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Gestrandete
Literarische Boat People

Hans Christoph Buchs Großvater hatte sich im Karibikstaat Haiti als Apotheker niedergelassen und eine Familie gegründet. Als sein Enkel die Insel ein halbes Jahrhundert später besuchte, fand er den entscheidenden Anstoß für seine literarische Laufbahn. Zu seinem 70. Geburtstag veröffentlichte der Autor jetzt einen Essayband über das literaturhistorische Motiv von Geisterschiffen und Menschen in Seenot.

Von Cornelius Wüllenkemper | 09.06.2014
    Der Schriftsteller Hans Christoph Buch
    Hans Christoph Buch (picture alliance / ZB / Marc Tirl)
    Die "Casa Buch" in Haiti existiert nach dem Tod der letzten direkten Verwandten nicht mehr, und auch die Apotheke des Großvaters ist im verheerenden Erdbeben von 2010 zerstört worden. Die Konstanten von Buchs Essays, Romanen und zahlreichen Reise- und Kriegsberichten gehen dabei bis heute auf die Erlebnisse im Land seiner Vorfahren zurück: Unsagbares menschliches Elend und lebenshungriger Optimismus, eine zwischen Fantasie und Wirklichkeit mystisch aufgeladene Weltbetrachtung und die brennende Aufmerksamkeit für das, was Leid mit Menschen macht. Vom Schicksal gebeutelte Figuren stehen auch im Mittelpunkt von Buchs gerade erschienener Essaysammlung "Boat People – Literatur als Geisterschiff".
    Sonne, endlose Weite, am Horizont ein leichter Dunst
    "Der Begriff Boat People steht heute stellvertretend für Asylsuchende aus Kriegs- und Krisengebieten, die auf der Suche nach menschenwürdigen Lebensbedingungen an den Küsten Europas stranden. (...) Aber nicht vom höchst realen Elend soll hier die Rede sein, sondern von seiner Widerspiegelung in Kunst und Literatur, von literarischen Boat People also."
    Der promovierte Literaturwissenschaftler Buch widmet sich in seinen "Berner Poetikvorlesungen" den berühmten oder auch beinah vergessenen Helden der Literaturgeschichte. Im 1926 erschienenen Erfolgsroman "Das Totenschiff" von B. Traven entdeckt er ein "Meisterwerk des modernen Romans". Travens Ich-Erzähler Gales ist ein amerikanischer Seemann, der nach einem Landurlaub sein Schiff verpasst. Ohne Identitätsnachweis irrt er als Staatenloser durch ganz Europa. Gales Irrfahrt nimmt für Buch das Schicksal heutiger Boat People vorweg, denen man in den Häfen Amerikas und Europas die Landung verwehrt. In Jens Rehns 1954 erschienenen und heute vergessenen Roman "Nichts in Sicht" spürt Buch dasselbe literarische Motiv bei zwei schiffbrüchigen Soldaten auf, die nach dem verlorenen Seegefecht im Schlauchboot steuerlos über den Ozean treiben. Eine deutsche Variante des existenzialistischen Romans, der anders als bei Sartre und Camus, nicht auf dem Lande, sondern auf dem Meer spielt. Sonne, endlose Weite, am Horizont ein leichter Dunst.
    "So beginnt das Buch, und schon der kurze Ausschnitt zeigt, dass und wie Jens Rehn auf gesuchte Effekte verzichtet und in knappen Sätzen, eher wortkarg als wortreich, eine Geschichte erzählt, deren Protagonisten namenlos bleiben: Kahlschlagliteratur heißt der aus der Nachkriegszeit stammende Fachausdruck dafür. (...) Der Autor lasst nur eine Ausnahme zu: Immer dann, wenn von Betsy und Maria, den Freundinnen und Verlobten der beiden Protagonisten die Rede ist, meldet sich die Erinnerung zurück an ein hinter ihn liegendes "normales Leben", das den Schiffbrüchigen im Schlauchboot wie eine Fata Morgana erscheint."
    Ein literarischer Einzelgänger im deutschsprachigen Raum
    Wie Buch in sieben Essays zeigt, geistert das Motiv des steuerlos umhertreibenden Geisterschiffs, das Dasein zwischen Leben und Tod seit Homers "Odyssee" bis zu Hans Magnus Enzensbergers "Untergang der Titanic" durch die Literaturgeschichte. Die literarische Wahrheit macht reale oder fiktive menschliche Schicksale erlebbar, von Sindbad aus 1001 Nacht über Franz Kafkas "Der Jäger Gracchus" bis hin zu Günter Grass' Novelle "Im Krebsgang" über den Untergang des Flüchtlingsschiffs Wilhelm Gustloff. Buch selbst hat in seinen politisch-historischen Essays und Romanen sowie zahlreichen Reportagen aus Krisengebieten über das Schicksal der Gestrandeten geschrieben. Dass er in subjektiven Erinnerungen, literarischer Fiktion und den Erlebnisberichten als Krisenreporter die subjektive Wahrheit hinter den faktischen Geschehnissen aufspüren will, hat man ihm oft vorgeworfen. Dünnhäutig klagte der Autor einmal, er habe sich stets von der deutschen Literaturkritik "gemobbt" gefühlt, von den Journalisten als Literat und von Literaten als Reporter missverstanden.
    "Deshalb blättere ich auf den folgenden Seiten ein wenig bekanntes Kapitel der Literaturgeschichte auf, das mich schon deshalb fasziniert, weil es auf vielfache Weise mit meiner Arbeit verknüpft ist: Was für Spuren es dort hinterließ, mögen andere herausfinden – als Autor bin ich betriebsblind und befangen gegenüber der eigenen Produktion."
    Schreibt Buch in den Vorbemerkungen seiner Essaysammlung über die literarischen Boat People. Womöglich hat er sich insgeheim zu seinem 70. Geburtstag damit zugleich ein Denkmal gesetzt: Buch, dessen Romane in der Karibik als illegale Übersetzungen kursieren, bezeichnet sich gern als "frankophonen Schriftsteller". Mit seiner spielerischen Form der Weltbetrachtung ist er im deutschsprachigen Raum zumindest ein literarischer Einzelgänger. Buch hat nicht nur einen unverwechselbaren Ton, sondern führt in jedem seiner Romane vor, was Literatur kann: Dinge beschreiben, die unbeschreiblich sind. Anfang des Jahres besuchte Buch die Robinson-Insel Juan Fernández im Südpazifik und arbeitet derzeit an einer neuen Version des Robinson-Romans.
    Hans Christoph Buch: "Boat People. Literatur als Geisterschiff."
    Frankfurter Verlagsanstalt 2014, 127 Seiten, 17,90 Euro