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Gewässerreinhaltung
Wo Politik und Kläranlage versagen

Medikamente, Kosmetik, Pestizide – nahezu jedes deutsche Gewässer trägt die Spuren der Zivilisation in sich. Leidtragende sind Wasserlebewesen, Fische, Larven und auch der Mensch. Um die Spurenstoffe deutlich zu reduzieren, müsste entschieden gehandelt werden. Doch bisher bleibt alles im Fluss.

Von Arndt Reuning | 02.06.2019
Gereinigtes Wasser strömt in das Filtrationsbecken eines Klärwerks
In schlechtem Zustand: Nur etwa zehn Prozent der deutschen Flüsse erreichen eine gute Bewertung für Wasserqualität (picture-alliance / Christian Beutler)
Eine kleine Lichtung im Wald. Vor einer Schutzhütte: ein Holzsteg mit Geländer. Was hier so plätschert, das ist die Quelle der Nidda oben im Vogelsberg. Das Wasser, das sickert hier aus einem Hochmoor zusammen in einem Graben und fließt dann bergabwärts. Und wenn ich da mal jetzt rangehe und die Hand reinhalte, merke ich: Das ist sehr kaltes Wasser. Es sieht aber vollkommen klar aus, sehr rein, und ist wahrscheinlich noch weitgehend unbelastet.
Das aber ändert sich schnell. Die Nidda fließt vom Vulkankegel des Vogelsbergs herab – vorbei an Städten und Dörfern. Und Kläranlagen. Viele Chemikalien werden dort nicht abgebaut: Reste von Schmerzmitteln und Antibiotika. Putzmittel. Produkte zur Körperpflege. Vom Vogelsberg strömt die Nidda in die Wetterau. Regen wäscht dort Pestizide von den Feldern in den Fluss. Industrielle Kläranlagen von den Fabriken am Ufer leiten ihre Abwässer ein. Mit jedem Kilometer nimmt der Strom einen Cocktail von Mikroschadstoffen auf. In dieser Hinsicht ist die Nidda ein typisches deutsches Gewässer.
"Wir stehen jetzt hier an der Nidda nördlich von Frankfurt in Bonames", erklärt Jörg Oehlmann. In Bonames erreicht die Chemikalienfracht die Großstadt. "Es ist jetzt wirklich ein träge dahinfließendes Gewässer, das gar nicht mehr den ursprünglichen Charakter eines Mittelgebirgsflusses aufweist."
An einem ehemaligen Flugplatz treffe ich Jörg Oehlmann. Er forscht und lehrt an der Goethe-Universität Frankfurt. Aber heute hat der Professor seine Gummistiefel angezogen. Denn er ist den Mikroschadstoffen auf der Spur.
Arndt Reuning mit Aufnahmegerät an der Niddaquelle
An der Niddaquelle: Arndt Reuning mit Aufnahmegerät (Quelle: Arndt Reuning)
"Wir müssen mit unserem Abwasser irgendwo hin, was wir produzieren. Und nach der Reinigung in der Kläranlage bleibt eben genug an Restbelastung über, um in diesen Gewässern Probleme zu verursachen. Gerade wenn dann in einem Gewässer auch hohe Abwasserlasten wie jetzt hier in der Nidda auftreten."
Cocktail aus Substanzen
Die Nidda befindet sich nicht gerade in einem "guten bis sehr guten ökologischen Zustand", wie es laut europäischer Wasserrahmenrichtlinie bereits seit 2015 der Fall sein sollte. Auf einer Bewertungsskala von eins bis fünf erreicht die Nidda gerade einmal die unterste Stufe. Schuld daran sind auch die Mikroschadstoffe. Und die werden in Zukunft wohl noch weiter zunehmen. Was sind das für Stoffe, die sich da in der Nidda finden? Oehlmann erklärt:
"Das sind vor allem Substanzen, die wir in unserem täglichen Leben selber einsetzen – als Arzneimittel, Körperpflegemittel, Reinigungsmittel im Haushalt. Und es sind ja nicht nur die Substanzen, die wir selber verwenden. Sondern in der Kläranlage werden die teilweise umgebaut. Das heißt, aus einer einzelnen Substanz entsteht dann gleich ein ganzer Cocktail von neuen Substanzen, und das ist ein riesiges Problem für alle Organismen, die im Gewässer leben und die diesen Cocktail ja nicht nur mal en passant sondern vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche sehen."
Das Team um Jörg Oehlmann entnimmt regelmäßig Wasser- und Sedimentproben. Im Labor kann er dann überwachen, wie sich zum Beispiel Schnecken oder Wasserflöhe unter dem Einfluss der Spurenstoffe entwickeln. Manche Parameter müssen bereits vor Ort bestimmt werden.
"Man kommt hier relativ gut an das Gewässer ran. Ja, hier geht es noch, weil es noch einen offensichtlich als Hundebadestelle genutzten Bereich gibt, so dass man an das Gewässer direkt hinkommt. Ansonsten ist es durchaus gefährlich bei diesem Regelprofil, an der Nidda da ran zu gehen. Man kann leicht abrutschen, gelangt dann ins Gewässer. Und wenn man dann so eine Wathose anhat, die von oben vollläuft, dann schafft man es auch als geübter Schwimmer nicht mehr, oben zu bleiben. Das ist dann schon eine Herausforderung."
Empfindliche Arten nicht zu finden
Wieder zurück auf der Brücke taucht Jörg Oehlmann eine Messsonde in die Wasserprobe, wartet einen Moment und liest dann den Wert ab: eine Sauerstoffsättigung von 86,5 Prozent.
"Ein derart hoher Wert von mehr als 85 Prozent würde selbst Forellen das Überleben ermöglichen. Die kommen aber hier nicht vor. Und das hat natürlich auch bestimmte Gründe. Es sind also weniger die Sauerstoff-Defizite, die hier auftreten, sondern es sind dann eher klassische Schadstoffe und die Mikroschadstoffe, die hier eine Rolle spielen, warum empfindliche Arten nicht zu finden sind."
"Kann man das abschätzen, wie hoch diese Konzentrationen dann hier so nah am Rhein-Main-Gebiet sind?", will ich wissen.
"Ja, also zum Beispiel eine der Modellsubstanzen, die jetzt von großer Relevanz sind, ist das Diclofenac. Das kennen wir alle als Schmerzmittel. Und dieses Diclofenac wird in der Kläranlage praktisch nicht abgebaut. Das heißt, es spiegelt eins zu eins im Endeffekt den Abwasseranteil in einem Gewässer wider. Und hier in der Nidda liegen die Konzentrationen schon im Bereich von etwa fünfhundert Nanogramm pro Liter. Das liegt etwa um den Faktor zehn höher als die als unbedenklich erachtete Konzentration in Gewässern ist. Diclofenac, dieses Schmerzmittel, verursacht bei Fischen schwere Leber- und Nierenschäden. Und insofern ist das möglicherweise eine der Substanzen, die, wie wir das nennen, die Toxizität treibt, die also vor allem für die Effekte auf Fische verantwortlich ist."
Zwei Bachforellen unterwasser in einem Gewässer in Baden-Württemberg.
Bachforellen sind aus vielen Flüssen verschwunden - auch aus der Nidda (picture alliance / A. Held)
Forellen sind aus dem Unterlauf der Nidda verschwunden. Die Bestände der Bachflohkrebse sind eingebrochen. Die Larven von Köcher- und Eintagsfliegen können in dem Wasser nicht mehr leben. Und woanders sieht es auch nicht besser aus: Nur rund zehn Prozent der deutschen Flüsse erreichen die Höchstnote für ihre Wasserqualität. Der Zusammenhang ist offensichtlich und wissenschaftlich längst ausreichend belegt.
Problemzone für Chemikalien
Die Nidda mündet in den Main und der Main wiederum in den Rhein. Die Schadstoffe aus der Region nördlich von Frankfurt werden so in Richtung Nordsee wegtransportiert. Ganz anders sieht es hingegen südlich der Metropole aus, im Hessischen Ried, einer urbanen Problemzone für schädliche Chemikalien im Wasser. Auch hier landen die Spurenstoffe in den Oberflächengewässern. Aber die Substanzen sammeln sich vor Ort an. Und wie ein Bumerang kehrt ein Teil von ihnen sogar wieder zu den Menschen zurück.
Wilhelm Urban, Experte für Wasserwirtschaft und Professor an der Technischen Universität Darmstadt erklärt: "Das Hessische Ried ist für die hessische Wasserwirtschaft und insbesondere für Rhein-Main essenziell. Es hat zwar nur zirka fünf Prozent der Landesfläche, aber es werden hier in etwa knapp 25 Prozent des Trinkwasserbedarfs für Rhein-Main gewonnen." - "Gleichzeitig werden auch Abwässer natürlich hier im Ried entsorgt, in den Kläranlagen aufbereitet und dann in die Oberflächengewässer gegeben", hake ich nach.
"Das ist richtig, und das erzeugt quasi die Problematik, weil diese Kläranlagen zum Teil sehr leistungsfähig sind, auch große Einwohnerwerte ausmachen, das heißt Anschlusszahlen, und gleichzeitig die Vorfluter sehr abflussschwach sind."
Stoffe im Trinkwasser
Vorfluter, damit meint Urban Fließgewässer. Manchmal sind es Rinnsale. Die Anlagen im Hessischen Ried leiten ihr geklärtes Abwasser oft in kleine Bäche ein, die wenig Wasser führen. Gerade in den Sommermonaten kann es dann vorkommen, dass achtzig bis neunzig Prozent des Wassers in diesen Bächen aus den Kläranlagen stammen – mit entsprechend hohen Mengen an Mikroverunreinigungen. Hinzu kommt, dass der Boden im Hessischen Ried sehr wasserdurchlässig ist. Die Spurenstoffe wandern.
"Wie sieht es denn aus: Hat man auch im Grundwasser schon diese Stoffe gefunden?", hake ich nach. "Ja, diese Stoffe sind im Grundwasser gefunden worden, natürlich in noch einmal einer geringeren Konzentration als im Oberflächenwasser. Das hat mit verschiedenen physikalischen Maßnahmen zu tun. Dispersion beispielsweise oder andere, die einfach eine Verdünnung deren erfolgen. Ein Abbau ist in der Regel im Grundwasser nicht gegeben."
"Wenn das Grundwasser genutzt wird, um daraus Trinkwasser zu gewinnen, dann könnte auch ein Großteil dieser Stoffe den Weg zurückfinden zu den Menschen." - "Ja, das ist grundsätzlich möglich und vereinzelt auch schon gemessen worden. Das heißt, diese – ich sage immer – homöopathischen Dosen, die wir dann im Trinkwasser finden, werden über den Trinkwasserpfad vom Menschen wieder aufgenommen."
"Sie sagen: homöopathische Dosen. Über welche Konzentrationen reden wir denn hier überhaupt?"
"Ein Mikrogramm ist ein Millionstel Teil eines Gramms. Und in diesen Bereichen finden wir diese Stoffe im Fließgewässer. Und in der Regel im Nanogramm-Bereich, also noch einmal ein Tausendstel geringer, im Grundwasser und gegebenenfalls im Trinkwasser-Bereich."
Zusätzliche Klärstufe nötig
Für die menschliche Gesundheit droht akut keine Gefahr. Aber die Ökosysteme entlang der Flüsse leiden unter den Spurenstoffen. Und mit einer alternden Gesellschaft dürfte sich das Problem weiter zuspitzen. Immer mehr Medikamente landen in den Klärwerken – entweder weil sie unsachgemäß über die Toilette entsorgt werden oder den menschlichen Körper passieren und ausgeschieden werden. Dabei könnte eine zusätzliche Klärstufe helfen.
"Die vierte Reinigungsstufe wird ja vielfach schon auch großtechnisch erprobt. Wenn ich hier beispielsweise an die Kläranlage Steinhäule in Ulm denke, die bereits seit einigen Jahren erfolgreich so eine vierte Reinigungsstufe, das heißt die Zugabe von Pulver-Aktivkohle nach der normalen Reinigung, also mechanische, biologische und Stickstoffentfernung aus dem Wasser, noch zusätzlich dann solche Spurenstoffe, die dann an dieser Kohle adsorbierbar sind, anwendet."
Eine Fülle von unterschiedlichen, bunten Tabletten und Pillen liegt auf einem Haufen.
Schön bunt, aber schlecht für die Gewässer: Medikamente werden oft unsachgemäß entsorgt (picture alliance / Jochen Tack)
Von den knapp zehntausend öffentlichen Kläranlagen in Deutschland verfügen gerade einmal zwei Dutzend über eine vierte Reinigungsstufe. Die meisten von ihnen liegen in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen. Im Hessischen Ried werden derzeit zwei Standorte ausgebaut. Der technische Aufwand und die Investitionen schrecken im Moment vielerorts noch ab, deshalb läuft im Klärwerk der Stadt Langen eine Testanlage, wissenschaftlich begleitet von einer Forschungsgruppe der Technischen Universität Darmstadt.
"Das ist eine Kläranlage Größenklasse vier. Die ist ausgelegt für 75.000 Einwohner." Das Klärwerk liegt mitten in einem Wald westlich von Langen. Ringsum stehen Bäume. Susanne Lackner, Professorin an der TU Darmstadt, führt mich über das Gelände, dessen Fläche ungefähr einem Freibad entspricht. "Also ist eine mittelgroße Kläranlage. Wir sehen jetzt hier die mechanische Vorbehandlung." Und wie in einem Freibad gibt es auch hier verschiedene Becken.
"Rechengebäude, Sandfang, Vorklärung. Da geht es eigentlich primär um die Abscheidung der ganzen Grobstoffe. Alles, was noch an groben Materialien drin ist. Sandfang, wie der Name schon sagt, zum Sandabscheiden. Die Becken hier, das ist die Biologie. Das ist da, wo die Mikroorganismen ihre Arbeit machen, um eben Organik, Stickstoff, Phosphor abzubauen."
"So preiswert wie möglich"
In den Becken schwimmen unzählige Kleinstlebewesen: Bakterien und Hefen. Sie fressen den Großteil der Substanzen, die im Abwasser gelöst sind. In manchen Bereichen im Becken geschieht das, ohne dass Sauerstoff zugeführt wird. An den Stellen, wo der Schaum auf der Oberfläche treibt, wird die trübe Brühe von unten her belüftet.
"Über Druckluft und Verdichter wird da Sauerstoff eingeblasen." Gang zur Halle, in die Halle. Was die Mikroorganismen nicht so gut verdauen können, das sind eben jene Spurenstoffe: Medikamente, Pflanzenschutzmittel sowie Chemikalien aus Haushalt und Industrie. Susanne Lackner will diese Substanzen so effektiv wie möglich aus dem Wasser entfernen. Das heißt auch: so preiswert wie möglich. Denn die Kosten für eine vierte Reinigungsstufe werden am Ende die Haushalte zu spüren bekommen.
"Es sind hier so ein bisschen Pfützen, aber ich glaube, Gummistiefel braucht man nicht", vermute ich. "Da gab es ein kleines Malheur in einer der Säulen. Da ist ein kleines Leck. Aber das ist alles eigentlich sauberes Wasser. Von daher ist das unkritisch."
Die Versuchsanlage ist untergebracht in einer Leichtbauhalle mit Wänden aus weißem Trapezblech, die von einem Zeltdach überspannt werden. Das Rolltor am Eingang ist nach oben gezogen. In einer großen, schwarzen Tonne lagert geklärtes Wasser aus der Anlage. Nun soll es von den Spurenstoffen befreit werden. Dazu wird es durch aufrecht stehende Rohre gepumpt, die mit einem Filtermaterial gefüllt sind.
Methode mit Grenzen
"Da ist jetzt in dem Fall die Aktivkohle drin, und da läuft das Wasser durch. Und während es da durch läuft, adsorbieren die Stoffe, die wir rausholen wollen aus dem Wasser, an die Kohle und werden da gebunden. Und damit sind sie aus dem Wasser entfernt."
Im Prinzip funktioniert das also. Aber die Methode hat auch ihre Grenzen.
"Es gibt Stoffe, die adsorbieren besser, andere schlechter. Das hängt mit den chemischen Eigenschaften der Stoffe zusammen. Wir werden mit einer Verfahrenstechnik wie der Aktivkohle nie in der Lage sein, alle Stoffe wirklich zu entfernen. Da muss man ehrlich sein, das ist fast nicht möglich, dass man alles rausholt."
"Gibt es denn noch andere Möglichkeiten neben der Aktivkohle?" frage ich. "Es gibt Verfahren, die auf Oxidation basieren, zum Beispiel mit Ozon. Da geht es darum, die Stoffe quasi zu oxidieren, also in kleinere Stücke zu zerbrechen, um danach die biologisch verfügbar zu machen und im Nachgang in einem biologischen Filter, meistens ein Sandfilter oder auch wieder eine Aktivkohle noch effizienter dann abzubauen."
Mehrbelastung für Verbraucher
Wie gut die Anlage in Langen das Wasser von den Schadstoffen befreit, das war nur eine der Fragen, die das Pilotprojekt beantworten sollte. Es ging auch darum, wie sich solch eine vierte Reinigungsstufe wirtschaftlich sinnvoll betreiben lässt. Denn die Reinigungskraft der Aktivkohle lässt irgendwann nach. Dann muss sie ausgetauscht werden – etwa einmal im Jahr. Ein wichtiger Faktor für die laufenden Kosten. Je nach Szenario dürfte auf jede Verbraucherin und jeden Verbraucher eine jährliche Mehrbelastung von drei bis fünfzehn Euro zukommen – für eine Reduktion der bekannten Problemstoffe um rund 80 Prozent, sagt Susanne Lackner in einem Büro im Verwaltungsgebäude des Klärwerks.
"Wir haben jetzt die Anlage gesehen. Die steht jetzt da draußen auf dem Gelände. Wie geht es denn weiter damit?"
"Der Wunsch des Betreibers ist jetzt, auch wirklich in die Planung zu gehen, großtechnisch das umzusetzen. Das erfordert aber auch, dass das Land Hessen dazu auch Stellung nimmt und den Betreiber soweit unterstützt, zu sagen: Wie sollen sie planen, wo muss das hingehen? Und das ist ein bisschen zäh im Moment, weil das Land sich da anscheinend noch nicht so wirklich festlegen möchte. Also die einzige Strategie, die jetzt da ist: Die Kläranlagen im Ried sollen was machen. Was genau, welche Verfahren, welche Grenzwerte? Ich weiß es nicht", antwortet Lackner.
Ein Mitarbeiter der Zentralkläranlage in Büttelborn/ Hessen geht über eine Brücke, die über ein Klärbecken führt
Viele deutsche Kläranlage wie hier in Büttelborn müssten modernisiert werden (picture alliance/ dpa/ Frank Rumpenhorst)
Dabei wäre die Zeit gerade günstig, nicht nur für die Klärwerke im Hessischen Ried. Viele Anlagen im Bundesgebiet sind in die Jahre gekommen und müssten überholt werden. Bei dieser Gelegenheit könnten sie gleich um eine vierte Reinigungsstufe erweitert werden.
Politiker nicht entscheidungsfreudig
"Es gibt sehr viele Diskussionen. Es gibt diverse Stakeholder-Treffen und Diskussionen einmal auf Bundesebene, aber auch auf Länderebene. Konkrete Umsetzung in wirklich bindende rechtliche Vorschriften gibt es aber noch nicht. Das hängt aus meiner Sicht auch damit zusammen, dass es eine sehr komplexe Thematik ist. Und da tun sich die Politiker ein bisschen schwer, da auch mal eine Entscheidung zu treffen anscheinend."
Der Landesregierung in Wiesbaden ist die Brisanz der Situation bekannt, mit ihrer Spurenstoffstrategie will sie für Abhilfe sorgen. Die sieht zum Beispiel vor, die Menschen in der Region besser über die Entsorgung von Altmedikamente zu informieren, damit die Arzneimittel nicht in der Toilette landen. Ausgewählte Klärwerke im Hessischen Ried sollen außerdem mit einer vierten Reinigungsstufe ausgestattet werden. Aber nicht alle sind davon überzeugt, dass Aktivkohlefilter und Ozon ausreichen, um die Situation nachhaltig zu entschärfen.
Technische Lösungen im Klärwerk setzen am Ende der Entsorgungskette an, kurz bevor das aufbereitete Abwasser in die Natur entlassen wird. An der Leuphana Universität Lüneburg forscht einer der Experten, die bezweifeln, dass eine vierte Reinigungsstufe das Problem der Spurenstoffe wirklich lösen kann.
Verschiedene Ansätze
Die Effizienz der Methoden, die die Spurenstoffe beseitigen sollen, lasse zu wünschen übrig, argumentiert Klaus Kümmerer.
"Jeder dieser Ansätze hat seine spezifischen Vor- und Nachteile. Jeder dieser Ansätze wirkt besonders gut für eine ganz bestimmte Art von Stoffen. Aktivkohle: Das sind Stoffe, die gut adsorbieren; das sind aber vielleicht ein Drittel. Und noch ein Drittel oder ein bisschen weniger so einigermaßen. Und ein weiteres Drittel größenordnungsmäßig wird gar nicht entfernt."
Die Behandlung mit Ozon könne das Problem sogar noch verschärfen. Die aggressive Form des Sauerstoffs zerstöre zwar die ursprünglichen Spurenstoffe.
"Aber es entstehen Folgeprodukte, das heißt neue Moleküle. Und es sind neue Moleküle, die wir zum Teil gar nicht kennen, zum Teil gar nicht analysieren können und vor allen Dingen auch in ihrer Gefährlichkeit nicht einschätzen können. Es gibt Studien zwischenzeitlich, die zeigen, dass auch passieren kann, dass diese Folgeprodukte, diese Abbauprodukte sogar toxischer sind als die Ausgangsstoffe."
"Fällt Ihnen dazu ein Beispiel ein?"
"Ein klassisches Beispiel, jetzt aus dem Pflanzenschutzmittelbereich, schon 10 Jahre alt oder älter: ein Fungizid, also ein Stoff, der gegen Pilze wirkt, eingesetzt im Obstbau unter anderem. Da wusste man sogar, dass der abgebaut wird, teilweise abgebaut wird in der Natur, im Boden, dann aber das Produkt, das entstand, in das Grundwasser kam. Und dann wurde das Grundwasser behandelt mit Ozon, nicht um den Stoff zu entfernen, sondern um Bakterien abzutöten, um zu hygienisieren. Und dann hat man festgestellt, dass da ein kleines Molekül entsteht als Folgeprodukt, das hochgiftig, lebertoxisch ist. Da gibt es in den USA zwischenzeitlich einen Grenzwert von sieben Nanogramm pro Liter. Und es gibt andere Beispiele, wo man sieht, da steigt die Giftigkeit gegenüber Daphnien, Kleinkrebsen im Gewässer. Es gibt zwischenzeitlich eine Vielzahl von Beispielen."
Eine kleine Revolution
Klaus Kümmerer möchte daher das Problem der Mikroverunreinigungen gar nicht lösen. Er möchte es vermeiden. "Unser Ziel ist, Stoffe, Chemikalien, Arzneimittel, die bestimmungsgemäß in die Umwelt gelangen, einfach durch die Anwendung unvermeidlich so zu planen von vorneherein, dass sie in der Umwelt vollständig abbaubar sind. Das heißt: zu Kohlendioxid und Wasser."
Um das Rad nicht neu zu erfinden, geht er von bereits bekannten und bewährten Wirkstoffen aus und wandelt sie so ab, dass sie in der Natur zerfallen.
"Bereits existierende Stoffe haben den Vorteil: Man weiß schon, welche Teile des Moleküls wichtig sind bei Arzneimitteln zum Beispiel für die Wirkung. Dieses aktive Prinzip muss man dann nicht suchen. Das hat man schon, und das möchte man auch erhalten."
Was Klaus Kümmerer plant, ist eine kleine Revolution. Im Labor kreiert er aus bekannten Strukturen neue Wirkstoffe – mit einer Holzhammermethode: Er bestrahlt eine Lösung des Wirkstoffs mit energiereichem, intensivem UV-Licht. Die Bindungen zwischen den Atomen brechen auf, lagern sich um und formieren sich wieder neu zu Molekülen mit bisher unbekannten Eigenschaftsprofilen.
"So eine Bestrahlung dauert vielleicht eine halbe Stunde. Je nachdem, oder ein paar Minuten. Und dann habe ich schon ganz viele neue Moleküle."
Auf einen Schlag entsteht ein ganzer Molekülzoo mit vielen verschiedenen Spezies.
"Die gucke ich mir mit der Analytik an: Welche sind da drin? Mache dann einen biologischen Abbau experimentell und schau: Welche bleiben übrig? Das heißt: Die, die nicht übrigbleiben und noch die Wirkstruktur haben, das sind dann die interessanten Kandidaten."
Klaus Kümmerer nutzt dabei aus, dass im Körper andere Bedingungen herrschen als in der Natur. Ein Medikament, das im Magen-Darm-Trakt stabil und damit wirksam ist, kann im Fluss bei einem anderen pH-Wert oder unter Einfluss von Sonnenlicht zerfallen. Oder der Wirkstoff trifft dort auf andere Bakteriengemeinschaften. So hat der Lüneburger Chemiker die Abbaubarkeit des Antibiotikums Ciprofloxacin deutlich verbessert. Dazu hat er das Molekül gezielt destabilisiert – so dass es im Blut noch nicht zerfällt, wohl aber nach der Passage durch den Körper in der Umwelt. Bereits zuvor war ihm Ähnliches mit einem Beta-Blocker gelungen.
"Das heißt aber, die Pharmazeuten in der Industrie müssten nun neben der Wirksamkeit, neben möglichst geringen Nebenwirkungen auch noch auf ein drittes Kriterium achten, eben auf die Abbaubarkeit in der Natur. Wie kommt diese Idee denn an in der Industrie?"
"Also die Idee als solche haben wir schon länger verbreitet, und am Anfang wurden wir zum Teil sogar verlacht. Seitdem wir jetzt zwei Wirkstoffe patentiert haben, ist die Diskussion eine andere. Seitdem ist die Diskussion: Ja, wir sehen, es geht, wird aber noch längere Zeit dauern. Aber wir haben gezeigt: Es geht. Und der nächste Schritt ist: In dem Moment, wo man so eine neue Struktur hat, ist der ganze Folgeprozess genau wie bei einem herkömmlichen Wirkstoff. Es gibt viele Studien, die zeigen: Solche Dinge sind auch ein Innovationstreiber, weil sie dazu zwingen nachzudenken. Und auch da gibt es dann neue Geschäftsmöglichkeiten. De facto ist es ja auch ein neuer Wirkstoff, der genauso patentiert werden kann wie jeder andere Wirkstoff auch."
Bisher gibt es nur wenige Wirkstoffe, die gezielt auf ihre Abbaubarkeit hin optimiert wurden. Bis ein neues Medikament zugelassen ist, können Jahre ins Land gehen. In dieser Zeit dürfte sich das Problem der Spurenstoffe in einer alternden Gesellschaft weiter verschärfen. Der Druck auf die Ökosysteme nimmt zu.
Einfluss auf Flusslebwesen
Zurück in Frankfurt bei Jörg Oehlmann. Der Riedberg-Campus der Goethe-Universität.
"Wir gehen jetzt ins Tierhaus der Goethe-Universität. Und hier sind etwa achtzig verschiedene Tierarten untergebracht – von Wirbeltieren, also zum Beispiel Fledermäusen, natürlich auch Ratten und Mäuse, Wüstenspringmäuse. Aber auch ganz viele wirbellose Tiere, die speziell bei uns in der Arbeitsgruppe eingesetzt werden als Versuchsorganismen, also beispielsweise Schnecken, Muscheln, Kleinkrebse, Insekten, vor allem als Larven, das sind die Wichtigsten, aber auch Würmer beispielsweise."
Hierher bringt der Forscher die Wasser- und Sedimentproben aus der Nidda oder dem Hessischen Ried. Wie werden die Modellorganismen auf die steigende Chemie-Belastung reagieren? Einiges ist bereits bekannt: Fische, Muscheln, Schnecken, Würmern und Insektenlarven sind heute schon geschädigt. Einige Jungfische zum Beispiel werden mutiger, wenn sich Antidepressiva im Wasser befinden. Sie verlassen häufiger ihre Deckung am Boden und laufen Gefahr, gefressen zu werden. Unter dem Einfluss von hormonähnlichen Substanzen kann sich das Geschlechterverhältnis innerhalb einer Population verschieben. Die Tiere werden zu spät oder zu früh geschlechtsreif. Oder sie wachsen zu langsam.
Auf einem Regal stehen acht lange, schmale Glaszylinder, die nach unten spitz zulaufen. Wie Orgelpfeifen, aber mit einer grünlich-trüben Flüssigkeit gefüllt. Dicke Blasen blubbern hindurch. Eine Lampe an der Wand bestrahlt die Gefäße.
Großaufnahme eines Wasserflohs.
Fragile Wesen: Wasserflöhe brauchen klare Gewässer - sonst pflanzen sie sich nicht mehr fort (picture alliance / Arco Images)
"Das sieht auch schon ästhetisch ganz schön aus. Das ist unsere Algenzucht. Die Algen werden einerseits als Testorganismen eingesetzt. Und diese Algen werden aber darüber hinaus auch als Futteralgen eingesetzt für die wirbellosen Tiere – zum Beispiel für Wasserflöhe, die ein Standardtestorganismus sind. Und die sehen wir dann da vorne in den grünlich gefärbten Gefäßen. Das ist jetzt unsere Daphnienzucht. Man sieht die kleinen Wasserflöhe hier herum hüpfen."
Etwa so groß wie ein Stecknadelkopf. Man muss schon genau hinsehen. Dann erkennt man, wie sie sich im Zickzack durchs Wasser bewegen. Die neugeborenen Wasserflöhe wachsen in den Proben aus der Umwelt auf – drei Wochen lang.
"So eine Daphnie sollte unter normalen Bedingungen etwa sechzig Neugeboren im Minimum hervorbringen über einen entsprechenden Zeitraum von drei Wochen. Wir sehen aber, dass teilweise unter dem Einfluss von diesen Mikroschadstoffen die Reproduktion, die Fortpflanzung komplett zum Erliegen kommt und überhaupt keine Jungtiere mehr produziert werden."
Wissenschaftliche Erkenntnisse ausgeblendet
Das Insektensterben an Land ist mittlerweile ins Bewusstsein der Öffentlichkeit vorgedrungen. Aber unter Wasser spielt sich Ähnliches ab. Und wirklich unbelastet sind die deutschen Flüsse fast nur noch an ihren Quellen. Die Bundesregierung hat drei Jahre lang über ihre Spurenstoffstrategie diskutiert. In den Steakholder-Dialog waren Vertreter der Wasserwirtschaft, der Industrie, des Agrarsektors und Umweltverbände eingebunden. Im März wurden die Ergebnisse vorgestellt. Kein großer Wurf, findet der Frankfurter Umweltexperte Jörg Oehlmann.
"Das Paper zur Spurenstoffstrategie des Bundes war für mich eine große Enttäuschung, als es jetzt veröffentlicht wurde – weil es weitgehend die wissenschaftlichen Erkenntnisse ausblendet."
Demnach wird es keine verbindlichen Vorgaben geben, keine Grenzwerte, keine konkreten Maßnahmen zur Reduktion der Spurenstoffe in Industrie und Kläranlagen. Das Abschlusspapier empfiehlt stattdessen, bei den Verbrauchern anzusetzen – durch Informationskampagnen zum Umgang mit Medikamenten.
"Es hat ein hohes Maß an Unverbindlichkeit. Man könnte sogar den Eindruck haben, als seien Spurenstoffe eigentlich ein vernachlässigbarer Teil der derzeitigen Belastung in Oberflächengewässern. Und ich hätte mir viel mehr Mut und auch Voraussicht zum Schutz der Wasserressourcen in diesem Zusammenhang gewünscht."
Um die Spurenstoffe in deutschen Gewässern deutlich zu reduzieren, müsste entschieden gehandelt werden. Doch solange nichts entschieden ist – bleibt alles im Fluss.