Archiv


Gestörtes Selbstwertgefühl und die Folgen

Kennzeichnend für Politik und Gesellschaft in Deutschland sei eine narzisstische Störung, meint Hans-Joachim Maaz. Der ihr zugrundeliegende Selbstwertmangel werde permanent in Äußerlichkeiten zu kompensieren versucht, so die These des Psychoanalytikers.

Von Thomas Kleinspehn |
    Die Abende nach Bundestags- oder Landtagswahlen sind im Grunde beliebig austauschbar. Selten gibt es Verlierer, die sich verantwortlich fühlen. Die meisten finden, dass ihr Programm nur nicht richtig vermittelt worden sei, nicht richtig "rübergebracht" wurde. Nicht der Inhalt oder die Leistung, sondern die Darstellung rückt in den Vordergrund. In Fernsehdebatten genauso wie im Parlament oder auf Pressekonferenzen. "Politik ist narzissmuspflichtig", sagt Hans-Joachim Maaz. Für ihn ist das eines der zentralen Symptome der westlichen Konsumgesellschaften.

    "In der Politik macht man Karriere, wenn man gut im Größenselbst sein kann, und das heißt, sich selbst immer auch größer darstellen und auch so verkaufen, so tun als hätte man immer alles im Griff, würde man alles verstehen, ja keine Unsicherheit oder Schwäche zugeben und im Grunde genommen den politischen Gegner schlecht machen, abwerten. Das ist eine klassisch-narzisstische Problematik: sich selbst überhöhen, andere erniedrigen. Die Alternative wäre ja, man versucht sich zu verständigen, beide Seiten haben immer irgendwie recht, wo liegt dann wirklich die Wahrheit. Und das genau hat die Politik immer mehr verhindert, sodass in der Politik die narzisstische Problematik ein großes Feld hat, sich auszudehnen und zu wuchern."

    Maaz ist Psychoanalytiker in Halle und hat seit der Wende die Entwicklung im vereinten Deutschland aus sozialpsychologischer Perspektive kritisch begleitet. Der Titel seines neuesten Buches, "Die narzisstische Gesellschaft", täuscht ein wenig. Denn streng genommen ist es nur im ersten Teil ein psychoanalytischer Text. Insgesamt knüpft er an die politische Analyse seines letzten Buches, "Der Gefühlsstau. Psychogramm einer Gesellschaft" an, und spitzt sie weiter zu. Denn im Kern bewegt Maaz nach wie vor das – in seinen Augen – misslungene Zusammenwachsen von Ost und West, die Überheblichkeiten und Kränkungen, die Nähe und die Grenzziehungen. All das kulminiere in dem Modell der narzisstischen Gesellschaft. Auf sie blickt Maaz auch 2012 noch als Bürger der ehemaligen DDR.

    "Wir haben erst nach der Wende mit dieser narzisstischen Problematik gehäuft zu tun bekommen, in ihrer Behinderung. Also Menschen, die nicht gut ihren Selbstwert erfahren, die also unter Minderwertigkeit leiden, unter Gehemmtheit, Schüchternheit usw. Das ist erst deutlich geworden im Verhältnis zu den westlichen Lebensformen und dann war der Weg nicht mehr weit, das was wir sowieso auch schon immer untersucht hatten, wie sind die frühen Entwicklungsbedingungen. Also das, was ich dann später unter Muttermangel und Vaterflucht bezeichnet habe, als Quelle narzisstischer Problematik und mit diesem Blick ist mir dann sehr bald deutlich geworden, dass im Grunde genommen gerade die westliche Gesellschaft ja eine Tendenz hat, immer suchtartiger zu werden, also diese sogenannte Wachstumsgesellschaft, Leistungsgesellschaft, die kein Ende mehr kennt und das war dann der Grund, auch diese Zusammenhänge weiter zu untersuchen."

    Das ist die eigentlich Frage, die das Buch bestimmt. Denn im psychoanalytischen Modell des Narzissmus findet Maaz vieles wieder, was die politische Entwicklung der letzten 20 Jahre in Deutschland und das Verhältnis der neuen und alten Bundesländer geprägt hat. In weit über der Hälfte des Buches entwickelt Maaz zunächst das individualpsychologische Konzept des Narzissmus. Dabei geht es ihm nicht um ausgeprägtes und durchaus gesundes Selbstbewusstsein, sondern um Symptome und Verhaltsstörungen, die narzisstische Defizite verbergen sollen. Der Narziss entwirft eine Welt, in der er sich großartig fühlen kann. Doch das ist nur äußerlich. Eigentlich fühlt er sich schwach und klein. Er hat schon seit frühester Kindheit von den Eltern und anderen Bezugspersonen erfahren, dass er deren Ansprüchen nicht genügt. Gleichzeitig kann er oder sie nur Liebe erfahren, wenn er "perfekt" erscheint. Daraus entwickelt sich ein Kreislauf, nie zu erfüllender, aber unersättlich verfolgter Großartigkeit: die narzisstische Störung. Grundsätzlich können sich aus den Defiziten der frühen Kindheit zwei verschiedene Reaktionsmuster ergeben. Maaz nennt sie "Größenselbst" und "Größenklein". Während der erste sich viel großartiger und wichtiger vorkommt als er tatsächlich ist, ihm aus dieser Störung heraus auch nur schwer eine angemessene Wahrnehmung von Realität und von seinem Gegenüber gelingt, lebt der zweite mit ausgeprägten Minderwertigkeitsgefühlen.

    "Der Größenselbst-Mensch ist eben der, der seinen Selbstwert-Mangel in Äußerlichkeiten versucht zu kompensieren und das hat der Westen sehr stark kultiviert. Im Osten würde ich diese andere Form der narzisstischen Störung und ihrer Bewältigungsversuche sehen, das was ich mit Größenklein verstehe. Also Menschen, die ihre Selbstwertproblematik eher kultivieren, also sich immer etwas hilfloser und bedürftiger zeigen als sie sowieso schon sind, weil dann die Erfahrung oft schon in der Kindheit beginnt, ach wenn ich schwach bin, wenn ich mich unterordne und anpasse, dann werde ich unterstützt oder gefördert. Das hatte die DDR ja auch in einer gewissen Weise kultiviert, die Fürsorge des Staates, aber eben auf Kosten der individuellen Freiheit, der Einengung, sodass man auch sagen kann, die beiden deutschen Systeme haben aus der Sicht der narzisstischen Problematik auch die beiden unterschiedlichen Kompensationsformen, also Größenselbst und Größenklein kultiviert."

    Hier liegt dann die Nahtstelle zu dem eher politischen zweiten Teil des Buches, in dem sich der Psychoanalytiker aus Halle mit den Auswirkungen dieser gestörten Selbstwertgefühle auf die Politik beschäftigt. Aus seiner Sicht erscheinen Politiker als Menschen, die in der selbst gewählten Aufgabe hauptsächlich Selbstbestätigung suchen und sich ständig nach außen orientieren – oder psychoanalytische gesagt, ihre eigene narzisstische Problematik abwehren. Das geschehe auf Kosten von Sachinhalten. Hierbei hat Maaz vor allem Politiker aus dem Westen im Auge, von Helmut Kohl, über Gerhard Schröder bis Karl Theodor zu Guttenberg. Erst wenn dieser dominierende Politikstil zurückgedrängt werde zugunsten von Diskussion und Auseinandersetzung könne Politik wieder bei den Menschen ankommen. Diese zentrale These in Maaz neuestem Buch ist durchaus diskussionswürdig und schafft eine wichtige Verbindung von individuellen und gesellschaftlichen Mustern. Man hätte als Leser dazu gerne mehr erfahren. Doch der Autor gibt einer psychoanalytischen Erklärung des Narzissmus im ersten Teil seines Buches allzu viel Raum. Ihn hätte er besser für eine vertiefte politische Debatte nutzen können und für eine größere Differenzierung. Psychoanalytisch bewanderten Lesern wird dieser Teil des Buches ohnehin wenig Neues bringen, ignoriert er doch die breite Diskussion zum Thema Narzissmus nach Freud und auch darüber, welche gesellschaftlichen Strukturen, den Narzissmus besonders fördern. So bleiben viele Fragen offen. Sie müsste man stellen, will man tatsächlich einen neuen Politikstil finden, der nicht aufgesetzt ist, sondern sich aus einer Debatte in der Zivilgesellschaft heraus von unten entwickelt.

    Hans-Joachim Maaz: Die narzisstische Gesellschaft. Ein Psychogramm
    C.H. Beck Verlag, München 2012, Preis: 17,95 Euro