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Gesteinsmassen werden schwammig

Die Erde beruhigt sich wieder, doch die Seele bebt weiter. Das schildert Haruki Murakami in dem Prosaband "Nach dem Beben". Geschrieben nach dem Erdbeben im japanischen Kobe. Das Buch erschien 2003 - ist aber vor dem Hintergrund der aktuellen Katastrophe einer neuen Lektüre mehr als wert. In Kobe bebte am 17. Januar 1995 die Erde 20 Sekunden lang. Die Erschütterung erreichte eine Stärke von 7,3 auf der Richter-Skala. Über 6000 Menschen starben.

Von Martin Oehlen | 15.03.2011
    Für Haruki Murakami war diese Katastrophe ein Anlass, aus seiner amerikanischen Wahlheimat nach Japan zurückzukehren. Und sie veranlasste ihn, sechs Erzählungen zu schreiben, die allesamt die anhaltende Verstörung beschreiben. Nicht die sichtbaren Zerstörungen stehen im Zentrum, sondern die psychologischen Wunden und Narben bei den Zeugen und Opfern. Das Erdbeben von Sendai, das noch viel kräftiger und noch verheerender ist als das von Kobe es war, spiegelt sich in "Nach dem Beben".

    Fünf Tage lang verbrachte sie ihre gesamte Zeit vor dem Fernseher, starrte stumm auf die Bilder von zerstörten Banken und Krankenhäusern, niedergebrannten Einkaufszentren und eingestürzten Schienen und Hochstraßen.

    So beginnt die erste Erzählung "Ufo in Kushiro", und wir fühlen uns sofort erwischt. Denn auch wir blicken seit fünf Tagen auf die unfassbaren Bilder, die Mensch und Menschenwerk als Spielball der Natur vorführen. Ein weiteres Zitat aus dem Buch:

    Tief ins Sofa geschmiegt, die Lippen fest zusammengepresst, saß sie da und gab auch keine Antwort, wenn Komura sie ansprach. Sie reagierte nicht einmal mit einem Kopfschütteln oder Nicken, und er wusste nicht, ob seine Worte überhaupt bis zu ihr durchgedrungen waren.

    Und dann:

    Die Seiten des Abendblatts waren noch immer voller Artikel über das Erdbeben, lesen wir eine Geschichte weiter. Mitglieder einer Gemeinde füllten allmorgendlich ihre Rucksäcke mit Lebensmitteln, fuhren, so weit es möglich war, mit der Bahn und wanderten dann auf der halb verschütteten Nationalstraße nach Kobe, um dort lebensnotwendige Dinge zu verteilen.

    Diese Solidarität der japanischen Gesellschaft spürt man auch jetzt wieder über die Meere hinweg, diese Bereitschaft, sofort anzupacken. Als wäre das der beste Rat gegen alle Trauer.

    Ein Erdbeben ist doch ein seltsames Phänomen, nicht wahr? fragt Nimit in der Erzählung "Thailand". Wir bilden uns ein, die Erde zu unseren Füßen sei etwas Festes, Unbewegliches. Wir sprechen sogar davon, dass jemand "mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht". Die angeblich so stabile Erde, die Gesteinsmassen werden schwammig, wenn nicht gar flüssig. So haben sie das im Fernsehen erklärt. Entmischung oder Liquation nennt man diesen Vorgang. Glücklicherweise haben wir in Thailand kaum schwere Erdbeben.

    So denken wir uns das: Der Schrecken sei immer woanders. Aber wer will von der Natur erwarten, dass sie sich daran hält? Diese achtet ja nicht einmal darauf, dass japanische Kernkraftwerke bei einem Beben von 9,0 nicht mehr sicher sind.

    Was man mit den Augen sieht, ist nicht unbedingt die Realität, sagt Katagiri in "Frosch rettet Tokyo". Und da befindet sich Murakami im Zentrum seines Denkens und Fühlens. In der Wirklichkeit wirken Kräfte, die unser Fassungsvermögen übersteigen.

    Sara ist in "Honigkuchen" vier Jahre alt. Sie hat zu viele Bilder im Fernsehen gesehen, meinen ihre Eltern, kann die Flut der Eindrücke offenbar nicht verkraften: Sie wacht immer um die Zeit auf, als das Erdbeben war.

    Der Erzähler, der selbst ein Autor ist, entschließt sich, an ihrem Bett zu wachen und bestärkt dies mit den letzten Worten des Bandes: Auch wenn der Himmel einstürzte oder die Erde krachend barst. Liebe ist stärker als Beben.

    Und Murakami selbst? Seit Tagen erkundigen sich seine Facebook-Freunde nach seinem Wohlergehen. Mittlerweile hat er sich erklärt: Er habe sich während des Bebens außerhalb des Landes aufgehalten. Er sei okay.

    Haruki Murakami: "Nach dem Beben". Deutsch von Ursula Gräfe. 188 S., Dumont Buchverlag 188 S. 19,90 Euro