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Gespräche über das Unerklärliche

Martin Doerry, stellvertretender Chefredakteur des "Spiegels", hat schon mit seinem Buch "Mein verwundetes Herz" seiner in Auschwitz ermordeten Großmutter Lilli Jahn ein literarisches Denkmal gesetzt. In den vergangenen Jahren ist er durch Amerika und Europa gereist, um mit Menschen zu sprechen, die der Vernichtung durch die Nationalsozialisten entkommen sind. Die eindrucksvollen Interviews werden von ebensolchen Schwarz-Weiß-Porträts der "Spiegel"-Fotografin Monika Zucht ergänzt. Sylke Tempel hat sich den Band angesehen.

06.11.2006
    24 Menschen hat Martin Doerry, stellvertretender Chefredakteur des Nachrichtenmagazins "Spiegel" befragt. 24 Menschen, die auf verschlungenen Wegen das Dritte Reich und die Schoah überlebt haben, weil sie rechtzeitig emigrieren oder untertauchen konnten oder kräftig genug waren, um Getto und Lager zu überstehen. Von "typischen Lebenswegen" spricht Martin Doerry im Vorwort seines Buches "Nirgendwo und überall zu Haus", die gleichwohl nicht repräsentativ seien für die Biografien des europäischen Bürgertums im 20. Jahrhundert.

    Nur ist "typisch" ein seltsam unangebrachtes Wort. Eher schon ließe sich von Gemeinsamkeiten selbst in den so unterschiedlichen Biografien der Befragten sprechen. Alle verdanken ihr Überleben dem Umstand, dass selbst die bis zur Besessenheit perfektionistischen Mörder Zufälle - ein kleines, aber entscheidendes Quäntchen Glück - nicht ausschließen konnten. Das Glück, einen Kanten Brot zu ergattern, Cello spielen zu können und deshalb in das Orchester von Auschwitz aufgenommen zu werden. Oder noch zu leben, als endlich die russischen, amerikanischen oder britischen Befreier kamen. Wegen solcher Zufälle quälen sich alle Gesprächspartner Doerrys und vermutlich alle Überlebenden des Holocaust bis heute mit einem nicht vorstellbaren Schuldgefühl: Warum bin ich entkommen? Warum nicht die anderen? So, wie der Schriftsteller Imre Kertész:

    "Um überleben zu können, muss man durch die Hölle gehen – und in der Hölle wird man schmutzig. Die Unschuldigen sind die, die gestorben sind. Aber einer, der es durchlebt hat, kann einfach nicht ganz ohne diese allgemeine menschliche Beschmutzung sein. Das muss man akzeptieren."

    Nichts an dem Versuch der Deutschen, die europäischen Juden gänzlich auszurotten, kann jemals typisch sein: Denn mehr als jede andere Grausamkeit der Geschichte bedeutet Auschwitz einen irreparablen Verlust jeglichen Vertrauens. Wenn das möglich war, dann ist fortan alles möglich. Oldrich Stransky wuchs in einer tschechisch-jüdischen Familie auf. Er überlebte mehrere Konzentrationslager. Seine gesamte Familie wurde ermordet.

    "Die Befreiung habe ich in der Krankenbaracke in Sachsenhausen erlebt. Ich habe lange gehofft, dass meine Familie zurückkehren würde, aber wenn ich ehrlich bin, wusste ich, dass das nicht geschehen würde. Das war das Schlimmste. Ich kam zurück und hatte nichts und niemanden. Und alle sagen dir, du hast solche Lebenserfahrungen, du wirst alles bewältigen. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Das Leben im KZ hat mit dem normalen Leben nichts zu tun. Im KZ ist alles immer schwarz und weiß. Nichts anderes."

    Alle in diesem Band versammelten Interviewpartner ringen mit dem Widerspruch, eine Welt beschreiben zu wollen, die kaum zu beschreiben ist. Sie schreiben über den Holocaust, halten Vorträge, sprechen vor allem vor deutschen Schülern. Obgleich sie fast zu Profis des Erinnerns wurden, ist spürbar, wie ungeheuer schwer der Rückblick in den Abgrund fällt. Der israelische Schriftsteller Aharon Appelfeld, der als Kind vor der Deportation flüchtet, kann sich der eigenen Biografie nur mit den Mitteln des Romans nähern. Denn die Wirklichkeit gehe über jedes Vorstellungsvermögen hinaus.

    "Es ist zu groß und zu unglaublich. Wie können andere Menschen so etwas glauben? Schon meine Geschichte ist doch eigentlich undenkbar: Ich war ein Kind und lebte viele Tage allein im Wald. Wie konnte das geschehen, dass ein Kind, das aus einem sehr kulturellen und wohlhabenden Haus stammt, sich nun von Blättern ernähren muss?"

    Warum widmen sie sich dennoch dieser schwierigen Aufgabe? Weil sie die Pflicht der Zeitzeugenschaft verspüren oder hoffen, die Nachgeborenen könnten aus ihrer Geschichte lernen wie Anita Lasker-Wallfisch:

    "Ich bin nicht mehr wütend auf die Menschen, die mich jahrzehntelang nicht gefragt haben, was damals geschah. Aber etwas Befreiendes hat das Erzählen auch nicht. Für mich ist es eine Art Pflichterfüllung. Wir sind sozusagen die Stimme jener Menschen, die nicht mehr reden können, weil man sie umgebracht hat. Ich glaube, dass niemand freiwillig, also von sich aus sagt: 'Hör mal zu, ich werde dir mal erzählen, wie es im KZ war.' Aber meine Message ist es gar nicht so sehr, meine tragische Geschichte zu erzählen. Wichtig ist es, die Erfahrungen von damals auf den heutigen Tag zu übertragen."

    Auch Martin Doerry beruft sich auf diesen Auftrag.

    "Langsam senkt sich ein Schatten über die Erinnerung. Die letzten Überlebenden des Holocaust und der Vertreibung des europäischen Judentums werden bald verstummt sein."

    Deshalb sollten sie noch einmal zu Wort kommen, selbst, wenn fast alle in diesem Band versammelten Gesprächspartner sich schon als Schriftsteller oder Historiker ausführlich geäußert haben. Jedes einzelne Interview schnürt dem Leser den Atem ab, auch weil Doerry sie so informiert wie sensibel führt. Beinahe penetrant aber spürt er der Frage jüdischer Identität nach. Fast alle Gesprächspartner stammen aus assimilierten Familien, in denen deutsch sein viel, und jüdisch sein wenig bedeutete. Kann man jüdisch sein ohne Religion, will Doerry immer wieder wissen. Sein obsessives Nachfragen scheint in Wirklichkeit jedoch nicht auf die Stellung der Religion abzuzielen. Es ist Ausdruck eines beständigen Staunens: Wie konnten die Nazis Menschen umbringen, die so gute Deutsche waren?

    Und genau hier werden die Grenzen von Doerrys Unterfangen offenbar. Es lag nicht an den Juden, dass sie umgebracht wurden, sondern an den Nazis. Und es ist nicht die Aufgabe der Opfer, den Holocaust zu erklären. Eher sollten wir uns fragen, warum so viele mittaten und nur so wenige an der Grundregeln menschlichen Miteinanders festhielten und ein Minimum an Anstand zeigten. Gerade die Täter aber schwiegen oder zogen sich hinter fadenscheinige Ausflüchte zurück. Ohne Frage: Martin Doerry sind kluge Interviews gelungen, nicht zuletzt, weil er mit ganz außergewöhnlichen Menschen sprach. Seine Gespräche regen auch dazu an, sich noch einmal mit den Büchern der Befragten zu beschäftigen.

    Martin Doerry: Überall und nirgendwo zu Haus. Gespräche mit Überlebenden des Holocaust.
    DVA. München 2006.
    262 Seiten. 39,90 Euro.