Archiv


Gesundheitsreform muss erst einmal wirken

Heuer: Gut fünf Monate üben die Deutschen inzwischen die Gesundheitsreform. Gut fünf Monate zahlen wir Praxisgebühren und höhere Zuschläge auf Behandlungen und Arzneimittel. Demnächst sollen sich die Ärzte in Zentren zusammentun, um Geld zu sparen. Die Debatte Kopfpauschale versus Bürgerversicherung läuft auch weiter und wo bleibt bei all dem der Patient. "Auf der Strecke!", warnen die Ärzte. Sie tun dies pünktlich zum Ärztetag, der heute in Bremen beginnt. Wir sprechen aus eben diesem Anlass mit Karl Lauterbach. Er ist Mitglied im Sachverständigenrat Gesundheitswesen und gilt als engster Berater und Gesundheitsministerin Ulla Schmidt. Guten Morgen, Herr Lauterbach.

    Lauterbach: Guten Morgen, Frau Heuer.

    Heuer: Der Ärztepräsident Jörg-Dietrich Hoppe hat über das Verhältnis der Ärzteschaft zu Ulla Schmidt gesagt, es handele sich dabei eher um Morgengrauen, als um eine heiße Nacht. Dann wäre man aber wenigstens noch zusammen aufgewacht. Wie zerrüttet ist denn das Verhältnis zwischen Bundesregierung und den Ärzten aus Ihrer Sicht?

    Lauterbach: Ich glaube, das Verhältnis zwischen Regierung und Ärzten ist nicht so zerrüttet, wie das zwischen Herrn Hoppe und Frau Schmidt oder der Bundesregierung. Herr Hoppe unterstellt, die Gesundheitsreform würde zu Rationierungen führen. Das ist einfach falsch. Die Gesundheitsreform
    hat die Absicht - und das funktioniert auch ein Stück weit besser, als viele geglaubt haben - das System zu modernisieren. Gesundheitszentren, vernetzte Versorgung, etwas Qualitätswettbewerb, das verändert die Struktur mehr, als jede andere Reform der letzten zwanzig Jahre. Es gibt keine Rationierungen - dieser Vorwurf geht ins Leere.

    Heuer: Herr Lauterbach, nun sagen die Ärzte aber, es gäbe erste Warnzeichen dafür, dass arme Patienten wegen der Praxisgebühr und der Zuzahlungen nicht mehr rechtzeitig zum Arzt gehen. Kann die Politik diese Entwicklung in Kauf nehmen?

    Lauterbach: Das ist zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt nicht belegt. Wir haben in Deutschland viel mehr Arztbesuche pro Jahr, als wir benötigen. Wir haben Überversorgung. 550 Millionen Arztbesuche pro Jahr - kaum ein anderes europäisches Land kann dies bieten. Hätten wir weniger Arztbesuche, könnte jeder einzelne Arztbesuch länger dauern und es zu besserer Qualität bringen. Somit, weniger Arztbesuche bedeutet nicht weniger Qualität.

    Heuer: Dann ist es also eher eine positive Entwicklung, wenn zum Beispiel in Berlin, in Neukölln, einem Armenbezirk, die Arztbesuche sinken, während sie in Charlottenburg, einem reichen Bezirk, weiter auf hohem Niveau bleiben?

    Lauterbach: Wenn wir Überversorgung haben, in Form von Arztbesuchen, die überflüssig sind, dann wäre das eine positive Entwicklung. Man kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen, dass die Arztbesuche, die zurückgehen, auch medizinisch sinnvoll gewesen sind. Genauso ist es auch bei den Arzneimitteln. Wir haben zehn bis fünfzehn Prozent weniger Arzneimittel verschrieben, müssen jetzt genau überprüfen, ob das eingetreten ist, was erwünscht wurde. Es war erwünscht, überflüssige Arztbesuche zu vermeiden, es war erwünscht, Arzneimittel nicht mehr zu verschreiben, die nicht wirken. Ob dies wirklich gelungen ist oder nicht, das wird jetzt untersucht.

    Heuer: Im Moment, Herr Lauterbach, müssen besonders arme Patienten zwei Prozent ihres Bruttojahreseinkommens für das Kranksein ausgeben, und erst wenn das geschehen ist, werden sie nicht mehr zusätzlich zur Kasse gebeten. Nun sagen die Kassenärzte, diese zwei Prozent sollten künftig über das ganzer Jahr gezogen werden. Ist das ein guter Vorschlag?

    Lauterbach: Die Überforderungsquote von zwei Prozent gilt ja nicht für diejenigen, die chronisch krank sind. Dort ist es nur ein Prozent, und das betrifft den allergrößten Teil derjenigen, die wirklich überfordert sind. Wir haben zahlreiche Befreiungen bis auf ein Prozent. Diese Ein-Prozent-Regelung so zu gestalten, dass sie für alle Beteiligten gut funktioniert, muss ein weiteres Ziel bleiben. Aber wir müssen erst einmal schauen, wie es wirklich wirkt.

    Heuer: Das heißt, Sie unterstützen den Vorschlag der Kassenärzte zu diesem Zeitpunkt nicht, aber sind durchaus bereit, weiter darüber nachzudenken?

    Lauterbach: So ist es, aber ich bin der Meinung, dass man die Gesundheitsreform erst einmal wirken lassen muss. Wir haben derzeit einen Einnahmeeinbruch bei den Krankenkassen, genau wie bei der Steuer. Die Krankenkassen sind hoch verschuldet, und gleichzeitig ist die Medizin auch teurer geworden. Trotz dieser drei Veränderungen konnten die Beitragssätze stabil gehalten werden, sind sogar leicht gesunken. Das ist aus meiner Sicht ein großer Erfolg, auch in Anbetracht der hohen Arbeitslosigkeit.

    Heuer: Sie haben die chronisch Kranken gerade selber angesprochen. Eine Qualitätskomponente in der Gesundheitsreform sind ja die "Chroniker-Programme", die festgelegte Therapien für bestimmte Krankheiten vorsehen. Ärzte und Kassen kommen aber in diesem Feld nicht in die Puschen. Ist mit denen einfach keine Reform zu machen, Herr Lauterbach?

    Lauterbach: Die "Chroniker-Programme", insbesondere für Diabetiker, funktionieren sogar relativ gut. Vierzig Prozent der Diabetiker sind mittlerweile eingeschrieben, und die ersten Ergebnisse in Sachsen-Anhalt oder auch in Mecklenburg-Vorpommern zeigen, dass sich tatsächlich die Diabetikerversorgung, also die Versorgung der Zuckerkranken, deutlich verbessert hat. Blockiert wird vielmehr in anderen Bereichen, insbesondere was medizinische Versorgungszentren angeht, die vernetzte Versorgung angeht und ein Stück weit auch die ambulante Versorgung für sehr schwere Krankheiten, was Krankenhäuser angeht. Aber ich glaube, dass der Gesetzgeber hier gut beraten ist, jede einzelne Blockade, die sich abzeichnet, zu überwinden, auch durch den Einsatz der Aufsichtsfunktion - auf Bundes- und auf Landesebene.

    Heuer: Herr Lauterbach, Bert Rürup hatte einen neuen Kopfpauschalen-Vorschlag gemacht, der sozialverträglicher sein soll, weil er nämlich durch eine einkommensabhängige Komponente ergänzt werden soll. Die CSU signalisiert Zustimmung, damit wäre die Union schon einmal mit im Boot. Die SPD ist aber weiter für die Bürgerversicherung. Trauen Sie der SPD zu, trotzdem mit der Bürgerversicherung in dieser Gemengelage ernst zu machen?

    Lauterbach: Achtzig Prozent der Bevölkerung scheinen nach Umfragen die Bürgerversicherung zu bevorzugen. Bei der Bürgerversicherung wird die Einkommensquelle, die in Zukunft am stärksten wachsen wird, nämlich Miet-, Zins- und Kapitaleinkünfte verdreifacht. Bei der Kopfpauschale läuft der soziale Ausgleich über Steuern, und Steuern werden mittelfristig durch die EU-Osterweiterung, die Globalisierung, durch den Kampf der Regierung die Spitzensteuern zu senken, eher sinken. Die Bürger sind gut beraten, ihre solidarische Krankenversicherung nicht jetzt auf einen Steuerzuschuss umzustellen, weil es kein Land gibt, in dem das Gesundheitssystem maßgeblich über Steuern finanziert würde, wo es nicht auch zu Wartezeiten oder zu Rationierungen gekommen ist.

    Heuer: Aber Herr Lauterbach, trauen Sie der SPD zu, die Bürgerversicherung politisch durchzusetzen?

    Lauterbach: Ich traue es ihr sehr wohl zu. Die SPD kann die bevorstehenden Wahlen nur gewinnen, wenn sie sozialdemokratisches Profil zeigt, das heißt, wenn sie klar solche Vorschläge in den Vordergrund setzt, die ihre Kernkompetenz, also als Sozialdemokratie, auch zeigen, und dafür ist die Bürgerversicherung gut geeignet. Wenn die SPD mit dieser Versicherung Wahlkampf macht, dann wird sie sie auch einführen.

    Heuer: Der Gesundheitsökonom und Regierungsberater Karl Lauterbach war das. Herr Lauterbach, danke für das Gespräch und einen guten Tag.

    Lauterbach: Ich danke Ihnen.