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Gesundheitspolitik in Großbritannien

Müller: Durchweg schlechte Noten für die Gesundheitspolitik zumindest in den europäischen Medien bekommen die USA und in Europa vor allen Dingen Großbritannien. Zum Teil miserable Versorgung in den Krankenhäusern, deutlich schlechtere Leistungen für die ärmeren Patienten und eine miserable Effizienz, dies zumindest das häufigste Urteil. Jürgen Krönig in London, Sie leben seit vielen Jahren in Großbritannien, Sie haben viel Erfahrung damit ja auch persönlich gemacht. Ist das Gesundheitssystem in Großbritannien tatsächlich so schlecht wie sein Ruf?

    Krönig: Nein, ich glaube es ist nicht so schlecht wie sein Ruf. Es gibt übrigens eine europäische Umfrage, von der Europäischen Kommission angezettelt, die genau dieses zeigt. Da liegt, was die Zufriedenheit mit ihrem nationalen Gesundheitssystem betrifft, Großbritannien im Mittelfeld, Deutschland hinten, obwohl auf der anderen Seite Großbritannien sehr viel weniger Geld für Gesundheit ausgibt. Wenn Sie es auf das Bruttosozialprodukt hochrechnen, gibt Deutschland etwa 10 Prozent seines Bruttosozialproduktes für Gesundheit aus, Großbritannien circa 7 Prozent. Wenn Sie Erfolg und Qualität eines Gesundheitssystems nur messen an den Ausgaben, an den Kosten, dann muss man sagen, Großbritannien ist schlecht bedient. Wenn man sich dagegen fragt, kann es sein, dass weniger auszugeben für ein Gesundheitssystem vielleicht auch Vorteile hat, dann muss man sagen, die sind in Großbritannien bei allen nicht bezweifelbaren Nachteilen gegeben.

    Müller: Wie funktioniert denn das Finanzierungssystem?

    Krönig: Sie brauchen nichts zu zahlen. Es wird über Steuern finanziert. Die grundsätzliche Idee ist, dass jeder Bürger die gleiche Behandlung kostenlos bekommt. Das ist natürlich jetzt nicht mehr ganz richtig, weil es auch beispielsweise Kosten gibt, die mit Rezepten verbunden sind, wenn man etwas vom Apotheker abholt, aber im Prinzip funktioniert das, wobei man hinzufügen muss, solch ein System in der Zeit der wachsenden Alterspyramide, der wachsenden Ansprüche, der wachsenden technischen Möglichkeiten, die Dienste zu multiplizieren und immer kompliziertere Behandlungen einzuführen, stößt natürlich auch an die Grenzen der Finanzierbarkeit.

    Müller: Das hört sich ja auf den ersten Blick ganz gut an, über Steuern finanziert, also nur die indirekte Beteiligung der Bürger. Bekommt denn jeder Bürger die medizinische Leistung, die er braucht?

    Krönig: Ja, wobei natürlich Unzufriedenheit da ist. Nehmen wir mal an, ich habe das Gefühl, ich müsste unbedingt zum Augenarzt, weil ich irgendwelche Schmerzen oder Sehprobleme habe. Dann kann ich aber nicht zum Augenarzt gehen, sondern ich muss zu meinem GP gehen, zum General Practitioner, dem allgemeinen Hausarzt. Der guckt dann auf das Auge mit mehr oder weniger großer Qualifikation und sagt, es ist besser, wenn der Facharzt kommt. Dann dauert es noch mal vielleicht sechs oder vier oder acht Wochen, bis ich zu diesem Facharzt komme. Ich kann mich nicht selbst entscheiden. Ich muss auch zu diesem Hausarzt gehen. Ich muss auch zu meinem lokalen Krankenhaus gehen. Der Nachteil des britischen Systems ist, dass es ein kollektivistisch zentralistisches System ist, das bestimmte Dinge vorschreibt und eine bestimmte Wahlfreiheit nicht erlaubt, die übrigens Tony Blair jetzt aufbrechen will, er sagt, wir brauchen mehr Vielfalt, wir brauchen mehr Abwechslung, die Menschen sind anders geworden, wir können nicht weiterhin wie die Sowjets kollektivistisch, zentralistisch dirigiert, von der Mitte aus jedem das Gleiche bieten. Wir müssen auch Unterschiede haben. Das ist eine interessante Diskussion, die hier im Augenblick beginnt, während man in Deutschland ja, wenn ich das richtig verstehe, bestimmte Beschränkungen, wie sie die Briten schon haben, einführen möchte, nämlich den Besuch bei dem Hausarzt, bevor man weitergeleitet wird an den Spezialisten, was natürlich eine Reduzierung der Nachfrage ist. Man erschwert es, man will es erschweren, und das ist vielleicht ganz vernünftig, denn so wie die Menschen gebaut sind, nehmen sie natürlich das, was kostenlos da ist, leicht mit, und das ist auch hier das Problem.

    Müller: Gilt es auch insbesondere für die älteren Menschen, dass dort hin und wieder Leistungen plötzlich dann verweigert werden?

    Krönig: Sie haben hier in Großbritannien das Problem der Termine beim Facharzt oder der Termine für Operationen, die nicht unbedingt lebensnotwendig sind, aber doch sehr wichtig sind, gerade auch für ältere Menschen. Nehmen wir mal eine Hüftoperation. Da gibt es Wartezeiten von sechs, acht, zehn oder zwölf Monaten, und eines der Versprechen der Blair-Regierung war, wir reduzieren die Wartezeiten auf eine bestimmte Zahl, wir wollen versuchen, sie runterzufahren. Das ist das Dilemma dieses Gesundheitssystems, das zentralistisch gesteuert ist und versucht, die Nachfrage ein bisschen zu dämpfen und zu kontrollieren, indem man nicht jedem dieses Reich der Freiheit erlaubt, wie es in Deutschland bislang der Fall war.

    Müller: Vielen Dank für das Gespräch.