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Lichtblitze gegen Migräne-Attacken

Helles Licht ist für viele Migränepatienten unerträglich. Aber wenn Licht die Schmerzen verschlimmern kann - kann es sie auch dämpfen? Das hat sich vor rund 15 Jahren ein Physiker gefragt. Daraus ist eine Lichttherapie gegen Migräne geworden. Viel weiter entwickelt ist aber eine andere Hilfe.

Von Frank Grotelüschen | 20.04.2021
Das Gesicht einer Frau wird von einem hellen Lichtschein verdeckt.
Grelles Licht versuchen einige Migräne-Geplagte eher, zu meiden. (M-Sense)
Mitte der 2000er-Jahre fiel Markus Dahlem, damals Physiker an der TU Berlin, etwas Verblüffendes auf: Manche Migränepatienten reagierten mit Unwohlsein auf bestimmte visuelle Reize auf Fotos oder in Videos. Sie hatten das Gefühl, die Bilder würden den nächsten Migräneanfall geradezu heraufbeschwören. "Und dann habe ich nachgedacht", erzählt Dahlem. "Naja, wenn gewisse Videosequenzen, die ich mir anschaue, ein Unbehagen auslösen, kann das nicht auch umgekehrt gehen? Kann es vielleicht andere Bilder geben, die was Positives auslösen? Und dann haben wir lange drüber geforscht. Das war die Ur-Idee."

Blaues Licht verstärkte die Schmerzen, grünes linderte sie

Dahlem und sein Team versuchten es mit kurzen Lichtblitzen. Die sollten per Spezialbrille aufs Auge gespielt werden, sobald jemand die Vorzeichen einer Attacke verspürt. Und tatsächlich: Studien legen nahe, dass Licht das Migränegeschehen tatsächlich beeinflusst. "Mittlerweile wissen wir, dass gewisse Lichtfarben wie das grüne und das blaue Licht positive beziehungsweise negative Einflüsse haben", sagt Markus Dahlem. "Das blaue Licht zum Beispiel kann den Schmerz verstärken. Und man weiß auch ein bisschen, wie das funktioniert, nämlich durch das sogenannte autonome Nervensystem, also das Nervensystem, das ich gar nicht willkürlich beeinflussen kann. Eine physiologische Reaktion, die unbewusst abläuft, den Schmerz aber verstärkt. Und grünes Licht interessanterweise sich positiv auswirkt."
Die Lichtwirkung hängt von mehreren Faktoren ab – Zeitpunkt und Dauer der Bestrahlung, Lichtfarbe, Abfolge und Art der Blitze. Anwendungsreif aber ist diese Lichttherapie noch nicht. So ist noch unklar, in welchen Fällen sie Erfolg bringt und in welchen nicht – manchen Patienten könnte sie mehr schaden als nützen. Weitere Forschung ist nötig, und deshalb verfolgt Markus Dahlem nun parallel eine andere Strategie. Vor fünf Jahren hat er ein Startup namens Newsenselab gegründet. Dessen Ziel: die Entwicklung einer digitalen Migräne-App.
Eine Hand hält ein Smartphone, auf dem eine App ein kleines Gehirn mit Armen zeigt. 
Die App M-Sense Migräne ist Tagebuch und Analyse-Werkzeug in einem. (M-Sense)

Tagebuch auf dem Smartphone

"Wir haben erst mal angefangen, das klassische Behandlungsprogramm der Psychotherapie zu digitalisieren. Das heißt Entspannungstherapie, Bewegungstherapie, aber auch ein Tagebuch zu führen, digital, dass man weiß: Welche Attacken hab ich eigentlich? Ein Tagebuch, das intelligent ist und unterscheiden kann: Ist die Attacke wirklich typisch für eine Migräne? Wann tritt was auf? Hat eine Behandlung gewirkt, wenn ich Medikamente einnehme? Die den gesamten Informationsfluss der klassischen Behandlung digitalisiert und begleitet."
Dass Migränepatienten Zeitpunkt und Verlauf der Attacken in einem Tagebuch notieren und Entspannungsübungen als Prophylaxe nutzen, ist an sich nichts Neues. Doch die App namens "M-sense Migräne" bündelt all das auf dem Smartphone und erinnert zum Beispiel daran, wann die nächste Übung fällig ist. Und: Die Software sammelt nicht nur Daten, sondern analysiert sie auch. Und das, meint Dahlem, bringt Vorteile für Diagnose und Behandlung.
"Die App übernimmt ganz viel vorweg für den Arzt, für die Ärztin. Zum Beispiel die Unterscheidung zwischen Migräne und Spannungskopfschmerzen vom Erscheinungsbild. Das heißt jetzt nicht, dass die App wirklich diagnostizieren könnte, was im Kopf passiert. Aber sie kann sozusagen aus der Menge der Symptome sagen, welches Erscheinungsbild da ist. Das sind relativ viele Fragen, sodass eine Ärztin in der Regel, ein Arzt, bis zu 15 Minuten bräuchte, um einen Monat auszuwerten. Mit einer digitalen Anwendung sieht man das auf einen Blick."

Wenn das Smartphone die Attacken vorhersagt

Seit letztem Dezember gibt es die App auf Rezept, die Krankenkassen übernehmen also die Kosten. Und nun hat Dahlems Firma gemeinsam mit der Berliner Charité eine klinische Studie gestartet. Sie soll zeigen, ob die App die Erwartungen erfüllt. Für Markus Dahlem aber markiert sie nur den ersten Schritt in Richtung digitaler Migräne-Therapie. Eines Tages könnte sie, so die Hoffnung, als automatisches Frühwarnsystem agieren.
"Das ist genau das Ziel", erklärt der Physiker Dahlem. "Dass man, bevor die eigentliche Attacke stattfindet, schon gewisse Interventionen, die hilfreich sind, ansetzt. Diese Vorhersage von Attacken sehr gut zu machen, setzt eine große Datenmenge voraus und auch richtige Daten. Also nicht nur Tagebuch-Daten, sondern auch Daten über Vital-Parameter wie Körpertemperatur, wie Herzraten-Variabilität. Und das sind alles Daten, die man über die Sensorik eines Telefons messen kann und mit in die Behandlungsformen einfließen lassen kann."

Doch noch mit Lichtblitzen?

Schon heute lassen sich Vitaldaten wie Puls und Atemfrequenz per Smartphone messen, meist für den Sport. Künftig soll das mehr und mehr auch in der Medizin eingesetzt werden. Die Vision: Patientenindividuell erkennt die Migräne-App der nächsten Generation eine drohende Attacke und empfiehlt, ein Medikament einzuwerfen oder ein paar Lichtblitze zu aktivieren. Denn die Sache mit der Lichttherapie gegen Migräne-Attacken hat Markus Dahlem nach wie vor im Sinn. Irgendwann könnte sie sich, meint er, mit einer Smartphone-App kombinieren lassen.