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Gespenstisches Klangbuch

Gespenstisch gut vorgetragen, kafkaesque qua Natur und fragmentarisch allemal. "Der Gruftwächter" erzählt die Geschichte eines ebensolchen, der dies seit 400 Jahren tut - tun muss. Eine gradlinige Handlung sollte nicht erwartet werden - aber die Empfänglichkeit für Klang und Stimme vorhanden sein.

Gehört von Florian Felix Weyh |
    "Ich liege – verzeihe mir – im Bett und rauche die Pfeife. Im Bett nebenan schläft mein Tochterkind. Um Mitternacht klopft es das erste Mal ans Fenster. Ich sehe nach der Uhr. Immer pünktlich. Noch zwei Mal klopft es, es mischt sich mit den Uhrenschlägen vom Turm und ist nicht schwächer. Das sind nicht menschliche Fingerknöchel. Aber ich kenne das alles und rühre mich nicht. Dann räuspert es sich draußen, es wundert sich, dass ich trotz solchen Klopfens das Fenster nicht öffne. Möge sich die fürstliche Hoheit wundern! Noch immer ist der alte Wächter da!"

    Gespenstische Geschehnisse, vorgetragen von einer gespenstischen Stimme. Nicht viele Menschen mögen sie kennen, denn sobald Publikum in den Saal strömt, verstummt diese Stimme gewöhnlich, hat sie ihre Aufgaben doch längst erfüllt. Nur selten sprechen Theaterregisseure – noch dazu so prominente wie Hans Neuenfels – selber dramatische Texte:

    "Kleines Arbeitszimmer, hohes Fenster, davor ein kahler Baumwipfel. Fürst am Schreibtisch im Stuhl zurückgelehnt, aus dem Fenster blickend; Kammerherr, weißer Vollbart, jugendlich in ein enges Jackett gezwängt, an der Wand neben der Mitteltür. Pause."

    Nutzen wir die Pause für einen verstohlenen Blick auf den Programmzettel. "Der Gruftwächter" ist das einzige dramatische Fragment aus der Feder Franz Kafkas. Im Zentrum stehen ein Fürst und ein greiser, schon hinfälliger Wächter, der ein 400 Jahre altes Mausoleum bewacht. Wozu, wird nicht ganz klar; aber klar ist, dass dies dem Fürsten nicht genügt. Anne Bennent leiht ihm ihre Stimme:

    "Der Wächter oben im Park genügt nicht, es muss vielmehr auch ein Wächter unten in der Gruft wachen. Es wird vielleicht kein angenehmes Amt sein. Aber erfahrungsgemäß finden sich für jeden Posten bereitwillige und geeignete Leute."

    Unverkennbar: Das ist jener Kafka-Ton, wie man ihn aus der Prosa kennt. Ein Ton, der durchaus Bühnenwirksamkeit besitzt – viele Kafkatexte sind erfolgreich dramatisiert worden –, der aber im Falle des "Gruftwächters" die Literaturwissenschaft eher ratlos gestimmt hat: Ist das Fragment, das neben dem seltsamen Bewachungsproblem eine Spukgeschichte und eine angedeutete Hofverschwörung zum Sturze des Fürsten enthält, eine Tragödie? Eine Groteske? Oder vielleicht sogar eine Komödie? Die Interpretation von Hans Neuenfels und Anne Bennent beginnt zunächst gravitätisch-schwer, öffnet sich dann aber, wenn man genau hinhört, filigraner Ironie:

    "Seit jeher weißt Du, dass ich das wichtigste Hofamt habe. Du hast es ja auch öffentlich anerkannt, indem Du mir die Medaille 'Feuerrot' verliehen hast. Hier!

    Nein, das ist eine Medaille für 25-jährige Hofdienste. Die hat Dir noch mein Großvater gegeben. Doch werde auch ich Dich auszeichnen.

    Tue wie es Dir gefällt und der Bedeutung meiner Dienste entspricht. Dreißig Jahre diene ich Dir als Gruftwächter.

    Nicht mir, meine Regierung dauert kaum ein Jahr.

    Dreißig Jahre."

    Ja, die "Medaille Feuerrot" darf man als Witz begreifen, ganz wie uns im Büchlein zur CD ein widerborstiger Satz Milan Kunderas die Richtung weist: "Kafka hat nicht für uns gelitten, er hat sich für uns amüsiert!" Auf musikalisch verspielte Weise tut das Otto Lechner, der Haydns Kaiserhymne – unsere nationale Erkennungsmelodie – mehrfach abgewandelt unter den rätselhaften Text legt. Der blinde Komponist steuert im Begleittext auch die schönste Interpretation bei: Ihm kommen Kafkas Dialoge wie ein zerbrechender Walzer vor, bei dem die gemeinsame Drehung der Tanzpartner misslingt. "Klangbuch", nicht Hörbuch, nennt denn auch der Mandelbaum Verlag seine sprachmusikalische Produktion. "Der Gruftwächter" wird jene frustrieren, die auf bloße Handlung fixiert sind, während er solche entzückt, die dem Klang von Sprache und Stimmen eigene Bedeutung zumessen. Freilich, der Kafka'sche Witz liegt zwischen den Zeilen und lässt sich nicht von jedermann auf Anhieb erspüren. Orthodoxen Kafka-Anhängern der traurigen Sorte bleibt dafür ein typischer Schluss. Es dräut nämlich der Untergang des fürstlichen Reiches:

    "Ich bin in meinen Zimmern. Aber ich weiß: Es wird trüber und trüber."

    Frank Kafka: "Der Gruftwächter"
    Gelesen von Anne Bennent und Hans Neuenfels
    Musikalische Gestaltung von Otto Lechner, gespielt vom Koehne-Quartett
    1 CD, Mandelbaum Verlag, 49 Minuten