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Gestörte Täterpersönlichkeit

Zu viele Killerspiele, zu viel Fernsehen, ein leichter Zugang zu möglichen Tatwaffen - der amerikanische Psychiater Peter Langman verneint die Bedeutung dieser Faktoren für einen Amoklauf zwar nicht, er wählt in seinem Buch aber eine deutlich andere Perspektive.

Von Armin Himmelrath | 02.11.2009
    "Ich werde von Euch gehen, am heutigen Tag
    Doch nicht allein, nein, das ist nicht meine Art
    In diesem Magazin sind 16 Schuss
    Und ich weiß genau, was ich damit machen muss"
    Mehr als 115.000 Mal wurde dieses Lied mit dem Titel "Amok" im Internet schon angeklickt, und so mancher Kommentar der mutmaßlich jugendlichen Internetnutzer lässt einen nur noch schaudern:

    Ich find das lied super wa

    richtig gute laune musik


    Lied und Kommentar provozieren und erzeugen Unruhe und Unsicherheit – und genau das sollen sie wohl auch. Zu undurchschaubar erscheinen Eltern, Lehrern und wohl auch vielen Mitschülern solche Gedankenspiele rund um einen Amoklauf. Und wenn dann doch wieder einmal etwas passiert ist, wie zuletzt in Winnenden und Ansbach, dann dreht sich die Debatte in Deutschland häufig allein um die Rahmenbedingungen, unter denen die jugendlichen Täter lebten und lernten: Zu viele Killerspiele, zu viel Fernsehen, ein allzu leichter Zugang zu möglichen Tatwaffen. Der amerikanische Psychiater Peter Langman verneint die Bedeutung dieser Faktoren zwar nicht, er wählt in seinem Buch "Amok im Kopf. Warum Schüler töten" aber eine deutlich andere Perspektive, indem er sich radikal auf die Persönlichkeit der Täter konzentriert. Die ist, zumal wenn eine krankhafte Störung vorliegt, für Laien ohnehin kaum zu verstehen – und deshalb wirkt dieses Buch mit seinen Erklärungen für schulische Amokläufe auf deutsche Leser möglicherweise auch erst einmal ziemlich verstörend. Dass die lieb gewonnenen hobbypsychologischen Erklärungsmuster von Peter Langman beiseite gelassen werden, findet der Berliner Sozial- und Erziehungswissenschaftler Klaus Hurrelmann absolut richtig. Er hat das Vorwort für den hier besprochenen Band geschrieben.

    "Dieses Buch konzentriert sich sehr stark auf einen ganz zentralen Faktor, den wir immer wieder feststellen bei extremen Gewaltausbrüchen, den sogenannten Amokläufen: nämlich die Täterpersönlichkeit. Also, die These ist ganz klar: Es sind gestörte Persönlichkeiten. Sie sind am Rande einer psychischen Krise oder einer psychischen Krankheit, oder sie haben sogar eine Krankheit, eine schwere, komplexe, psychiatrisch relevante Störung, und das ist der Risikofaktor, der sie zur Tat gebracht hat."

    Eine irritierende These, die Langman da vertritt, schließlich lässt Krankheit als wesentliche Ursache für Amokläufe sich nicht so leicht verdammen und verurteilen wie etwa die übermäßige Nutzung von bestimmten Medien. Natürlich bestreitet auch Peter Langman nicht, dass zusätzlich zur psychischen Störung eine Situation mit auslösenden Momenten für einen Amoklauf existieren muss, wie etwa eine akute Kränkung, und selbst dann muss auch noch eine Waffe verfügbar sein. Doch das Wichtigste ist die Täterpersönlichkeit, betont Klaus Hurrelmann.

    "Der Peter Langman setzt seine Analyse voll auf den einen Faktor, ist völlig berechtigt, er blendet die beiden anderen sehr stark aus, weil er erst einmal zeigen will, dass dieser eine Punkt – die Persönlichkeit, die fundamental gestörte Persönlichkeit der potenziellen oder tatsächlichen Täter – dass der von so immenser Bedeutung ist, und das finde ich richtig als Sozialwissenschaftler, dass er als Psychiater diesen Punkt so stark macht, weil wir den bisher tatsächlich wohl etwas zu schwach bedacht haben."

    Für sein Buch hat sich Peter Langman die Amokläufe der letzten Jahre in den USA genauer angesehen. Und er hat in seiner therapeutischen Praxis für verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche immer wieder Patienten, die er als potenzielle Amokläufer klassifizieren würde. Sie alle hatten Zugang zu Waffen, sie alle erlebten ihr soziales Umfeld als demütigend – ob zu Recht oder zu Unrecht, sei hier dahingestellt. Doch das alleine, schreibt Langman, reicht für einen Amoklauf eben noch nicht aus.

    Eine eindeutigere Verbindung lässt sich zwischen Schulmassakern und Depression herstellen. Von den zehn Amokläufern aus diesem Buch litten neun an Depressionen und Selbstmordgedanken. Viele von ihnen hielten sich für Versager und beneideten ihre Kameraden, die glücklicher und erfolgreicher zu sein schienen. Dieser Neid verwandelte sich oft in Hass, Wut und Mordfantasien.
    Jeder Täter gibt vor der Tat Signale ab, das zeigt auch die Analyse der deutschen Amokläufe aus den vergangenen Jahren. Lehrerinnen und Lehrer müssten deshalb im Erkennen solcher Signale geschult werden. Und: Ihnen muss die Scheu genommen werden, sich professionelle Hilfe in die Schule zu holen.

    "Das ist wohl etwas, was wir mit verstärkt anstreben müssen: Da gehören Fachleute von außen dazu. Das kann dann nicht mehr nur im innerschulischen Bereich geklärt werden."

    Denn, so lautet ja schließlich Langmans Grundthese: Massive Persönlichkeitsstörungen erfordern ein professionelles, medizinisch-psychiatrisches Eingreifen. Lehrer wären damit überfordert.

    Schul-Amokläufer sind gestörte Individuen. Es sind keine normalen Jugendlichen, die sich für Mobbing rächen. Es sind keine normalen Jugendlichen, die zu viel Videospiele spielen. Es sind keine normalen Jugendlichen, die einfach mal berühmt sein wollten. Es sind einfach keine normalen Jugendlichen. Es sind Jugendliche mit schweren psychischen Störungen.
    Und diese Erkenntnis hat massive Auswirkungen auf die Organisation des Bildungswesens, sagt Klaus Hurrelmann:

    "Schule ist da überfordert. Ein Lehrer ist kein Therapeut, er sollte es auch nie sein, er sollte auch nicht den Versuch machen, ein Therapeut zu sein. Ein Lehrer ist ein Lehrer, er ist der Experte für die Organisation, die Koordination von Lernen, von Unterrichtsprozessen. Aber dabei begegnet er natürlich der Persönlichkeit eines Schülers, er hat seine Erfahrungswerte, er kann erkennen, wo ein Schüler, eine Schülerin deutliche Gefahrensignale von sich gibt, weil das Muster eindeutig verletzt wird, was diese Lehrkraft einschätzen kann als normal und nicht normal. Ob es sich dabei aber wirklich um eine fundamentale Störung handelt, das kann eine Lehrkraft nicht einschätzen. Dazu braucht man dann das Fachurteil von außen."

    Ein solches Fachurteil aber muss auch viel leichter zugänglich sein, als das heute der Fall ist. Komplizierte bürokratische Prozesse wären hier kontraproduktiv. Und das ist, neben dem direkten Blick auf die Täterpersönlichkeiten, das Zweite große, verstörende Moment in diesem lesenswerten Buch: Es zeigt mehr als deutlich, wie wenig die Strukturen unserer Schulen auf Früherkennung und präventive Hilfe für potenzielle Amokläufer eingestellt sind. Einen zutiefst eindringlichen Weckruf hat Peter Langman hier verfasst – hoffentlich wird er hierzulande bald gehört.

    Lied vom Anfang:

    "Heute halte ich es nicht mehr aus
    Mit einer Waffe verlasse ich das Haus
    Mein Herz schlägt etwas schneller als normal
    Denn ich weiß, die Folgen sind fatal."

    "Amok im Kopf. Warum Schüler töten" von Peter Langman. 334 Seiten für 19 Euro 95, im Beltz Verlag erschienen (ISBN: 978-3-407-85887-0). Vorgestellt von Armin Himmelrath.