert, doch auch in die Tasten zu greifen. Ein großer Leuchter mit Leuchtstoffröhren verbreitet ein seltsam irisierendes Licht, das auch durch die meisten anderen Räume wabert, an den Wänden hängen Bilder, die wie Leihgaben aus einem Malkurs an einer Psychiatrie wirken.

    Der Rundgang durch die acht Räume bestärkt den Eindruck, dass man sich hier offenbar in einer Nervenklinik befindet, einschließlich einer Gummizelle und eines Behandlungsraums mit einem Laufrad, mit dem der Nervenarzt Jean-Martin Charcot Ende des 19. Jahrhunderts seine Hysteriepatienten an der Pariser Salpetrière-Klinik behandelte. Die sexuellen Obsessionen der Hysteriker verbindet Thomas Zipp mit dem Rockstarkult der 1970er Jahre, den sexuellen Obsessionen des Drogenrausches, wie David Bowie ihn in einigen seiner Songs beschreibt - und zugleich inszeniert er gemeinsam mit Kurator Zdenek Felix einen Ort des ewigen Um-Sich-Kreisens, in dem Patient und Arzt miteinander verschmelzen zu einer Metapher für die Rolle des Künstlers in der Gegenwart.

    Da wirkt es fast schon wie ein gewollter Zufall, dass Thomas Zipps Ausstellung zeitgleich mit einer anderen zusammentrifft, organisiert von der Fondazione Cini am anderen Ende der Lagune von Venedig. Auf der Inselspitze von S. Giorgio ist eine großzügige Retrospektive von Marc Quinn zu sehen, kuratiert von Altmeister Germano Celant. Quinn, mit Jahrgang 1964 ein Altersgenosse von Thomas Zipp, gehört zu den ersten Mitgliedern der Young British Artists der achtziger Jahre. Auch sein Thema sind im weitesten Sinn die Verbindungen von Kunst und Wissenschaft, Fleischlichkeit und Vergänglichkeit – nur scheinen ihn in der Verwendung künstlerischer Mittel Welten von seinem deutschen Kollegen zu trennen.

    Quinn orientiert sich vorwiegend an den traditionellen Kunstgenres Malerei und Skulptur, seine Ausstellung in den großen Sälen der Fondatione Cini wirkt gediegen und museal. Aber Quinns detailgetreu modellierte Selbstporträt-Büsten aus tiefgefrorenem Eigenblut oder Exkrementen oder seine Skulpturen, die die Opfer der Folterkammern von Abu Ghraib in ihren demütigenden Posen zeigen, sind Gespenster einer Bilderwelt, die sich mühelos auch in Thomas Zipps Psycho-Kabinette jener Pop-Kultur einfügen würden. Beide scheinen über das trübe Wasser der Lagune hinweg unvermutet zu begegnen: Auf je eigene Weise inszenieren beide den Wahnsinn als ästhetische Methode, als eine Art letzten Ausweg für "unzeitgemäßes Denken".

    Indem Quinn den Mythos von Ruhm und Sterblichkeit als eine Art fortlaufenden Totentanz inszeniert und Zipp seinen Psychokosmos als räumliche Installationen ausgestaltet, thematisieren sie offenkundig beide dieselbe Funktion von Kunst: eine Dynamik von auseinanderdriftenden Eigenwelten und das öffentliche Verlangen nach einer Rolle der Kunst, diese Eigenwelten wieder zu vereinen.